Streit um Gedicht an Berliner Hochschule: „Kein Maulkorb für Studierende“
Ist das Gedicht "avenidas" an der Berliner Alice-Salomon-Hochschule sexistisch? Jetzt meldet sich die Hochschulleitung - mit einem Plädoyer für den "demokratischen Prozess".
Im Streit über das Gedicht auf der Fassade der Berliner Alice-Salomon-Hochschule (ASH) in Berlin-Hellersdorf meldet sich jetzt die Hochschulleitung mit einer ausführlichen Stellungnahme zu Wort. Diese wurde am Donnerstagmorgen auf der Homepage der ASH veröffentlicht (die Stellungnahme im Wortlaut finden Sie hier).
Anlass sind heftige Reaktionen, etwa die des PEN-Zentrums Deutschland, das der Hochschule „Zensur“ vorwirft, sowie „hasserfüllte, antifeministische, antidemokratische, wissenschaftsfeindliche und Tatsachen verzerrende Mails“, die an der Hochschule eingegangen sind, wie Bettina Völter, Prorektorin für Forschung und Kooperation an der ASH, im Namen der Hochschulleitung schreibt.
Die Kritik: Das Gedicht erinnert an die Belästigung von Frauen
Wie berichtet hatten Studierende das Gedicht „avenidas“ des Dichters Eugen Gomringer in einem offenen Brief als sexistisch kritisiert. Es war im Jahr 2011, in dem Gomringer mit dem Alice Salomon Poetik Preis geehrt wurde, auf die Südfassade der Hochschule gemalt worden. Die Studierenden kritisierten nun, Frauen würden darin als schöne Musen dargestellt, die dem männlichen Künstler bloß zur Inspiration dienten. Außerdem erinnere es daran, dass Frauen sich in der Öffentlichkeit ständig Bewertung und Belästigung ausgesetzt sähen.
Der Akademische Senat der ASH hatte daraufhin mit knapper Mehrheit einen Ideenwettbewerb zur möglichen Neugestaltung der Fassade beschlossen, für den Hochschulangehörige noch bis zum 15. Oktober Vorschläge einreichen können.
Die Hochschulleitung lobt Gomringers poetisches Werk
„Kein Gremium und keine Stimme aus der ASH Berlin zweifelt Gomringers poetisches Werk an oder möchte es gar zensieren“, erklärt die Hochschulleitung jetzt. Im Gegenteil würden seine Arbeiten „als literarische Glanzstücke und Pionierleistungen geschätzt“. Und es sei „sehr anregend“, dass die Fassadendebatte „medienübergreifend“ zu einer „zum Teil sehr anspruchsvollen kulturpolitischen Debatte um die Bedeutung von Kunst, von Sprache und ihren impliziten Machtwirkungen, von Meinungsfreiheit, Feminismus und Demokratie“ geführt habe.
„Erschütternd“ seien andererseits „die von Hass erfüllten verbalen Angriffe und Beschämungsversuche“ in Leserbriefen und persönlichen E-Mails an den Rektor sowie an Studierende, die ihre Position „produktiv und auf demokratischem Wege eingebracht“ hätten.
Aber warum gerade dieses Gedicht?
Demokratie lebe von der gemeinsamen Erarbeitung der besseren Argumente, Maulkörbe für Studierende seien nicht zielführend. Der nun herbeigeführte „demokratische Entscheidungsprozess“ über das weithin sichtbare Gedicht Gomringers an der Fassade sei von der damaligen Hochschulleitung „bedauerlicherweise versäumt worden“. Es sei denkbar, dass das Hochschulparlament sich damals für eine andere „konkrete Poesie“ Gomringers entschieden hätte, etwa für das Gedicht „schweigen“, das ein produktives Nachdenken über das Spannungsverhältnis von Reden und Schweigen hervorrufe.
Hingegen provoziere das Gedicht „avenidas“ „ganz anders“: Die Wortkombination „alleen und blumen und frauen und ein bewunderer“ werde eben einerseits als „schön“ und andererseits als „unangenehm“ empfunden.
„Und dies auszusprechen, ist Anlass und Aufgabe der Debatte, an deren Ende auch der Vorschlag stehen kann, das Gedicht um einen Verweis auf seine Kommentierung zu ergänzen“, schreibt Völter. Dass das Gedicht an der Fassade der Hochschule präsentiert werde, werfe nun mal andere Fragen auf, als wenn dies im Kontext einer Lesung geschehe: „Muss gerade an der Hauswand einer Hochschule mit dem Anliegen der Professionalisierung von Frauenberufen in der Tradition von Alice Salomon genau dieses Gedicht stehen, in dem Frauen als Gruppe und nicht als Individuen skizziert werden und keine Handlung zugeschrieben bekommen, während der Bewunderer, sei es auch ein vom Dichter nicht weiter definiertes Wesen, als handelndes Wesen, nämlich als bewunderndes Wesen dargestellt wird?“, fragt Völter.
"Bewunderung nicht die Vorstufe von sexueller Belästigung"
Natürlich sei „Bewunderung nicht die Vorstufe von sexueller Belästigung“. Wenn dies empfunden werde, gehe es eher „um die Erinnerung an von vielen Frauen bisweilen selbst erfahrene Blicke, und das ist eine Assoziation, die in der Tat nur zwischen den Zeilen steht“.
Alle Lesarten des Gedichts an der ASH sollten „ausgesprochen, gehört und erwogen werden“. Generell sei Poesie an Hausfassaden nicht diskussionslos für die Ewigkeit gedacht. „Spätestens eine ohnehin anstehende Renovierung der Wand würde zum Beispiel die Frage aufwerfen, warum eigentlich nicht auch das Gedicht einer Preisträgerin einmal diesen prominenten Platz bekommen sollte.“ Die aktuelle große Debatte verhelfe allerdings dem Gedicht und seinem Autor „zu einer im Netz verewigten, generationenübergreifenden Wirkung“, schreibt Völter und schließt: „Und wenn es allein das wäre, was zu erreichen war, dann freuen wir uns mit unserem Preisträger Eugen Gomringer!“
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