Expedition in die Arktis: Nacht am Nordpol
Seit Ende August driften zwei norwegische Forscher auf einer Eisscholle nahe dem Nordpol. Ihre Expedition ist gefährlich – aber viele halten sie trotzdem für notwendig.
Die „Polarstern“ liegt auf 87 Grad und 20 Minuten nördlicher Breite, als Kapitän Uwe Pahl den Kranarm ausfahren lässt. Behutsam hievt er die wertvolle Ladung vom Oberdeck auf das Packeis. Das Eis hält, obwohl es erst ein Jahr alt und einen Meter dick ist. Die Forscher sind erleichtert, das Luftkissenboot „Sabvabaa“ ist bereit für seinen Einsatz in der Polarnacht. Sieben Stunden später sind alle Vorräte entladen. Nach einem letzten Gruppenfoto dampft der deutsche Eisbrecher ab.
Zwei Männer sind jetzt auf sich gestellt; tief im arktischen Meereis, 300 Kilometer vom Nordpol entfernt. Kein Flugzeug kann hier in der Finsternis und bei extremen Stürmen landen, kein Eisbrecher kann im Winter durch dieses Packeis dringen. Schon bald werden die beiden Bewohner des busgroßen Luftkissenbootes die einzigen Menschen weit und breit sein. Yngve Kristoffersen, ein Geologieprofessor im Ruhestand, will seinen 73. Geburtstag auf dem Eis verbringen. Der andere heißt Audun Tholfsen und ist polarer Abenteurer, Überlebenskünstler und Wissenschaftler. Um dem Winter zu trotzen, haben die Forscher zwei Dieselgeneratoren, 14 Tonnen Treibstoff, mehrere Tonnen Lebensmittel und Ausrüstung sowie Flinten gegen angreifende Eisbären dabei. Ende September beleuchten die letzten Sonnenstrahlen das Eis. Danach folgen über fünf Monate Dunkelheit und Kälte.
Die Arktis galt lange als unbezwingbar. Das Packeis besteht aus Schollen, die Strömung und Wind miteinander verschweißt haben. An manchen Stellen entstehen dabei Rinnen, die von kaum tragfähigem Jungeis bedeckt sind. Anderswo türmen zusammengeschobene Eisblöcke meterhohe Hügel auf. Trotzdem wollen Polarforscher seit über einem Jahrhundert mehr über das 5000 Kilometer breite arktische Becken zwischen Nordamerika, Asien und Europa erfahren. Teile davon sind noch immer ganzjährig vom Eis bedeckt. Da U-Boote dem Militär vorbehalten sind, bleibt Wissenschaftlern in den unzugänglichen Zonen nur, einige Monate auf dem Eis zu driften.
Wer ganz und gar allein ist, muss optimistisch bleiben
Die zwei Norweger verbringen ihre ersten Wochen damit, ein Lager zu errichten. Sie vergraben Treibstofftanks im Eis; ein mit Eisquadern errichtetes Hangar soll ihr Luftkissenboot vor allzu kräftigem Wind schützen. Die Arbeit kostet die zwei Männer viel Kraft. Nach einem Monat schwindet das Licht – aber das Lager steht. Über Satelliten sind sie mit der Außenwelt verbunden. „Das Leben in der hohen Arktis behandelt uns gut“, schreiben die beiden in ihrem Blog. Der Satz wird sich Woche für Woche wiederholen, selbst als nicht mehr alles glatt läuft. Wer ganz und gar allein ist, muss optimistisch bleiben.
Kristoffersens Vorbild ist sein Landsmann Fridtjof Nansen. 1890 sagten Polarforscher voraus, dass sich die nördliche Eiskappe bewegt: Das Eis drifte allmählich von Sibirien über den Nordpol bis an die grönländische Küste. Um das zu beweisen, ließ Nansen ein Schiff konstruieren, dessen flacher Rumpf vom Eis umschlossen, aber nicht zerdrückt werden konnte. Er nannte es Fram, norwegisch für „vorwärts“. Tatsächlich kam die Fram drei Jahre später und tausende Kilometer vom Ursprungsort entfernt unversehrt aus dem Packeis frei. Nansen selbst hatte das Schiff verlassen, um mit Hundeschlitten als erster Mensch den Nordpol zu erreichen. Er musste umkehren und überwinterte mit einem Gefährten auf einer arktischen Insel. Nach ihrer Rückkehr im Jahr 1896 wurden sie dennoch zu Nationalhelden.
Seit 1937 betrieb dann die Sowjetunion permanent größere Driftstationen im Nordpolarmeer. Über zehn Forscher wurden samt Material in Richtung Pol geflogen, von dort drifteten sie jahrelang bis zum südlicheren Eisrand. Die letzte derartige Station ließ Russland 2013 evakuieren, das Eis ist zu dünn geworden. Die Sabvabaa kann man dagegen auf ihrem Luftkissen schnell verlegen, falls eine Scholle zu instabil wird.
Wohin sich das Eis bewegt, ist nicht planbar
Die Polarstern setzte die beiden Norweger am Rande des Lomonossow-Rückens ab. Dieser Gebirgszug ragt höher als die Alpen über die Tiefseeebene, liegt aber trotzdem unter gut einem Kilometer tiefen Wasser. Viele Geologen halten die Bergkette für einen Kontinentsplitter, der sich vor Jahrmillionen vom eurasischen Festland abtrennte, um nordwärts zu wandern. Kristoffersen möchte diese These auf seiner geologischen Forschungsreise überprüfen; er will sich vom Packeis entlang des Rückens tragen lassen.
Wohin das Eis sich bewegt, ist allerdings nicht planbar. Das hängt gleichermaßen von den Meeresströmungen und dem Wind ab. „Die Wettermuster in der Arktis lassen sich bis heute nicht vorhersagen“, sagt Antje Boetius vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven. Dazu können die wissenschaftlichen Instrumente der Sabvabaa kaum mit den großen Forschungseisbrechern mithalten, auch wenn die zwei Wissenschaftler quer über ihre anfänglich gut 200 Meter breite Scholle viele Kabel verlegen, um Messgeräte zu verteilen. Sie bohren Löcher ins Eis, um über eine Luftkanone Schallwellen bis zum Meeresboden auszusenden und so das Gestein selbst zu durchleuchten. Sie messen die Temperaturen des Ozeans, um die Meeresströmungen zu untersuchen. Sie schleifen mit einem Kabel einen Kameraschlitten über den Meeresgrund und entdecken dabei einen etwa halben Meter langen Fisch. Es ist das größte Wassertier, das während der Polarnacht derart weit nördlich beobachtet wurde.
Plötzlich steht das Lager 45 Zentimeter unter Wasser
Alleine der Betrieb ihres Lagers ist kräftezehrend. Besonders das Eishangar stellt sich als Fehler heraus. Während eines Sturms bietet das Bauwerk dem Wind viel Widerstand und ist gleichzeitig zu schwer. Dadurch kippt die Eisscholle im Oktober und das Lager steht plötzlich 45 Zentimeter unter Wasser. Später schiebt sich eine zweite Scholle über den Rand der eigenen zu einem meterhohen Berg auf. Ein Teil des Materiallagers wird verschüttet und zerstört. Dazu tun sich immer wieder meterbreite Risse auf und trennen die lebensnotwendigen Vorräte von ihren Besitzern. Bis Ende Januar sind Kristoffersen und Tholfsen gezwungen, mehrfach ihr gesamtes Lager zu verlegen.
Jeden Tag müssen sie die behagliche Sabvabaa verlassen. Die Temperaturen können in der monatelang andauernden Polarnacht bis auf minus 40 Grad Celsius sinken – durch den Wind gefühlt noch 20 Grad darunter. Selbst in perfekt isolierter Kleidung halten das die Polarforscher kaum über Stunden aus. Zwar essen beide ausgezeichnet, zu Weihnachten wirft die norwegische Luftwaffe neben der benötigten Ausrüstung sogar Spezialitäten für die Feiertage ab. Doch das Licht fehlt, schreibt Yngve Kristoffersen Ende Januar in seinem Forscherblog: „Die komplette Dunkelheit hemmt uns bei der täglichen Arbeit. Wir fühlen uns ständig müde.“
Ein unbekanntes U-Boot bricht durch das Eis
Während Fridtjof Nansen einst davon träumte, der erste Menschen am Nordpol zu sein, geht es heute um den Klimawandel und die unzulänglich erforschte Tierwelt. Auch Biologen wie Antje Boetius blicken deshalb interessiert auf Kristoffersens Expedition, etwa den unerwartet großen Fisch. Unter dem Eis gibt es offenbar eine unbekannte Lebenswelt, die sich perfekt auf den halbjährlichen Wechsel aus endlosem Licht und völliger Dunkelheit angepasst hat, aber bisher kaum im Winter beobachtet werden konnte. Wenn das Eis zurückgeht und das Wasser wärmer wird, verändern sich vermutlich gleichzeitig diese Lebensgemeinschaften. Klimaforscher beobachten ausgerechnet in hohen Breiten die weltweit extremste Erwärmung. „Wir sind alle getrieben von dem Wissen, dass das Eis schneller schmilzt als vorhergesagt“, sagt Boetius.
Dazu gibt es geopolitische Begehrlichkeiten. In den Randmeeren Russlands, Norwegens, Grönlands, Kanadas und Alaskas lagern Erdöl und Erdgas. Wem welches Vorkommen zusteht, regelt das Seerecht: Die ausschließliche Wirtschaftszone eines Staates endet 200 Seemeilen vor dem Festlandsockel. Dieser liegt meist tief im Wasser – und bei einigen Bereichen wie dem Lomonossow-Rücken ist unklar, zu welchem Kontinent er gehört. Wäre er Teil Sibiriens, würde sich die Wirtschaftszone Russlands vergrößern. Gehörte er dagegen zum gegenüberliegenden Grönland, könnte Dänemark Ansprüche erheben.
Wie interessiert andere an der arktischen Einöde sind, merken die zwei Norweger im Oktober. Seit Wochen haben sie keine anderen Menschen gesehen. Plötzlich bricht fünf Kilometer entfernt ein unbekanntes U-Boot durch das Eis. Als sich Kristoffersen und sein Mitstreiter für einen Besuch auf hundert Meter genähert haben, sinkt das Boot wieder ab. „Eine Kontaktaufnahme ist gescheitert“, schreibt er später in seinem Blog.
Die zwei Norweger kämpfen derzeit mit ihrer Technik
Sowohl das norwegische Forscherduo als auch die Polarforscher vom Alfred-Wegener-Institut weisen den Verdacht von sich, wirtschaftliche Interessen zu verfolgen. „Wir machen dort alle Grundlagenforschung“, sagt Jörn Thiede, ehemaliger Präsident des Alfred-Wegener-Instituts und Weggefährte Kristoffersens. „Yngve will zeigen, dass sich auch von einer kleineren mobilen Basis aus im polaren Winter wissenschaftliche Daten sammeln lassen“, bestätigt Antje Boetius. „Nach unseren Standards sind diese Basen aber zu gefährlich.“ Das AWI plant deshalb, ab 2018 ein eisbrechendes Forschungsschiff wie die Polarstern gemeinsam mit anderen Staaten zeitweise ins Packeis einfrieren zu lassen.
Yngve Kristoffersen und Audun Tholfsen werden im Sommer 2015 den Atlantik zwischen Grönland und Spitzbergen erreichen. Derzeit kämpfen sie vor allem mit der Technik. Beide Dieselgeneratoren sind anscheinend irreparabel beschädigt. Es bleibt ihnen der zuverlässige Motor der Sabvabaa. Zur Not können sie Strom mit einer Brennstoffzelle und über ein Windrad erzeugen. Den Mut haben sie bislang nicht sinken lassen – noch endete jeder ihrer Wochenberichte mit dem Satz: „Das Leben in der hohen Arktis behandelt uns gut.“
Karl Urban