Mythos Mond: Rätselhafte Fernwirkung
Groß, rund, hell: Der Vollmond raubt den Schlaf und kann unsere Stimmung ändern. Das glaubt jede zweite Frau. Manche denken sogar, dass der Mond Geburten und Verbrechen beeinflusst. Was ist dran, am vermeintlichen Einfluss des Erdbegleiters?
Vielleicht wäre es ganz anders gekommen. Wenn nicht vor Jahrmilliarden große Trümmer den Mond genau an den Stellen getroffen hätten, die heute als Mare Imbrium, Serenitatis oder Nubium bekannt sind. Und wenn unser kosmischer Begleiter nicht vor langer Zeit das Kreiseln um die eigene Achse eingestellt hätte. So aber zeigt er uns stets die gleiche Seite, die mit den Kratern, in denen schon vor Jahrtausenden die Menschen ein Gesicht zu erkennen glaubten. Und erst die Wandlungen: Mal ist der fahle Brocken kreisrund, dann ist nur eine Hälfte zu sehen, eine Woche später ist er ganz weg. Mal zieht er in hohem Bogen über die Landschaft, mal schafft er es kaum über die Dächer der Nachbarschaft. Undurchschaubar, es scheint als habe der Erdbegleiter so etwas wie einen eigenen Kopf. Kein Wunder, dass der Mond den Menschen mehr ist als ein kugeliger Himmelskörper: etwas Übernatürliches, Mächtiges, Göttliches. Bis heute.
Im Buchhandel werden Ratgeber verlangt, in denen anhand der Mondstellungen „günstige“ Tage fürs Fensterputzen oder das Ausmisten von Kleintierställen benannt werden. Friseurbesuche oder Epilieren sollte demnach immer bei abnehmendem Mond stattfinden. Hintergrund: Alles was mit Verschwinden zu tun hat, sollte bei „verschwindendem“ Mond geschehen. Bei zunehmendem Mond hingegen bitte die nasse Wäsche sorgfältig mit vielen Klammern auf die Leine bringen, um Hängefalten zu vermeiden. Die lassen sich zu jener Zeit viel schwerer herausbügeln als bei abnehmendem Mond.
Auch jetzt in der Pilzsaison wird garantiert wieder die Rede auf den Sammelerfolg bei zu- oder abnehmendem Mond kommen. In vielen Bioläden steht Wasser aus der Mondquelle St. Leonhardt. Abgefüllt am Vollmondtag, 1,85 Euro pro Flasche. Der „Venus-Mondtee“ gleich daneben wird zwar an allen Arbeitstagen gepflückt, spielt aber bewusst mit dem Mythos des mächtigen Mondes.
Ein erfolgversprechender Ansatz. Einer Umfrage des Offenbacher Marplan-Instituts zufolge glauben 45 Prozent der Frauen, dass der Mond ihre persönliche Stimmung heben oder senken kann. Bei den Männern ist es fast jeder vierte, der einen lunaren Einfluss auf seine Stimmung verspürt. Können sich so viele Leute wirklich irren?
Die wohl am weitesten verbreitete Annahme lautet: Bei Vollmond kann ich schlecht schlafen. „Ich habe einige Patienten, die das berichten“, sagt Dieter Kunz, Leiter der Abteilung Schlafmedizin am Berliner St.-Hedwig-Krankenhaus. Er legt Wert auf die Feststellung, dass das „ganz normale“ Menschen seien und nicht Hysteriker, die sich bereits vorher verrückt machen, wenn sie im Kalender das Vollmondzeichen sehen. „Es ist eher umgekehrt, sie wundern sich, dass sie lange wach liegen, schieben den Vorhang beiseite – und es ist Vollmond“, berichtet Kunz. Schlafprobleme hängen allerdings von vielen Faktoren ab und es sei keineswegs so, dass die Patienten in den übrigen Nächten des Mondzyklus hervorragend schlafen, ergänzt er. „Bisher gibt es keine wissenschaftliche Studie, die einen Zusammenhang zwischen Mondphasen und Schlafverhalten belegt“, sagt der Mediziner. Er glaubt dennoch, dass es ihn gibt, und sieht als mögliche Ursache das Mondlicht. „Lange dachte man, es sei nicht hell genug, um wirklich zu stören“, sagt er. „Unter Wissenschaftlern wird inzwischen darüber diskutiert, ob die kalt-weißen Anteile im Licht stark genug sind, um den Körper durcheinander zu bringen, der von Natur aus in den Nachtstunden auf absolute Dunkelheit eingestellt ist.“ Kalt-weißes Licht gilt als starker Reiz, der den Körper in Schwung bringt.
Gleichwohl könnte in vielen Fällen diese Form der Mondempfindlichkeit auch auf selektiver Wahrnehmung basieren: Fällt eine schlaflose Nacht auf Vollmond, fühlt man sich in seiner Annahme bestätigt. Ist am Himmel nur eine Sichel zu sehen – na, dann hat das eben andere Gründe.
Es gibt noch zahlreiche andere Leiden, die mit dem Mond in Zusammenhang gebracht werden, etwa epileptische Anfälle oder Gewaltausbrüche. Auch dem sind Wissenschaftler nachgegangen. Viele dieser „Mondstudien“ kranken jedoch an ihrem Aufbau. Wer etwa den Alkoholkonsum nur über eine Mondphase hinweg untersucht, wird einen scheinbaren Zusammenhang finden, wenn der Vollmond auf einen Freitag oder Sonnabend fällt. Denn da haben die meisten Leute Zeit für geselliges Beisammensein und können dann ausschlafen. Scheint der Vollmond an einem Mittwoch, dürfte das Resultat anders ausfallen.
Groß angelegte Untersuchungen über viele Jahre haben eine solidere Basis – und kommen zu einem ernüchternden Ergebnis. Oliver Kuß, Statistiker an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, hat die Daten des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg zu Geburten zwischen 1966 und 2003 analysiert. Manche Annahme, die selbst unter medizinischen Fachkräften bis heute verbreitet ist, hätte Kuß endlich belegen können. Etwa, dass bei Mondwechsel besonders viele Kinder zur Welt kommen oder dass Mütter mit großem Bauchumfang bei zunehmendem Mond bald gebären. Mehr als vier Millionen Geburten umfasste der Datensatz, ein Zusammenhang zum Mondzyklus zeigte sich nicht. Stattdessen fand Kuß einen Wochenrhythmus: Montags und dienstags wurden die meisten Kinder geboren, an den Wochenenden die wenigsten. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass künstlich eingeleitete Geburten eher auf den Wochenanfang gelegt werden.
Gut, bei den Geburten scheint der Mond keinen Einfluss zu haben. Dann aber vielleicht an anderer Stelle. Daran haben auch schon andere gedacht und fast alles untersucht, was man sich denken kann: Zahl der Verkehrsunfälle, Suizidversuche, Komplikationen nach Operationen. Hunderte Studien wurden angefertigt. Von denjenigen, die den wissenschaftlichen Standards entsprechen, hat bisher keine einzige einen Einfluss des Mondes auf den Menschen belegt. So lautet das Fazit des Soziologen Edgar Wunder sowie des amerikanischen Forschertrios Ivan Kelly, James Rotton und Roger Culver, die derartige Mondstudien ausgewertet haben.
Trotzdem: „Der Glaube daran, dass der Mond Einfluss auf die Bewältigung von Alltagsanforderungen habe, ist auch heute noch weit verbreitet“, schreiben Thomas Reuster und Werner Felber von der Dresdner Uniklinik in einem Fachaufsatz. „Er hält sich hartnäckig vor allem bei Mitarbeitern medizinischer und psychiatrischer Einrichtungen und nährt die Überzeugung, Ausbruch oder Verschlimmerung psychischer Leiden stünden im Zusammenhang mit den Mondphasen, namentlich des Vollmondes.“ Früher mag das sogar teilweise treffend gewesen sein, argumentieren die Mediziner. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts lebten die meisten Menschen mit nächtlicher Dunkelheit. Nur reiche Bürger konnten sich Kerzen leisten. Der helle Vollmond ermöglichte es alle vier Wochen, länger als üblich aktiv zu sein. Zu arbeiten, aber auch sich zu treffen und den mondbeschienenen Weg nach Hause zu finden. Die Folge: Schlafmangel, der wiederum als Stressfaktor bekannt ist und psychische Störungen ebenso hervorrufen kann wie Schlafstörungen.
Längst wird der Vollmond überstrahlt von zahlreichen Lampen in Häusern und Laternen, und zwar jede Nacht. An der Hypothese, wonach das Mondlicht den Menschen beeinflusst, sei folglich „nichts mehr dran“, schreiben Reuster und Felber.
Auch andere vermeintliche Zusammenhänge lassen sich leicht widerlegen. Etwa das Argument, es könne kein Zufall sein, dass der Menstruationszyklus der Frau ähnlich lange dauert wie ein Mondzyklus mit 29,5 Tagen. Die Zykluslänge der Frauen ist ein Durchschnittswert, bei einigen dauert er länger, bei anderen ist er kürzer. Selbst ein und dieselbe Frau kann unterschiedlich lange Zyklen haben. Gäbe es tatsächlich eine Verbindung zum Mond, sollten alle Frauen ihre fruchtbaren Tage zugleich haben, beispielsweise zu Vollmond oder zu Neumond.
Dennoch hält sich der „Mondglaube“ beständig und passt damit zum Zeitgeist. Fortschrittsoptimismus und Technikeuphorie sind zumindest in westlichen Gesellschaften abgekühlt. Viele wollen ihr Leben wieder stärker „in Einklang mit der Natur“ bringen. Traditionen werden wieder mehr gesucht und gepflegt. Die Überzeugung, dass es viele Dinge gibt, die objektiv zwar nicht erklärbar und dennoch wirksam seien, hat Konjunktur. Homöopathie und traditionelle chinesische Medizin zum Beispiel sind in breiten Bevölkerungsschichten anerkannt und werden teilweise sogar von der Krankenkasse bezahlt. Auch wenn die wissenschaftlichen Belege für deren Wirksamkeit ähnlich ausfallen wie bei den „Mondanalysen“.
Wissenschaftler der Universität Minnesota haben jüngst allerdings eine ganz neue Mondregel entdeckt. Sie gilt für Ostafrika: An Tagen kurz nach Vollmond solltest Du besser zu Hause bleiben, denn dann ist das Risiko, von einem Löwen gefressen zu werden besonders hoch. Die Forscher hatten rund 500 Attacken der Raubtiere auf Dorfbewohner in Tansania untersucht. Demnach steigt das Risiko, in Stücke gerissen zu werden, kurz nach Vollmond rapide an. Der Erdbegleiter ist daran aber nur mittelbar beteiligt. Nach Ansicht der Biologen ist das Phänomen folgendermaßen zu erklären: Je schlechter die Lichtverhältnisse, desto besser der Jagderfolg. Bei zunehmendem Mond ist es abends jedoch immer recht hell, die Löwen werden zunehmend hungrig. In der zweiten Hälfte des Zyklus geht der Mond in dieser Gegend erst einige Zeit nach Sonnenuntergang auf, derweil die Menschen oft noch aktiv sind. Optimale Voraussetzungen für eine erfolgreiche Jagd.