Nach der ISS: Ein Dorf auf dem Mond
Seit 40 Jahren ist kein Mensch mehr auf dem Mond gelandet, die Raumfahrt hatte andere Ziele. Nun wollen Experten einen alten Traum verwirklichen. Sie planen eine Station auf dem lebensfeindlichen Erdtrabanten.
Erst glimmen die Gipfel, dann leuchtet allmählich die Felswand, Stunden später erreichen erste Sonnenstrahlen das Tal. Nach beinahe zwei Wochen Nacht bricht ein neuer Tag an. Die Solarmodule auf dem Dach der Station liefern endlich wieder Strom und füllen die schwachen Batterien. Nun, da es hell ist, können die Geologen aufbrechen zu einer erneuten Expedition an den Grund des Kraters. Jahrmilliarden altes Gestein tritt dort zutage. Es soll den Forschern helfen, die Geschichte des Mondes und damit der Erde zu rekonstruieren.
Diese Szene ist Fiktion, die Idee alt und doch aktuell. Der Mond ist wieder interessant für Forscher. Länder wie Indien und China haben ehrgeizige Programme gestartet. Der neue Chef der europäischen Raumfahrtagentur Esa, Johann-Dietrich Wörner, hat gar die Vision, ein „Dorf auf dem Mond“ zu errichten – einen Unterschlupf für Menschen, die in der lebensfeindlichen Umgebung leben und arbeiten sollen.
Das Dorf sei eine Menschheitsaufgabe für die Zeit nach der Internationalen Raumstation ISS, die 2024 anbrechen könnte. Es sei eine Aufgabe, die nur mehrere Nationen gemeinsam bewältigen können. „Raumfahrt hat gezeigt, dass sie Länder zusammenbringen kann, gerade in Zeiten politischer Krisen“, sagt er und erinnert an russisch-amerikanische Projekte während des Kalten Krieges. Vor allem würde das Dorf Grundlagenforschern und Ingenieuren fantastische Möglichkeiten eröffnen. Planetologen könnten wichtige Kapitel der Frühgeschichte des Sonnensystems auf dem Mond – und nur dort – entschlüsseln, Astronomen ihre Teleskope auf fernste Objekte ausrichten, ohne dass die schwachen Signale von der Lufthülle verschluckt oder vom elektromagnetischen Rauschen der Zivilisation übertönt werden.
Ein übergroßer 3-D-Drucker stellt Bauteile für die Iglus her
Je umfangreicher die geplanten Arbeiten der Forscher auf dem kosmischen Nachbarn sein sollen, desto mehr lohnt es sich, eine dauerhaft bewohnte Station zu errichten statt dem Trabanten wie zu Apollo-Zeiten einzelne Kurzbesuche abzustatten. Nicht zuletzt wäre sie ein Testlauf für spätere Stationen auf dem Mars. Der Aufwand wäre allerdings enorm. Die Mond-Bewohner müssen gegen Mikrometeoriten geschützt werden und gegen die harte kosmische Strahlung. Die Temperatur schwankt zwischen plus 120 und minus 170 Grad Celsius. Solche Extreme kennen die Ingenieure von der ISS. Aus ähnlich robusten Modulen könnte das Mond-Dorf bestehen, obgleich allein der Transport der tonnenschweren Lasten außerordentlich teuer ist.
Warum also nicht die Baustoffe vor Ort verwenden, den Mondboden namens Regolith zu „Mondbeton“ für futuristische Iglus machen? Europäische Forscher haben bereits ein vulkanisches Vergleichsmaterial mit Hilfe eines übergroßen 3-D-Druckers zu Bauteilen für eine Station verklebt. In diese Höhle könnten aufblasbare „Zimmer“ gebracht werden.
Neben Schutz benötigen die Bewohner Energie. Solarpanels helfen tagsüber, doch die langen Nächte erfordern große Speicher. Ein Ausweg wäre, Panels auf Bergen zu montieren, weil sie dort mehr Energie sammeln können als Stationen im Tal. Helium-3, das oft als „Zukunftsenergie“ vom Mond bezeichnet wird und als Brennstoff für Kernfusionsreaktoren dienen könnte, kommt dort tatsächlich häufiger vor als auf der Erde. Trotzdem wird es auf absehbare Zeit nutzlos sein. Denn zum einen gibt es noch kein funktionierendes Fusionskraftwerk. Zum anderen ist Helium-3 auch auf dem Mond vergleichsweise selten, der Abbau wäre extrem aufwendig.
In den Kratern nahe der Pole gibt es vermutlich Wassereis
Trotz aller Schwierigkeiten – „das Interesse in der Forschergemeinde an so einem Mond-Dorf ist groß“, sagt Bernard Foing, der Leiter der Arbeitsgruppe Mondexploration (ILEWG) bei der Esa. Experten haben sich bereits mehrfach getroffen, um Konzepte für eine Siedlung zu diskutieren. Auch er betont, dass ein solches Vorhaben nur in internationaler Kooperation gelingen könne. Der nächste Schritt wären Verhandlungen darüber, wer sich um welches Element der Mondstation kümmern wird. Im Grunde stehen die westlichen Raumfahrtagenturen vor der Frage: Mit Russland, mit China? Diese politische Entscheidung treffen die Regierungen. Und deren Zustimmung ist keinesfalls sicher.
Planetenforscher sind unterdessen längst auf den Mond zurückgekehrt, zumindest wenn man ihre Roboter gelten lässt. Mehrere Sonden haben ihn umrundet, die Oberfläche genau kartiert und beispielsweise herausgefunden, dass er gar nicht so trocken ist. Im feinen Mondboden gibt es Wassermoleküle und in tiefen Kratern nahe der Pole, dort, wo niemals Sonnenlicht hinreicht, vermutlich gewaltige Mengen Wassereis. Beides könnte eventuell die Versorgung der Mondfahrer erleichtern. China gelang 2013 die erste weiche Landung eines Roboters seit 1976. „Chang’e-3“ hat unter anderem ein Radargerät dabei, das tief in den Untergrund „hineinschauen“ kann sowie eine Stereokamera für 3-D-Aufnahmen von der Oberfläche. Weitere Missionen sollen folgen, Indien und Russland wollen ebenfalls Roboter absetzen.
Denn es gibt viele offene Fragen. „Wir wollen wissen, warum die Erde überhaupt einen Mond hat“, sagt Ralf Jaumann vom Institut für Planetenforschung am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Berlin. Der Mars hat zwei sehr kleine Monde, Merkur und Venus haben gar keinen. Die Erde dagegen hat einen großen Begleiter, der sie unterstützt. „Er stabilisiert ihre Rotationsachse“, sagt Jaumann. Andernfalls könnte sie kippen wie beim Mars. „Dann sind mal die Pole und mal der Äquator zur Sonne ausgerichtet. Das bedeutet: Klimakatastrophen ohne Ende.“
Woher kam er überhaupt, der Mond?
Der kosmische Tanz von Erde und Mond war womöglich entscheidend für die Entstehung des Lebens. „Durch die Gezeiten wird die Drehung der Erde minimal gebremst, gemäß der Drehimpulserhaltung entfernt sich der Mond um rund drei Zentimeter pro Jahr von der Erde.“ Umgekehrt war er vor Urzeiten viel näher, und die Gezeiten stärker ausgeprägt, sagt der Planetologe. „Man nimmt an, dass die Flut teils mehr als 100 Kilometer ins Land hineinreichte. Dadurch entstanden gewaltige Wattenmeere, die wir heute als besonders artenreich kennen.“
Knall im All: Wie entstand der Mond?
Aber woher kam er, der Mond? Als ein marsgroßer Körper auf die junge Erde einschlug, sei aus den Trümmern der Körper hervorgegangen, so lautet der Konsens. „Die These hält sich nur, weil die anderen schlechter sind“, entgegnet Jaumann. Um die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Himmelskörpern zu klären, hätten er und andere Forscher gern Proben aus dem Mantel des Mondes, einer chemisch kaum veränderten Schicht, die unter der sichtbaren Gesteinskruste liegt. Die Proben, die russische und amerikanische Missionen mitgebracht haben, sind zu „jung“.
Eine Katastrophe, die sich vor rund vier Milliarden Jahren ereignete, könnte den Wissenschaftlern helfen. Damals donnerte ein großer Asteroid derart heftig in den Mond, dass dessen Kruste durchschlagen wurde. Weil es keine Plattentektonik gibt, ist der Krater bis heute erhalten: das Südpol-Aitken-Becken. An dessen Grund ist Mantelmaterial – längst erstarrt – zugänglich.
Vulkanische Eruptionen bis in die geologische Neuzeit
„Wenn wir dort Proben nehmen, können wir die ersehnten chemischen Analysen machen und mithilfe radioaktiver Isotope gleich noch das Alter des Kraters bestimmen“, sagt Jaumann. Der Einschlag gehört zum „Late Heavy Bombardement“, bei dem die jungen Felsplaneten von umherjagenden Asteroiden und Miniplaneten regelrecht zerschossen wurden. Je nach Evolutionsmodell für unsere kosmische Nachbarschaft beginnt das Bombardement zu unterschiedlichen Zeiten und fällt unterschiedlich heftig aus. „Auf dem Mond sind alle Krater erhalten“, sagt Jaumann. „Sie können uns helfen, die Frühgeschichte des Sonnensystems zu verstehen.“ Dieses Wissen wiederum können Forscher auf ferne Systeme mit ihren Exoplaneten anwenden.
Die Pole sind besonders interessant, weil in die tiefen Krater niemals ein Sonnenstrahl trifft. Die Temperatur in diesen „Kältefallen“ beträgt bis zu minus 180 Grad Celsius. Vermutlich gibt es dort Wassereis von Kometeneinschlägen. Eine Analyse könnte verraten, ob es dem Wasser auf der Erde ähnelt. „Die Erde war anfangs viel zu heiß, da hätte sich Wasser nicht lange gehalten“, sagt Jaumann. „Es muss später zu uns gekommen sein. Und wir wüssten gern, woher.“
Selbst die seit Urzeiten von der Erde sichtbare Seite des Mondes wirft Fragen auf. So deuten neue Bilder der Nasa-Sonde „Lunar Reconnaissance Orbiter“ auf jungen Vulkanismus hin. Bisher dachte man, den Mond-Vulkanen wäre vor rund einer Milliarde Jahren die Puste ausgegangen. Sarah Braden von der Universität von Arizona in Tempe und Kollegen entdeckten jedoch weitgehend kraterlose Basaltflüsse. Sie vermuten: Eruptionen gab es bis in die geologische Neuzeit, womöglich folgen weitere.
Die Astronomen träumen von einem Mondobservatorium
„Der Mond ist spannender denn je“, sagt Jaumann. Selbst die Amerikaner, die jahrelang den Mond links liegen ließen, hätten erkannt, dass es gute Gründe für neue Missionen gibt. Ob am Ende ein Forschercamp am Südpol errichtet wird? „Ich denke, in den nächsten zehn Jahren wird es zunächst Robotermissionen geben, die Proben aus dem Südpol-Aitken-Becken zur Erde bringen“, sagt Jaumann. Bemannte Missionen wären ihm aber lieber, „weil die mehr Material mitnehmen können.“ Einige Kilo statt nur ein paar Gramm.
Womöglich trägt die Wiederentdeckung des Mondes auch dazu bei, die Abneigung vieler „ernsthaft-nüchterner“ Astronomen gegen die „prestigeheischende und unsinnig-teure“ bemannte Raumfahrt abzubauen. Schließlich würden sie von den Männern und Frauen profitieren, die ihnen beispielsweise Teleskope auf die Rückseite des Mondes bauen (die übrigens nicht immer dunkel ist, wie das Pink-Floyd-Album „Dark Side of the Moon“ nahe legt).
Jenseits aller störenden Lichtquellen und garantiert ohne Wolken gilt die erdabgewandte Seite als idealer Standort für optische Teleskope. Binnen eines Jahres könnten sie den gesamten Himmel überblicken. Die Kosten für Aufbau und Wartung der Apparate indes wären gewaltig, sagt Roger Davies, Astronom an der Universität Oxford. Er verweist auf die langen Planungszeiten und hält es deshalb für unwahrscheinlich, dass in den nächsten zwei Dekaden ein Mondobservatorium errichtet wird. Hinzu kommt, dass Weltraumteleskope wie „Hubble“ gezeigt haben, dass man das Atmosphärenproblem auf andere Weise lösen kann.
Bessere Chancen haben die Radioastronomen. Statt Licht analysieren sie elektromagnetische Signale, die zum Beispiel Sterne und Pulsare aussenden. Die Methode ist für sehr weit entfernte und damit alte Objekte besonders geeignet. Die Ausdehnung des Universums führt dazu, dass die Raumzeit gestreckt wird und mit ihr die Wellenlänge jeglicher Signale. Rotverschiebung nennen das die Forscher. Die Strahlung aus dem „Dunklen Zeitalter des Kosmos“ zwischen dem Urknall und vor dem Aufleuchten der ersten Sterne ist daher heute so langwellig, dass sie von der Erde aus nicht messbar ist. Im Fall von Wasserstoff etwa verschob sich die Frequenz von ursprünglichen 1420 Megahertz auf unter 100 Megahertz.
Sie wollen das Dunkle Zeitalter des Universums verstehen
Ein Radioteleskop auf der Rückseite des Mondes hingegen könnte möglicherweise die Wasserstoffstrahlung aus dem Dunklen Zeitalter detektieren und so großräumige Strukturen innerhalb des jungen Kosmos erkennen. Der gesamte Himmelskörper würde als Schutzschild vor dem elektromagnetischen Rauschen der Erde und ihrer Bewohner dienen. Dieses Konzept verfolgt ein Team um Jack Burns von der Universität von Colorado in Boulder mit der „Dark Ages Radio Explorer Mission“. Burns und seine Kollegen wollen einen Roboter auf der Rückseite absetzen, der auf dem Boden Dipolantennen aufstellt – unterstützt von Astronauten, die im „Orion“-Raumschiff den Mond umkreisen.
Später soll ein Verbund von tausenden Antennen folgen, die zusammengeschaltet werden, um die Empfindlichkeit zu erhöhen. Als „Antenne“ wollen die Forscher lange Bahnen aus Polyimid-Kunststoff nutzen, die mit einem leitenden Material versehen sind. Die Bahnen werden aufgewickelt, zum Mond geschickt und vor Ort von einem Roboter abgespult. „Die Missionskosten liegen bei 150 Millionen Dollar, ohne Flug“, sagt Burns. Zu Beginn des nächsten Jahrzehnts könne der erste Teil der Mission starten.
Wann und ob der große Antennenpark folgt, ob er überhaupt kommt und ob ihn die immer besser werdenden Roboter oder doch von Entdeckergeist beseelte Menschen errichten werden, das steht vorerst in den Sternen.