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Klimawandel: Die Arktis schmilzt

Die Eisdecke der Arktis ist dieses Jahr auf ein Rekordminimum geschrumpft.  In einem Wettlauf gegen die Zeit versuchen Forscher, Auswirkungen auf Leben und Klima zu untersuchen.

Überall weiß. Vorne, hinten, links, rechts. So wird die Arktis oft beschrieben. Die Passagiere der MS Hanseatic, die an diesem Sonnabend in Reykjavik ihre Kreuzfahrt über die Nordwestpassage beenden, werden ein anderes Bild der Polarregion zeichnen. Statt Eis ist vielfach flüssiges Wasser zu sehen in allen möglichen Blau-grün-schwarz-Schattierungen.

Bereits Ende August hatte das National Snow And Ice Data Center der USA gemeldet, dass die Eisbedeckung mit 4,1 Millionen Quadratkilometern geringer sei als je zuvor seit Beginn der Satellitenmessungen im Jahr 1979. Inzwischen sind es nur noch 3,5 Millionen Quadratkilometer. Und die Schmelzperiode wird noch bis Ende September andauern und die Fläche weiter schrumpfen lassen. Auch wenn der Arktische Ozean bald wieder zufriert, der Trend ist klar: Das Eis verschwindet – und schafft Platz für Rohstoffgewinnung und Schiffsverkehr. Und für Wissenschaftler, die versuchen, das Eis und alles was damit zu tun hat, zu erforschen solange es noch geht.

Das Eis um den Nordpol schwindet.
Das Eis um den Nordpol schwindet.
© AFP, NASA/USNSIDC, TAGESSPIEGEL

LEBEWESEN

Antje Boetius interessiert sich zum Beispiel für die Tiere und Pflanzen der Arktis. Die Wissenschaftlerin vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven leitet gerade eine internationale Expedition im Arktischen Ozean. „Wir müssen immer weiter nach Norden fahren, um große Eisschollen zu finden“, schreibt sie per E-Mail vom Forschungsschiff „Polarstern“. „Für meine Doktorarbeit vor 19 Jahren war ich zur gleichen Jahreszeit genau hier im sibirischen Meer, doch seitdem ist die Eiskante mehr als 250 Kilometer Richtung Nordpol verschoben, an einigen Stellen sogar über 600 Kilometer.“

Welche Folgen der Eisrückgang für die Lebewelt hat, das ist eine der zentralen Fragen, denen die Wissenschaftler an Bord der Polarstern nachgehen. Ihre Arbeit wird dadurch erschwert, dass über diese Welt kaum etwas bekannt ist. „Die Menschheit hat schon viele Bilder vom Mars, aber derzeit übermitteln wir gerade die allerersten Aufnahmen vom arktischen Tiefseeleben, die hier im Nansen- und Amundsenbecken in 4000 Metern Tiefe jemals aufgenommen worden sind!“ Keiner könne sagen, wie es vor fünf Jahren dort ausgesehen habe oder wie es in fünf Jahren aussehen werde.

Das Eis ist weit mehr als nur eine schwimmende Lebensplattform für Eisbären. Die Raubtiere könnten sich langfristig sogar an ein Landleben anpassen, glaubt Boetius. Aber das Eis ist eine wichtige Nahrungsquelle für andere Tiere: Darin leben kälteliebende Algen, die Flohkrebsen als Futter dienen, die wiederum vom Polardorsch gefressen werden. „In dickem, mehrjährigem Eis und darunter gibt es ein anderes Leben als in und unter dünnem Eis“, erläutert die Meeresbiologin. „Selbst in der Tiefsee, vier Kilometer unter dem Eis, sehen wir viel mehr wohlgenährte Tiere als außerhalb der Eiskante, im offenen Wasser.“ Möglicherweise wachsen im Eis dickere Algen, die zudem schneller absinken, mutmaßen die Forscher.

Auf lange Sicht werde der Verlust des mehrjährigen Eises dazu führen, dass viele Arten, die auf diesen Lebensraum spezialisiert sind, verschwinden werden, vermutet Boetius. „Darunter werden viele sein, die wir noch gar nicht kennen.“

KLIMA

Der Temperaturanstieg in der Arktis beeinflusst nicht nur die Meeresbiologie, sondern auch das Klima. Zumindest für die Festlandsgebiete, etwa Sibirien oder Nordkanada, ist belegt, dass vermehrt Methan aus dem Boden entweicht. Das Treibhausgas befördert die Erwärmung und damit den Eisschwund. Unklar ist, ob wärmeres Wasser auch dazu führt, dass das „Methaneis“ am Meeresgrund sich löst und in die Atmosphäre gelangt. Dieser Frage gehen derzeit Wissenschaftler an Bord der „Maria Sibylla Merian“ nordwestlich von Spitzbergen nach. „Ob der Temperaturanstieg in der Arktis tatsächlich zu einem erhöhten Methanausstoß aus dem Meerwasser führt, können wir im Moment noch nicht sagen“, berichtet der Fahrtleiter Christian Berndt vom Kieler Forschungszentrum Geomar, ebenfalls per E-Mail.

Die Wissenschaftler hätten zwar viele Gasaustritte entdeckt, doch da sie erst seit vier Jahren in dem Gebiet arbeiten, wissen sie noch zu wenig darüber, wie sich der Gasstrom mit der Zeit verändert. „Die bisher genommenen Proben und Datensätze können das jedenfalls nicht stichhaltig belegen“, schreibt Berndt. Mehr noch: An einigen Austrittsstellen fanden sie Kalkkrusten, die darauf hindeuten, dass dort mindestens seit Jahrzehnten, wenn nicht seit Jahrhunderten Methan entweicht. Hinzu kommt, dass mehr als die Hälfte des freigesetzten Gases von Mikroorganismen bereits im Wasser zu Kohlendioxid umgewandelt wird und nicht die Oberfläche erreicht.

Auch, wie sich die Eisdecke der Arktis weiter entwickeln wird, ist noch unklar. Dass die Temperaturen in den hohen Breiten steigen werden und dabei die Eisfläche zurückgeht, gilt als ausgemacht. Die Frage ist nur, in welchem Ausmaß. „Es ist riskant, kurzfristige Trends in die Zukunft fortzuschreiben“, sagt Rüdiger Gerdes, Meereisspezialist am AWI in Bremerhaven. „Wenn ich nur die Entwicklung der letzten fünf Jahre betrachte, müsste das Eis schon bald verschwunden sein.“ Tatsächlich wirkten aber viele Faktoren auf das Wetter – und damit auf die Eisverhältnisse.

Neben der vor allem durch den Menschen verursachten Zunahme an Treibhausgasen in der Atmosphäre gebe es auch natürliche Schwankungen, die die Temperatur beeinflussen, sagt der Forscher. Dazu gehört der alle paar Jahre auftretende Wechsel zwischen den Klimaphänomenen El Niño und La Niña sowie die „Nordatlantische Oszillation“, bei der sich die Muster der Luftströmungen auf der Nordhalbkugel im Rhythmus von Jahrzehnten ändern. „Wir können nicht vorhersagen, wie die einzelnen natürlichen Faktoren, die alle über unterschiedlich große Zeiträume aktiv sind, in Zukunft zusammenwirken werden“, sagt Gerdes. Wechseln ihre Vorzeichen bald auf „Abkühlung“, wirken sie der menschgemachten Erderwärmung entgegen, so dass die sommerliche Eisschmelze etwas gebremst wird im Vergleich zu heute. Bleiben die Vorzeichen auf „Erwärmung“, werde der Eisverlust umso schneller voranschreiten.

Gerdes zufolge sind sich die Forscher zwar weitgehend einig, dass Ende des Jahrhunderts die Arktis in den Sommermonaten eisfrei sein wird. „Wie es in den nächsten 10, 20 oder 30 Jahren aussehen wird, können wir nicht genau sagen. Da kommen die einzelnen Klimamodelle zu sehr unterschiedlichen Angaben.“

ROHSTOFFE

Gerade für die nächsten Jahre interessieren sich aber jene Forscher und Firmen, die die Rohstoffe der Arktis erschließen wollen. Zu holen gibt es einiges. In den mächtigen Sedimentschichten an den Kontinenträndern werden gewaltige Vorkommen an Öl und Gas vermutet, von denen die ersten bereits angezapft werden. Angaben zum Gesamtpotenzial sind schwierig, da die Suche nach den Energierohstoffen noch nicht so weit fortgeschritten ist wie in anderen Weltgegenden. Schätzungen des Geologischen Diensts der USA (USGS) zufolge könnten bis zu 30 Prozent der weltweiten Gasvorkommen und 13 Prozent der Ölressourcen im hohen Norden zu finden sein. Daneben finden sich vor allem in der russischen Arktis nennenswerte Mengen an Gold, Silber, Diamanten sowie Buntmetallen. Das geht aus einer aktuellen Analyse der Deutschen Rohstoffagentur hervor.

Die Schätze in der Kälte führen zu Streitereien um Grenzverläufe, die man Ländern wie Dänemark oder Kanada eigentlich nicht zutraut. Bekanntestes und größtes Zankobjekt ist der Lomonossow-Rücken: Dort geht es darum, zu wessen Festland er geologisch zu rechnen sei. Um eigene Ansprüche zu bekräftigen, pflanzte eine russische Expedition vor fünf Jahren am Nordpol in 4261 Metern Tiefe eine weiß-blau-rote Flagge auf den Meeresgrund. Der Zwist um den Rücken und damit um die Hoheit über große Teile der Arktis ist noch lange nicht ausgestanden.

Ungeachtet der Frage, wer Abbaukonzessionen vergibt: Die Gewinnung der Bodenschätze ist äußerst aufwendig. Oft gibt es keine Infrastruktur, so dass buchstäblich jede Schraube an die fernen Lagerstätten gebracht werden muss. Zwar macht das zurückweichende Eis den Weg für Schiffe oder schwimmende Plattformen frei – aber nur für wenige Wochen im Sommer. In den übrigen Jahreszeiten ist die Arktis nach wie vor eine raue Gegend. Und die Wetterbedingungen werden sich durch den Klimawandel nicht bessern. So rechnen Experten mit häufigeren und stärkeren Stürmen in bestimmten Teilen der Arktis. Das schreibt der USGS in einem Report über mögliche Gefahren der Rohstoffgewinnung. Auch müsse man immer wieder mit Treibeis rechnen, was das Risiko für Unfälle – sprich Umweltverschmutzungen – erhöhe. Die zu bekämpfen, dürfte mit wenig Personal und bei widrigem Wetter, schwer sein.

TRANSPORT

Mit diesen Bedingungen hat auch die Transportbranche zu kämpfen, für die der Eisrückgang neue Wege eröffnet. Vor allem die Nordostpassage, die Europa über den Norden Russlands mit Asien verbindet, ist gut 5000 Kilometer kürzer als der Weg durch den Suez-Kanal und darüber hinaus nicht so piratengefährdet wie die Route entlang des Horns von Afrika. Aber noch finden nur wenige Fahrten durch die russischen Gewässer statt. „Das liegt unter anderem daran, dass man umfangreiche Anträge bei den Behörden stellen muss, am besten vier Monate im Voraus“, sagt Daniel Hosseus vom Verband Deutscher Reeder.

Gerade für Massengutfrachter, die Kohle, Erz oder Getreide transportieren, sei dieser Vorlauf kaum zu bewältigen, da diese oft „auf Zuruf“ führen. Das heißt: Sie erhalten das endgültige Fahrtziel sehr kurzfristig, manchmal erst nach dem Ablegen. Für große Containerschiffe hingegen ist die Dimitri-Laptew-Straße mit Wassertiefen von teilweise nur elf Metern zu flach, berichtet Hosseus. Hinzu kommen Kosten für einen Eisbrecher, der für mindestens 100 000 Dollar für eine Passage gebucht werden müsse. Aus diesen Gründen sei er „weniger optimistisch“ als manche Kollegen, sagt er.

Bei der Nordwestpassage seien die bürokratischen Hürden deutlich kleiner, sagt Hosseus. Allerdings kürze man über die Nordwestpassage nicht so viel ab wie über die nordsibirische Route. Aus Sicht des Reedereiexperten entsteht für seine Branche aber noch ein weiterer Markt: Um den Rohstoffabbau voranzutreiben, muss schweres Gerät zu den Lagerstätten gebracht werden. Das geht nur per Schiff.

Die müssen allerdings besonders stabil gebaut sein, denn völlig „eisfrei“ ist die Arktis mitnichten. Darauf weist der Kapitän des Hapag-Lloyd-Kreuzfahrtschiffs MS Hanseatic hin, die gerade Reykjavik ansteuert. „Selbst in warmen arktischen Sommern können starke Winde und Strömungen das verbleibende Eis in kurzer Zeit in die Schiffspassagen drücken“, mailt Thilo Natke aus dem Norden. Seine „Hanseatic“ hat extra dicke Stahlplatten und eng sitzende Spanten, um dem Eisdruck zu widerstehen. Für Schiffe ohne diese besondere Bauweise könne die Durchquerung nach wie vor bedrohlich sein.

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