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Hoffnung. Erstmals gibt es eine Therapie gegen SMA-1.
© Stefan Sauer, picture alliance / dpa

Seltene Erkrankung: Erleichterung für Babys mit Muskelschwund

Kindern mit spinaler Muskelatrophie (SMA) konnten Ärzte bisher kaum helfen. Nun gibt es ein erstes experimentelles Mittel, das den Verlauf des Leidens bremst. Heilen kann es den Gendefekt nicht.

Irgendetwas stimmte nicht, das war den Eltern von Zoe Harting bereits wenige Wochen nach der Geburt klar. Statt stärker zu werden, wurde ihre Tochter schwächer. Sie bewegte sich deutlich weniger als ihre jüngere Cousine. Ein Neurologe stellte kurz nach Weihnachten 2012 die niederschmetternde Diagnose: Zoe habe SMA-1, spinale Muskelatrophie vom Typ 1. Dem Kind fehle das Gen SMN-1 und damit ein Eiweiß, das normalerweise jene Nerven schützt, die Signale von der Wirbelsäule an die Muskeln übermitteln. Ohne den Schutz werden diese Nervenbahnen beschädigt, bis sie absterben. Die Muskeln verkümmern, die Kinder können sich irgendwann nicht mehr bewegen, nicht mehr selbst atmen und schlucken. Wenn die Symptome so früh wie bei Zoe einsetzen, erleben sie oft nicht einmal ihren zweiten Geburtstag.

„Der Neurologe meinte, dass wir sie nur halten und lieben und sterben lassen können“, sagt der Vater. Verzweifelt suchten die Eltern nach klinischen Studien und kamen ans Kinderkrankenhaus der Universität Stanford. Das sieben Monate alte Baby war die erste Patientin mit SMA-1, die ab Juni 2013 ein Mittel namens Nusinersen bekam. Sie konnte weder sitzen noch sich umdrehen. Die Arme zu heben, fiel ihr schwer. „Es war ihre einzige Chance“, sagt der Vater.

Der Wirkstoff gleicht einen Webfehler in der Boten-RNS aus

Insgesamt 20 Babys, drei Wochen bis sieben Monate alt, wurden in den USA in die Studie eingeschlossen. Mit einer Lumbalpunktion bekommen sie alle vier Monate das Mittel direkt ins Nervenwasser gespritzt. Offenbar verbessert es die Fähigkeit des Körpers, das Gen SMN-2 vollständig abzulesen, schreiben Forscher um Richard Finkel vom Nemours-Kinderkrankenhaus in Orlando nun im Fachblatt „Lancet“. Gesunde Menschen brauchen dieses leicht lädierte Gen nicht. Für die Kinder mit spinaler Muskelatrophie dagegen kann es für das fehlende SMN-1-Gen einspringen und das Leiden bremsen.

Dafür mussten die Forscher allerdings einen Webfehler in der Boten-RNS ausgleichen. Weil an einer Stelle ein C durch ein T ausgetauscht ist, stockt die Übersetzung des SMN-2-Gens in das schützende Eiweiß oft, es wird ein ganzer Teil „vergessen“ und damit das Eiweiß nutzlos. Nusinersen bildet diese Fehlerstelle mit etwa 20 Nukleotiden spiegelbildlich nach und bleibt genau am Webfehler an der Boten-RNS haften. Das hemmende Signal ist somit stumm, fortan wird deutlich öfter das ganze Gen abgelesen und kann als Ersatz dienen. Das ist die Hoffnung.

Bei 14 Kindern verbesserte sich die Muskelfunktion

Das Prinzip des Antisense-Wirkstoffs funktioniere, schreiben die Forscher in ihrer Auswertung der Daten, die sie bis Januar 2016 gesammelt haben. Zwar sind vier der 20 Babys trotz der Behandlung gestorben. Doch manche Kinder erreichten motorische Meilensteine, können den Kopf kontrolliert halten, zugreifen, stehen oder gar laufen. Das Mittel werde gut vertragen, schreiben sie in „Lancet“. Manchmal kam es zu Erbrechen, oder die Zahl der weißen Blutkörperchen nahm etwas ab. Die meisten Symptome seien der Krankheit zuzurechnen.

Die Muskelatrophie schreitet langsamer voran, die Kinder kommen länger ohne ständige Beatmung aus. Bei 14 Kindern verbesserte sich die Muskelfunktion, bei zwölf Kindern konnten die Nerven hinter dem Knie oder im Handgelenk Signale besser weiterleiten. Gewebeproben der verstorbenen Babys zeigten, dass das Mittel der Firmen Biogen und Ionis Pharmaceuticals ins Rückenmark und ins Gehirn gelangt und dort wirken kann.

Die Ergebnisse seien ermutigend, sollten aber vorsichtig interpretiert werden, kommentiert Thomas Gillingwater von der Universität von Edinburgh ebenfalls im „Lancet“. Schließlich seien die Fallzahlen klein, es gab keine Kontrollgruppe und nicht jedem Kind half das Mittel. Es handele sich nicht um eine Heilung, betonen auch die Autoren der Studie.

Im Idealfall sollte die Therapie vor Ausbruch der Krankheit beginnen

Jede Erleichterung im Alltag sei viel wert, sagt Jan Kirschner, ein Neuropädiater am Uniklinikum Freiburg, der an weiteren Studien mit dem Mittel beteiligt ist. Etwa eines von 10 000 Kindern sei betroffen, bei rund 60 Prozent breche die Erkrankung als Baby aus und verlaufe schwer. Sie ist die häufigste Todesursache bei Kindern, die auf einen Gendefekt zurückzuführen ist. „Wir erhoffen uns viel, wenn die Kinder früh identifiziert und behandelt werden, im Idealfall bevor sie Symptome haben. Je früher die Therapie beginnt, desto besser“, sagt Kirschner. Was man bei älteren, schwer erkrankten Kindern erreichen könne, sei dagegen sehr unsicher.

Studien der Phase drei laufen bereits, nach einer Zwischenauswertung im August haben die Firmen das Mittel bei den Aufsichtsbehörden FDA in den USA und bei der europäischen EMA zur beschleunigten Zulassung eingereicht. Bereits jetzt sei Nusinersen in Freiburg, Essen und München über ein Härtefallprogramm verfügbar, sagt Kirschner. Die Firmen stellen das Mittel derzeit kostenfrei zur Verfügung. Die Krankenkassen übernehmen den Aufenthalt in der Klinik.

Ein Wundermittel ist es nicht, auch Zoe machte trotz Nusinersen ein schwieriges Jahr durch. Erkältungen wurden wegen des schwachen Hustenreflexes immer wieder zu Lungenentzündungen, das Mädchen musste wiederholt auf die Intensivstation. Erst ab dem zweiten Lebensjahr wurde sie stärker. Nun ist sie vier, sie isst, spricht und spielt im Rollstuhl mit dem Vater Fangen. Sie geht zur Vorschule und streitet mit ihrer Schwester. Wie jedes Kind.

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