Rapide steigende Corona-Zahlen: „Es fühlt sich so an, als hätten die USA aufgegeben“
In mehreren US-Bundesstaaten erreichen die Corona-Neuinfektionen Höchststände. Die Gründe sind vielschichtig, die Maßnahmen werden strikter.
In den USA wird die Furcht vor einem starken Wiederaufflammen der Corona-Pandemie von Tag zu Tag größer. Am Dienstag stieg die Zahl der Neuinfektionen im Land auf den höchsten Stand seit Ende April. Nach Angaben der Johns-Hopkins-Universität hatten sich an nur einem Tag rund 34.700 US-Amerikaner mit dem Coronavirus infiziert. Das ist die dritthöchste Neuinfizierten-Zahl seit Beginn der Pandemie.
Die Regierung um Präsident Donald Trump sieht aber keine Notwendigkeit, die umfangreichen Lockerungen zu überdenken – Trump bezeichnet den Virus wiederholt als leichte Grippe und legt sich mit führenden Virologen aus den Vereinigten Staaten an.
Einige Gouverneure sahen das auch lange so, rücken aber nach und nach ab. In New York, New Jersey und Connecticut gilt beispielsweise seit Mittwoch eine 14-tägige Quarantäne für all diejenigen, die aus Bundesstaaten mit stärkerem Infektionsgeschehen einreisen.
Die Gründe für den neuerlichen Anstieg sind vielfältig. Ein Grund sicherlich: die Lockerungen. Rechnet man die Inkubationszeit von maximal 14 Tagen zurück, landet man bei dem entsprechenden Zeitraum: Zwischen Mitte Mai und Anfang Juni hatten viele Bundesstaaten die Corona-Regeln in zwei Schritten gelockert.
Doch den erneuten starken Anstieg der Fallzahlen in mittlerweile mehr als 20 Bundesstaaten allein mit den Lockerungen zu erklären, wäre zu einfach. Denn die meisten Staaten haben nicht nur die Kontaktbeschränkungen gelockert, sondern auch begonnen, viel mehr zu testen. Und wo mehr getestet wird, da werden auch mehr Fälle registriert. Die höhere Zahl an Tests zeigt damit vielleicht erstmals das beunruhigende Ausmaß der Pandemie in den USA.
Bei den Tests lohnt der Blick auf die Details: Denn obwohl die Bundesstaaten in den USA viel mehr testen als zu Beginn der Pandemie, sind es im Vergleich zum Ausmaß des Ausbruchs im Land immer noch wenige Tests. Kanada zum Beispiel führt auf eine Million Einwohner gerechnet ungefähr so viele Tests durch wie die USA, hat aber ungefähr zehn Mal weniger Infizierte pro Million Einwohner als der Nachbar im Süden.
Eine weitere Zahl, die zeigt, wie schwer die Pandemie in den USA noch wütet: In den USA fallen fünf Prozent der Tests positiv aus, in Deutschland dagegen nur 0,7 Prozent (einen guten Überblick über die Zahl der Tests weltweit finden Sie an dieser Stelle).
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Wie Shoshana Ungerleider, Fachärztin für Innere Medizin am California Pacific Medical Center im TV-Sender CNN sagt: „Mehr Tests führen tatsächlich zu mehr Fällen. Aber wenn weitverbreitete Tests der einzige Grund für den Anstieg der Fälle waren, würde man erwarten, dass der Anteil der positiven Tests zurückgeht oder zumindest konstant bleibt. Das sehen wir nicht.“
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Seit Wochen am stärksten betroffen von der Pandemie sind die US-Bundesstaaten Florida, Texas und Arizona. Sie alle verzeichneten zuletzt die höchsten täglichen Infiziertenzahlen seit Beginn des Coronavirus-Ausbruchs. Zumindest Florida und Arizona gehören derzeit auch zu den Bundesstaaten, für die die 14-tägige Quarantäne bei Einreise in New York, New Jersey und Connecticut gilt.
In der vergangenen zwei Wochen ist auch nach Daten der „Financial Times“ ein Wiederaufflammen deutlich erkennbar:
Allein Texas verzeichnete am Montag mehr als 5000 neue Fälle. Einer Reuters-Zählung zufolge kam es auch in Arizona am Dienstag zu Rekordzuwächsen. Am Wochenende verzeichnete Florida fast 4000 neue Fälle; Arizona rund 3300. Das berichtet die „New York Times“.
Zum Vergleich: In ganz Deutschland sind es im Wochenmittel derzeit rund 600 Neuinfizierte pro Tag. Arizona und Texas meldeten zudem Höchstzahlen den Covid-19-Erkrankten in den Kliniken.
Die Fälle nehmen derzeit vor allem in stark konservativ geprägten US-Bundesstaaten zu, in denen Trump bei der vergangenen US-Wahl gegen Hillary Clinton gewonnen hatte:
Krankenhäuser in Arizona haben Kapazitätsgrenze erreicht
In Arizona zeigt der Pfeil bei der Ansteckungsrate erst seit Anfang Juni steil nach oben – bis dahin hatte die Zahl der Neuinfizierten pro Tag die 1000er-Marke nicht erreicht. Dafür stiegen die Fallzahlen dann umso schneller. Wohl auch, weil Gouverneur Doug Ducey Mitte Mai die Corona-Regeln gelockert hatte. Innerhalb von knapp drei Wochen verdreifachte sich die Infiziertenzahl pro Tag auf den Höhepunkt am Samstag. Knapp 3300 Neuinfizierte waren es allein an diesem Tag.
Einige Krankenhäuser in Arizona hätten ihre Kapazitätsgrenze bei der Behandlung von Covid-19-Patienten bereits erreicht oder lägen kurz davor, warnte Murtaza Akhter, Arzt in einer Notaufnahme in Arizona. „Was wirklich beunruhigend ist, ist das, was in den nächsten ein, zwei Wochen noch auf uns zukommt.“
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Aufgrund dieses Trends erlaubte Gouverneur Ducey den lokalen Regierungen, eine Maskenpflicht anzuordnen – dem folgten die meisten Städte. Ähnliches war zuvor schon andernorts in den USA geschehen.
Der Gouverneur von Texas, Greg Abbott, vermutet wiederum, dass vor allem junge Menschen das Virus nicht ernst genug nehmen. „In bestimmten Bezirken ist die Mehrheit der positiv getesteten Personen unter 30 Jahre alt“, sagte Abbott. Das resultiere typischerweise daraus, dass diese Personen sich in Bars aufhielten.
Auch Kirchen werden allgemein als Übertragungsorte genannt. Größere Virus-Ausbrüche im Zuge der Proteste gegen rassistische Polizeigewalt nach dem Tod von George Floyd sind dagegen bisher nicht bekannt.
Was darüber hinaus wohl ebenfalls zur Ausbreitung beiträgt: In Texas gibt es keine Maskenpflicht. Gouverneur Abbott hatte den Bürgermeistern lange Zeit verboten, eigene Bestimmungen zu erlassen. Alles sollte einheitlich gehalten werden. Davon ist Abbott inzwischen abgerückt. Sogar Geldstrafen werden seit diesem Montag fällig, wenn die Regeln zum Tragen von Masken in bestimmten öffentlichen Bereichen nicht eingehalten werden.
Am Dienstagabend Ortszeit rief Abbot angesichts des starken Anstiegs der Coronavirus-Neuinfektionen die Bürger in seinem Bundesstaat auf, zu Hause zu bleiben. „Da sich das Virus im Moment so schnell ausbreitet, gibt es für Sie keinen Grund, Ihr Zuhause zu verlassen, es sei denn, es ist erforderlich. Der sicherste Ort für Sie ist Ihr Zuhause“, sagte Abbott dem lokalen Fernsehsender KBTX.
Texas lockerte früh, jetzt kommt die Quittung
Abbott mahnte zudem zur Einhaltung der Richtlinien etwa für Bars an und drohte mit Konsequenzen für Betreiber, die diese missachteten. Die Bürger forderte er auf, sich durch das Tragen von Masken, Händewaschen und soziale Distanz vor dem Coronavirus zu schützen.
Das wird, wenn man auf die Zahlen blickt, auch höchste Zeit: In Texas hatte die Zahl der Neuinfizierten pro Tag Mitte April einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Nach einer Spitze am 15. Mai mit 1800 Infizierten folgte ein Tal. Bis zum 10. Juni. In Texas überschritt die Zahl der Neuinfizierten an diesem Tag erstmals die 2000er-Marke. Danach fielen die Fallzahlen erneut leicht, um dann umso stärker wieder anzusteigen. Der US-Bundesstaat hatte einen kürzesten Lockdowns der USA verhängt und öffnete schon am 30. April.
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Ähnlich in Florida. Nachdem ein erster größerer Ausbruch Anfang April in den Griff bekommen wurde, flachten die Fallzahlen ab. Anfang Juni stiegen sie wieder, um am 13. Juni die Grenze von 2500 täglich gemeldeten Fällen zu überschreiten. Der harte Lockdown lief in dem Bundesstaat schon am 4. Mai aus.
Am vergangenen Freitag registrierten die Behörden in Texas die bisherige Rekordzahl von mehr als 4600 Neuinfizierten am Tag, in Florida am Samstag mehr als 4000 neue Fälle. Am 18. Mai begann die erste Phase der Lockerungen, am 5. Juni die zweite. Ziemlich genau zwei Wochen danach gibt es nun also ein Rekordhoch.
Kalifornien ist ein weiterer Bundesstaat, in dem die Zahl der Neuinfizierten in den vergangenen Tagen in die Höhe geschnellt ist. Die Kurve verläuft hier allerdings vergleichsweise linear. Nach deutlichen Schwankungen nach oben und unten, zog die Neuinfizierten-Zahl allerdings auch hier an – bis zum bisherigen Höhepunkt von mehr als 7100 Fällen.
Dass sich an dem Trend ohne neue Regeln etwas ändert? Daran glaubt Virologe Siouxsie Wiles von der Universität Auckland in Neuseeland nicht. „Es fühlt sich so an, als hätten die USA aufgegeben“, sagte Wiles der „Washington Post“.
Und auch Epidemiologen und Virologen in den USA zeigen sich besorgt. Der US-Chefepidemiologe Anthony Fauci warnt: "Die aktuellen Zahlen machen mir wirklich Sorgen." Er sagt, dass die USA immer noch an der ersten Welle des Virus leiden würden. Die Lockdown-Maßnahmen hätten nicht dazu geführt, dass das Virus genug eingedämmt worden sei. Auch am Dienstag verzeichneten die USA mehr als 33.000 neue Infektions-Fälle (mit dpa).
Hinweis: Dieser Text wurde am 24.6 um 11:22 Uhr aktualisiert.