Fassadenstreit in Berlin-Hellersdorf: Ein Gedicht macht Gendertrouble
"Frauen und ein Bewunderer": Berlins Alice-Salomon-Hochschule debattiert öffentlich über das umstrittene Gomringer-Werk "Avenidas" auf ihrer Fassade.
Nur zum Schluss und ganz von hinten kommen dann doch noch Zwischenrufe: „Nazis raus!“ und: „Kein Forum der AfD!“ rufen einzelne Studierende, als Werner Wiemann, Bezirksverordneter der AfD in Marzahn-Hellersdorf, sein Statement abgibt und dabei ausführlich aus Friedrich Schillers „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ zitiert. Ansonsten halten sich alle an die Mahnung der Moderatorin, der Literaturkritikerin Claudia Kramatschek, „den Gegner zu achten". Etwa 200 Zuhörer sind am Dienstagabend ins Audimax der Alice Salomon Hochschule (ASH) zur Podiumsdiskussion über „Kunst und die Macht der Worte“ gekommen.
"Den Gegner achten" - davon konnte in der seit dem Sommer anhaltenden öffentlichen Debatte über Eugen Gomringers Gedicht, das seit 2011 auf der Fassade der ASH zu sehen ist, nicht die Rede sein. Die vor einem Jahr vom Asta in sachlichem Ton vorgetragene Kritik, das Gedicht reproduziere „eine klassische patriarchale Kunsttradition“ und erinnere „unangenehm an sexuelle Belästigung“ brachte die Feuilletons großer Medien und Repräsentanten der literarischen Welt zum Überkochen, empörte Bürger schickten der ASH Hassmails.
In einer szenischen Lesung präsentieren Studierende zum Auftakt der Veranstaltung Wörter und Sätze aus der Debatte. Da werden der Asta und die Hochschulleitung, die auf ihn einging, der „Bilderstürmerei“ und „Säuberung“ bezichtigt und mit Bücher verbrennenden Nazis verglichen, die sich eine Welt unter der Burka wünschen. Die ASH hat die journalistischen Beiträge auf ihrer Homepage versammelt, einige sind als Installation am Audimax öffentlich zu besichtigen.
„Unterirdisch“ und „beschämend“ seien bestimmte Kommentare von der „intellektuellen Elite in bürgerlichen Zeitungen“ gewesen, sagt Prorektorin Bettina Völter. Wenn in zehn Jahren Bachelor-Arbeiten über die Debatte geschrieben würden, werde man noch klarer sehen, wie „peinlich“ und „autoritär“ manche Journalisten und Schriftsteller aufgetreten seien. Das Publikum reagiert mit kräftigem Applaus. Die Sympathien sind klar verteilt.
So hat es Thomas Wohlfahrt, der Leiter des Hauses für Poesie, nicht leicht. Das Haus für Poesie ist in der Jury für den Alice Salomon Poetik Preis vertreten, mit dem Gomringer 2011 geehrt wurde und für den er sich bei der ASH mit dem Gedicht bedankte. Die Juroren des Hauses für Poesie wollen aus der Jury aussteigen, sollte die ASH Gomringers Gedicht von der Fassade entfernen. Wohlfahrt selbst hat die ASH zu der öffentlichen Debatte angeregt, „um aus den Gräben zu kommen“, wie er sagt.
"Die Rezipienten machen den Text"
„Lyrik kann diskriminierend sein“, stellt Wohlfahrt fest. Gomringers Gedicht habe aber „kein Diskriminierungspotenzial“. „Die Wirkung hat mit dem Text nichts zu tun, er wird von den Rezipienten vervollständigt. Jede Wahrnehmung ist subjektiv.“ Das Gedicht in spanischer Sprache aus dem Jahr 1951, das für die konkrete Poesie stilbildend wurde, lautet übersetzt: Alleen/Alleen und Blumen/Blumen/Blumen und Frauen/Alleen/Alleen und Frauen/Alleen und Blumen und Frauen und/ein Bewunderer
Andrea Roedig, Herausgeberin der österreichischen Kulturzeitschrift „Wespennest“, glaubt hingegen sehr wohl, dass nicht erst die Kritiker dem Gedicht ein bestimmtes Frauenbild unterschieben: „Es ist ein Klischee-Gedicht“, sagt sie. „Es ruft das Klischee eines Mannes auf, der Frauen anguckt und sie toll findet.“ Das habe heute eben „Geschmäckle“. Wohlfahrt widerspricht. Das Gedicht habe ja kein lyrisches Ich. So sei offen, wer spricht, und ob der „Bewunderer“ nicht aus der Sprecherposition mitbetrachtet werde.
Roedig sieht in dem eskalierten Streit um das Gedicht eine „Stellvertreterdebatte“ im aktuellen „Kulturkampf“: „Ohne das Genderargument wäre nicht viel passiert“, sagt sie und erntet dafür auf dem Podium Zustimmung. Den Eindruck, es gehe weniger um Kunst im öffentlichen Raum als um einen Geschlechterkampf, hatte sich auch schon dem Asta vermittelt.
Das Gedicht könnte verändert oder ergänzt werden
Wie Thomas Wohlfahrt es finden würde, wenn „Frauen“ im Text durch „Männer“ ersetzt würde? Oder wenn „ein Bewunderer“ durch „eine Bewundererin“ ersetzt würde?, fragt eine Studentin aus dem Publikum. „Natürlich könnte man das machen“, sagt Wohlfahrt. „Dann hätte man eine schwule oder lesbische Situation.“ Allerdings würde damit das „Klangbild“ des Gedichts in problematischer Weise verändert. - Schwul oder lesbisch? Hat Wohlfahrt nicht gerade erst behauptet, das Gedicht werde bloß von manchen Rezipienten sexualisiert?, fragt es jetzt triumphierend aus dem Publikum: „Und uns Studierenden wird das als Irrsinn ausgelegt!“ Jubel brandet auf.
Andrea Roedig schlägt vor, Wörter im Gedicht an der Fassade zu ersetzen oder ihm dort eine Fortsetzung zu verleihen. Prorektorin Völter sagt: „Das fände ich sehr produktiv. Aber ob Gomringer dafür offen wäre?“ Kunst sei „nichts Erstarrtes“. Und Gomringers „Beharrungswunsch“ sei für das Gedicht nicht gut.
Wohlfahrt kritisiert hingegen, die Hochschule habe den 92-jährigen Dichter in ihrer Debatte „nicht mitgenommen“. Die Angelegenheit werde mit ihm selbst aber besser zu lösen sein als mit seinen Nachkommen, zumal ein juristischer Prozess „unsinnig wäre“. Gomringer hat öffentlich deutlich gemacht, dass das Gedicht für immer an der Fassade der ASH zu sehen sein soll. Wohlfahrt schlägt vor, das Gedicht durch Tafeln neben der Fassade zu „kontextualisieren“. Im Zuge des öffentlichen Streits sei es zu einer sozialen Plastik geworden, die zu einer Attraktion „für Touristen und Genderbewegte“ werden könne.
Die Hochschule will im Januar entscheiden
Dass Gomringer erst aus den Medien über den Disput an der ASH erfahren haben soll, streitet die Hochschule jedoch ab. Schon bevor die „FAZ“ die Sache im Sommer aufgriff, habe man versucht, Gomringer telefonisch zu erreichen und ihm, als das nicht gelang, einen Brief geschrieben. Gomringer hat von der Hochschule damals eine kleine Lizenzgebühr für das Gedicht bekommen sowie das Preisgeld – ganz und gar geschenkt war es also nicht. Wem gehört also das Gedicht auf der Fassade?, fragt Prorektorin Völter. Gomringer? Den Medien? Deutschland oder gar der Welt? Hinter der Fassade befindet sich die ASH, sie solle darum entscheiden, ob das Gedicht ihr Selbstverständnis repräsentiere – „gerne in Auseinandersetzung mit der Gesellschaft“.
Barbara Köhler, die diesjährige Preisträgerin des Alice Salomon Poetik Preises, sagt, Texte im öffentlichen Raum zeigten immer den Gestus von Werbung oder Propaganda. Um diesen Charakter loszuwerden, bräuchten sie „Menschen, die dahinter stehen“. Sie bietet der ASH an, ihr ebenfalls ein Gedicht zu schenken. Entscheide die Hochschule, es auf die Fassade zu stellen, solle es dort nicht länger als sieben Jahre zu sehen sein. „Kunst und Demokratie können miteinander durchaus in Konflikt geraten, aber sie schließen einander nicht aus“, sagt Köhler.
Die Angehörigen der ASH können ab dem 15. November über Vorschläge zur Neugestaltung der Fassade abstimmen. Eine Entscheidung unter den bevorzugten zwei Vorschlägen sowie dem Vorschlag der Hochschulleitung fällt der Akademische Senat der ASH im Januar.