Klimawandel und Rohstoffe: Eisschmelze gibt die Schätze der Arktis frei
Das Eis der Arktis schwindet, denn die Erderwärmung verläuft hier doppelt so schnell wie anderswo. Gleichzeitig wächst das Interesse an den dort lagernden Rohstoffen. Sie zu finden, ist aber schwer. Und der Abbau ziemlich teuer und kompliziert.
Tromsø, eine der nördlichsten Städte Europas, lag bereits 1000 Kilometer hinter den Forschern. Ihr Schiff hatte die nördliche Barentssee erreicht. Jetzt im August war es rund um die Uhr hell, trieb noch kein Eis auf dem tiefblauen Wasser. Nach monatelanger Vorbereitung konnte die Expedition beginnen. Mit stählernen Haken hievten die Forscher Messgeräte über das Heck: „Airguns“, die alle zwölf Sekunden einen Schallimpuls in Richtung Meeresboden jagen, sowie ein vier Kilometer langes Stahlseil, das hinter dem Schiff hergezogen wird. Es ist bestückt mit Dutzenden Hydrophonen, die die Schallwellen aufzeichnen, nachdem sie vom Untergrund zurückgeworfen wurden.
Mithilfe der Messdaten wollen die Seismiker um Kai Berglar von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) herausfinden, wie der Meeresboden aufgebaut ist, ob er Erdöl und Erdgas enthalten könnte. „Das ist in diesem Gebiet nur im August und September möglich“, sagt Berglar. „Dann weicht das Eis weit genug zurück, um ohne Eisbrecher bis dorthin zu gelangen.“ Position 81 Grad Nord, 34 Grad Ost, vermerken die Forscher in ihrem Bericht. Ziemlich genau 1000 Kilometer Luftlinie sind es bis zum Nordpol, der unter einer dicken Eiskappe liegt.
Vieles erinnert an den Goldrausch in Amerika
Noch. Denn die Erderwärmung verläuft in der Arktis doppelt so schnell wie anderswo. Mitte des Jahrhunderts könnte der Pol im Sommer eisfrei sein, meinen Klimaforscher. Seit Jahren wird das polare Meereis während der Sommermonate dünner und bedeckt weniger Fläche. Regionen, die lange als kaum erreichbar galten, werden wirtschaftlich interessant. Denn das Eis gibt Schifffahrtswege frei, die den Warentransport zwischen Asien und Europa um zwei Wochen verkürzen. Vor allem aber könnten gewaltige Mengen an Bodenschätzen gehoben werden, die Geologen in der Region vermuten. All das befeuert den Streit, den Anrainerstaaten selbst um küstenferne Flecken auf dem Meeresboden führen. Das Foto einer eingerammten Russlandfahne am Nordpol-Meeresgrund ging 2007 um die Welt, doch auch Kanada und Dänemark erheben Ansprüche.
Vieles erinnert an den Goldrausch im Amerika des 19. Jahrhunderts, die Epoche der großen Hoffnungen, Erwartungen und Enttäuschungen. Der Rohstoffreichtum der Arktis ist legendär: Die Region birgt 13 Prozent der vermuteten Ölressourcen der Erde und sogar 30 Prozent der förderbaren Gasvorkommen. Das schätzt jedenfalls der Geologische Dienst der USA (USGS). „Was wirklich vorhanden ist, ist nahezu unbekannt“, sagt Berglar. Um herauszufinden, ob die vom Eise befreiten Unterwasserbecken überhaupt das Potenzial für Öl und Gas haben, vermessen er und seine Kollegen seit 2013 die Sedimentschichten des Arktischen Ozeans.
Vielversprechend sind vor allem die großen Becken im Meer
An eine Förderung sei noch lange nicht zu denken, betont er. „Der Bedarf in Deutschland wird zurzeit vor allem aus Norwegen und Russland gedeckt. Wir wollen wissen, woher langfristig Öl und Gas geliefert werden können“, erläutert Berglar, dessen Behörde dem Bundeswirtschaftsministerium zugeordnet ist. „Es wäre verkehrt, das allein dem Markt zu überlassen.“ Als vielversprechend gelten die großen Becken im Meer sowie die Ränder des Festlands. Dort könnte es mächtige Sedimentpakete geben, in deren tiefen Schichten Druck und Temperatur so hoch waren, dass Plankton zu Öl und Gas umgewandelt wurde.
Selbst wenn Konzerne sie finden, gibt es viele Hürden. Vor allem das Wetter. Obwohl die Arktis – meist wird damit das Gebiet jenseits des Polarkreises bei 66 Grad Nord bezeichnet – sich überdurchschnittlich erwärmt, sind weite Teile nur für wenige Monate eisfrei. Stürme können Zeitpläne hinwegfegen. Das bekam auch Berglars Team zu spüren. Bei starkem Seegang mussten die Forscher mehrfach die Messgeräte einholen. Einmal war die Crew gezwungen, mit dem Schiff im Windschatten einer Insel Schutz zu suchen, bis der Sturm vorüber war.
Eine Bohrinsel kann jedoch nicht flüchten, sie muss durchhalten. Wenigstens solange die Löcher gebohrt werden. Später könnten die Förderanlagen am Meeresgrund montiert werden und das Gas via Pipeline an Land bringen. Am Snøhvit-Gasfeld vor der Küste Nordnorwegens wird diese Technik derzeit in rund 300 Metern Wassertiefe erprobt. „Bis zu einem Einsatz im hohen Norden muss man noch einige Jahrzehnte rechnen“, sagt Berglar. Für die meisten Gebiete gibt es nicht einmal vernünftige Seekarten.
Der Abbau der Rohstoffe ist doppelt so teuer wie anderswo
Auf dem Festland sind die Bedingungen etwas besser. In Kanada, Alaska, und vor allem in Russland wird bereits gefördert. Wie profitabel das ist, gerade bei einem niedrigen Ölpreis, ist eine andere Frage. Die Liste der „Herausforderungen“ für Arktisprojekte, die die amerikanische Energie-Informations-Behörde veröffentlichte, liest sich für Investoren eher abschreckend: Die eingesetzten Geräte und Materialien müssen starken Frost aushalten. Wegen des tauenden Dauerfrostbodens müssen Bauwerke und Pipelines vor dem Versinken geschützt werden. Lange Lieferwege und schlechte Erreichbarkeit von den Industriestandorten der Welt machen es nötig, wichtige Bauteile doppelt anzuschaffen und Ersatzteile vorzuhalten. Angestellte erwarten höhere Löhne, wenn sie in der unwirtlichen Arktis arbeiten sollen. Unterm Strich kostet die Öl- und Gasförderung dort bis zu doppelt so viel wie in Texas. Hinzu kommt der Transport der Rohstoffe. Die Abnehmer sind Tausende von Kilometern entfernt, also sind lange Pipelines nötig oder eisfreie Schifffahrtswege.
Jeder Unfall kann verheerende Folgen für die Ökosysteme haben
Das Gleiche gilt für den Erzbergbau. Eisen, Gold, Blei, Zink, Metalle der Seltenen Erden sowie Diamanten werden in großen Mengen im hohen Norden vermutet. Allerdings sind viele arktische Gebiete zu wenig erforscht, um verlässliche Aussagen zu ihrem Reichtum zu machen. Nur einige abbauwürdige Vorkommen sind bekannt, vor allem in Grönland. „Dort gibt es besonders alte Gesteine, die oft lohnende Erzgehalte haben, so wie wir es von Australien oder Südafrika kennen“, sagt Harald Elsner, der für die BGR einen Überblick über das Rohstoffpotenzial der Arktis erstellt hat.
China wollte in eine grönländische Mine investieren
Aktive Minen sucht man auf der zum Königreich Dänemark gehörenden Insel derzeit jedoch vergebens. Die Rohstoffpreise sind derart gefallen, dass ein Abbau nicht lohnt. „Was nützt eine Lagerstätte mit hohem Erzgehalt, wenn es keine Infrastruktur gibt“, fragt Elsner. „Keine Straße, keine Energieversorgung, nicht mal Unterkünfte für die Arbeiter.“ All das muss erst errichtet werden. Die Gesamtkosten für eine neue Mine erreichen schnell eine Milliarde Euro.
Vor wenigen Jahren war die Prognose günstiger. Ein Beispiel sind die Seltenen Erden, die für Elektronik wichtig sind. Zwei große Lagerstätten versprachen einen Aufschwung für Grönland. China wollte investieren, wie auch in andere Bergbauprojekte im Norden. Die Arbeiter hätte man gleich mitgebracht. EU-Vertreter zürnten, fürchteten um Einfluss und weitere Verknappung bei Seltenen Erden. Dann fielen die Preise, die Abbaupläne waren vom Tisch. „Bergbau ist ein zyklisches Geschäft“, sagt Elsner. Steigen die Preise, wird erkundet. Fallen sie, schwindet das Interesse. Derzeit ist die Branche im Tal. Aber: „Es wäre ein Wunder, wenn der Markt in den nächsten Jahren nicht wieder anziehen würde.“ Dann bringen Investoren frisches Geld für neue Minen. Von der ersten Sprengung bis zum Beginn gewinnbringender Rohstofflieferungen dauert es dann immer noch fünf bis zwanzig Jahre.
Eine wichtige Rolle spielt zudem der Umweltschutz. Er liegt in der Verantwortung jener Länder, die den Bergbaufirmen die Abbaugenehmigung erteilen. Die Vorschriften sind streng, denn jeder Unfall kann verheerende Folgen für das sensible Ökosystem im hohen Norden haben. Das zeigte der Tankerunfall der „Exxon Valdez“ im Frühjahr 1989 vor Alaska. „Bei den niedrigen Temperaturen dauert es viel länger, bis Bakterien das Öl zersetzen als etwa im warmen Golf von Mexiko“, sagt Hauke Flores vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven.
Ein Ölteppich würde die Zugänge zu den Lebensinseln im Eis verkleistern
Der Ölschlick könnte das Leben an Küsten und am Meeresboden ersticken, im Arktischen Ozean auch im Eis, das viele Lebewesen beherbergt. „Man kann es sich wie einen Schwamm vorstellen“, erläutert Flores. „In kleinen Kanälen befindet sich flüssige Sole, in der Algen, Würmer und Einzeller leben.“ Ein Ölteppich würde die Zugänge zu den Lebensinseln verkleistern. Eine wichtige Nahrungsgrundlage für Polardorsche – und somit für Robben und Eisbären – ginge verloren. Panikmache sei aber unnötig, meint Flores. Die Natur könne sich regenerieren, wenn auch langsam. „Allerdings sind die Ökosysteme durch den Klimawandel ohnehin unter Stress. Kommen weitere Belastungen wie Ölunfälle hinzu, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass einzelne Arten an den Rand des Aussterbens gebracht werden“, sagt der AWI-Forscher.
Man muss jedoch damit rechnen, dass es früher oder später zu Unfällen kommt. Denn die Arktis wird weiter erschlossen. Innerhalb der 200-Seemeilen-Zone vor ihrer Küste können die Länder das Meer und den Grund wirtschaftlich nutzen. Längst haben sie auch weiter entfernte Teile des Arktischen Ozeans im Blick. Wer belegt, dass „sein“ Festlandsockel weiter als 200 Seemeilen ins Meer ragt, kann größere Teile des Ozeanbodens für sich reklamieren. Das versucht Russland mit dem Lomonossow-Rücken, der angeblich die natürliche Verlängerung Sibiriens ist. Auch Kanada und Grönland melden weitreichende Gebietsansprüche an, über die die „Festlandssockelgrenzkommission“ entscheiden muss. Sie verlangt umfassende Daten zu Meerestiefen und zur Dicke der Sedimente. Daraus bestimmt sie, wo der Festlandsockel endet.
Kommen die Antragsteller durch, sind weite Teile des Meeresgrunds um den Pol verteilt. Der Nutzen ist zweifelhaft, denn „größere Rohstoffvorkommen sind gerade in der Tiefsee nicht zu erwarten“, sagt Christian Reichert, BGR-Experte für marine Ressourcen und Mitglied der UN-Meeresbodenbehörde in Jamaika. „Es geht eher darum, sich aufzuplustern.“ Wenigstens hätten sich die fünf Anrainer verpflichtet, alle Streitigkeiten friedlich zu lösen.
Die Anrainer wollen Militärbasen, angeblich für die Seenotrettung
Seit Russland begonnen hat, seine Militärbasen auszubauen und Abwehrraketen in den hohen Norden zu bringen, erscheint dieser Konsens brüchig. „In letzter Zeit wurden gehäuft Patrouillenflüge russischer Maschinen vor der norwegischen Küste sowie an der kanadischen Grenze beobachtet. Und die Flugmanöver sind komplexer und provokanter“, sagt Stefan Steinicke, der bei der Stiftung Wissenschaft und Politik die Arktis beobachtet. Er vermutet, dass Russland Stärke demonstrieren will. Wobei unklar sei, ob es tatsächlich um die Ansprüche in der Arktis gehe oder um den Ukraine-Konflikt. Die Reaktionen: Norwegen plant ein großes Manöver und die skandinavischen Verteidigungsminister kündigten an, stärker zusammenzuarbeiten.
Dass Russland seine militärischen Kapazitäten ausbaut, ist unübersehbar. Doch andere tun das ebenfalls. „Alle Anrainer argumentieren, sie bräuchten die Militärbasen, um bei einer Seenotrettung oder Ölunfällen rasch und mit geeignetem Gerät zu helfen“, sagt Steinicke.
Solche Hilfe hatten die Geoforscher in der Barentssee nicht nötig. Die Stürme überstanden sie unbeschadet. Das dünne Eis, das ab September zuweilen auf dem Wasser trieb, war für das Schiff ungefährlich. An der Packeisgrenze, weiter im Norden, hatten sie rechtzeitig kehrt gemacht und Kurs nach Süden genommen.
Vorübergehend. In diesem Sommer wird die Expedition fortgesetzt. Sie soll zeigen, welche Schätze die Arktis zu bieten hat. Und welche nicht.