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Die muskelkranke Lea mit ihrer Mutter im Gespräch mit TV-Moderator Johannes B. Kerner beim 50. Geburtstag der DGM.
© Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke

Muskelschwund - wie Betroffene kämpfen: Schwache Glieder, starker Wille

Neuromuskuläre Erkrankungen gelten als selten. Doch 100.000 Menschen leiden in Deutschland darunter. Sie kämpfen nicht nur um gute Therapien, sondern um gesellschaftliche Teilhabe.

Was sie einmal werden will? Lea kann sich vieles vorstellen. „Aber Pilotin oder Lkw-Fahrerin, das würde sicher nichts.“ Die Neunjährige aus Potsdam ist eine Einser-Schülerin. Sie wirkt fröhlich, berichtet vom Spielen mit ihren Freundinnen. Selbst beim Fußball versucht sie mitzumachen. „Ich klappe das Fußbrett hoch und kicke den Ball.“

Das Fußbrett gehört zu Leas Rollstuhl. Klein und zerbrechlich wirkt die Viertklässlerin darin. Sie leidet unter Muskelschwund. Spinale Muskelatrophie nennen es die Ärzte. Dabei gehen nach und nach Nervenzellen im Rückenmark zugrunde, ohne deren Mitwirkung die Befehle des Gehirns an die Muskeln in Armen und Beinen nicht weitergeleitet werden. Im schlimmsten Fall kommen die Kinder mit einer allgemeinen Muskelschwäche auf die Welt und haben auch Schwierigkeiten mit dem Atmen, sie sterben bereits als Babys oder Kleinkinder. Oft setzt der Muskelschwund, der Folge eines Gendefekts ist, auch erst in den ersten Lebensjahren ein. Die Kinder büßen nach und nach die Fähigkeit ein, sich so zu bewegen, wie sie es eigentlich schon gelernt haben: Sie können zuerst nicht mehr Treppen steigen, dann nicht mehr laufen. Heilen kann man sie bisher noch nicht.

Leas Krankheit gehört zur Gruppe der neuromuskulären Erkrankungen – insgesamt zählen rund 800 Krankheiten dazu. Allein in Deutschland leiden über 100 000 Menschen an diesen Krankheiten. Und nur gegen einige von ihnen gibt es Medikamente, die Enzymmangelkrankheit Morbus Pompe etwa kann mit einer Ersatztherapie behandelt werden.

Die Ice Bucket Challenge brachte 1,3 Millionen Euro Spenden

Besonders prominent ist die ALS (Amyotrophe Lateralsklerose), an der der Maler Jörg Immendorff starb und unter der der britische Physiker Stephen Hawking leidet. Bei ihr ist das motorische Nervensystem in Hirn und Rückenmark betroffen. Im Sommer 2014 machte die „Ice-Bucket-Challenge“ zur Förderung der Forschung zu ALS Schlagzeilen. Sie brachte der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke (DGM) 1,3 Millionen Euro Spenden für die Forschung ein. Ein beachtlicher Batzen Geld – vor allem angesichts der Tatsache, dass es für seltene Erkrankungen immer noch zu wenig Forschungsgelder gibt.

Als die mitgliederstarke Selbsthilfeorganisation, das größte Mitglied in der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE), Ende September in Berlin 50. Geburtstag feierte, wurde deutlich, dass sie neben Forschung und Heilung neuromuskulärer Erkrankungen ein weiteres großes Ziel verfolgt: Betroffene und ihre Angehörigen im Alltag zu unterstützen.

Es geht nicht nur um die beste Therapie

Dazu gehört natürlich, dass sie möglichst schnell die richtige Diagnose und optimale Behandlung bekommen. Neuromuskuläre Zentren, in denen Mediziner aus der Kinderheilkunde, der Neurologie, der Orthopädie und anderen Fachdisziplinen das zusammen mit Physio- und Ergotherapeuten, aber auch mit Psychologen sicherstellen, bekommen seit 2007 von der DGM ein Gütesiegel. Inzwischen gibt es ein flächendeckendes Netz dieser Einrichtungen, sodass keine Familie weit fahren muss (siehe Kasten). Lea wird zum Beispiel seit Jahren in der Muskelsprechstunde der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am DRK-Klinikum Westend betreut. Die Sprechstunde gehört zum akkreditierten Berliner Muskelzentrum.

Beim Geburtstagsfest der DGM wurde aber auch deutlich, dass die von Muskelschwund Betroffenen nicht nur für die bestmögliche Therapie kämpfen. Ihr politisches Ziel lautet: Teilhabe. Wie Lea ist auch der Erste Vorsitzende auf einen Rollstuhl angewiesen. Stefan Perschke ist seit Kurzem Vorsitzender Richter am Landgericht Osnabrück. Seine Behinderung sei für die eigentliche juristische Tätigkeit nie ein Problem gewesen, berichtete er. „Die Expertise steht ja im Vordergrund.“ Einige Kollegen hätten sich sogar aus ganz praktischen Gründen gefreut, als er den Job bekam: „Durch meine Tätigkeit dort kam ein Aufzug ins Landgericht.“

Perschke kann seinen Alltag nicht ohne persönliche Assistenz und ohne Auto bewältigen. Genauer: Nicht ohne ein aufwendig umgebautes Kraftfahrzeug. Leistungen, für die Kranken-, Pflege- oder Rentenversicherung und Beamtenbeihilfe nicht aufkommen, übernimmt unter Umständen die sogenannte Eingliederungshilfe. Allerdings nur, wenn die Betroffenen nichts Nennenswertes auf dem Sparkonto haben: 2600 Euro sind für Singles erlaubt. In Ländern wie Schweden werden solche Hilfen dagegen einkommens- und vermögensunabhängig gewährt. Perschke fordert von der Politik, so schnell wie möglich mit einem zeitgemäßen Bundesteilhabegesetz für Abhilfe zu sorgen. „Man sollte stärkere Anreize schaffen, berufstätig zu sein.“

Dafür setzt sich auch Constantin Grosch, ebenfalls muskelkrank und derzeit Student in Bielefeld, mit seiner Onlinepetition „Recht auf Sparen“ ein. „Leistung muss sich lohnen – auch für Menschen mit Behinderung“, sagte der angehende Betriebswirt kämpferisch. Über 200 000 Menschen haben seine Petition inzwischen unterzeichnet. Auch Karl-Josef Naumann, Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium und Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Patientinnen und Patienten, sieht Ungereimtheiten in der derzeitigen Gesetzeslage. Bei einer Podiumsdiskussion anlässlich des 50. Geburtstags der DGM sagte er: „Das Umbauen des Autos wird finanziert, das Ansparen für dessen Kauf aber nicht unterstützt, das kann nicht sein.“

Lea macht sich solche Gedanken bisher wohl allenfalls am Rande, wenn sie die Gespräche der Erwachsenen mitbekommt. Während ihre Muskeln schwächer werden, wachsen ihre geistigen Fähigkeiten, und es reifen ihre Pläne für die Zukunft.

Rat und Hilfe gibt es bei der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke (DGM): www.dgm.org. Der Landesverband Berlin der DGM bietet Informationen zu Themen wie Pflege, aber auch Gesprächskreise Betroffener an. Außerdem bilden die Neuromuskulären Zentren ein dichtes Hilfenetz. In Berlin existieren solche Zentren am Charité Experimental and Clinical Research Center in Buch (Tel. 450 54 05 07) und auf dem Campus Mitte (Tel. 450 56 05 60), auf dem Charité Campus Virchow-Klinikum (ALS-Ambulanz: Tel. 450 56 00 38) und am Jüdischen Krankenhaus (Tel. 49 94 23 48).

Adelheid Müller-Lissner

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