Appelle in der Corona-Pandemie: „Drohkulissen greifen bei einigen Gruppen nicht mehr“
Jeder Besuch bei den vorerkrankten Verwandten ist riskant, sagt der Medizinsoziologe Holger Pfaff. Aber wie erklärt man das so, dass sich Menschen daran halten?
Holger Pfaff (64) ist Direktor des Instituts für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft der Universität zu Köln und der Uniklinik Köln.
Herr Pfaff, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat angesichts der Familientreffen zu Weihnachten an die Eigenverantwortung der Menschen appelliert. Sie hatten zuvor die Krisenkommunikation der Regierung in der Corona-Pandemie kritisiert – was halten Sie nun davon?
Das geht in die richtige Richtung. Die Regierung hat bemerkt, dass sie in bestimmte Bereiche nicht eingreifen kann. Eingreifen kann sie in staatliche Organisationen wie etwa Schulen, hier kann sie etwas anordnen. Ansonsten ist sie auf Appelle zur Selbstverantwortung angewiesen.
Wichtig wäre es dabei auch, wenn vor den Weihnachtsbesuchen alle Familienmitglieder versuchen, sich 14 Tage zu isolieren. Das wird aber nicht bei allen stattfinden.
Das wäre nicht verkehrt, aber für viele ist es tatsächlich nicht realistisch. Eine Alternative wären die Schnelltests, die allerdings nicht so genau sind wie die PCR-Tests. Schnelltests sollten allerdings nur für einen Tagesbesuch eingesetzt werden, weil man am nächsten Tag schon wieder infektiös sein kann. Und nicht alle bekommen gegenwärtig diese Tests, bislang sind sie – wenn überhaupt lieferbar – zum Beispiel vor allem Altenheimen, Schulen und Kliniken vorbehalten.
Die Schnelltests müssen aber auch von Fachleuten vorgenommen werden, um falsch negativ Tests zu vermeiden.
Das stimmt. Es sollte überlegt werden, ob Ärzte, Apotheker und Pflegekräfte hier ein gemeinsames Vorgehen entwickeln können, das für schnelle und flächendeckende Tests sorgt. In der heutigen Zeit sind innovative Ideen gefragt. Professionsinteressen dürfen dabei einer guten Lösung nicht im Wege stehen.
Wir sprechen über fünf oder zehn Menschen unterm Weihnachtsbaum. Es wird aber auf jeden Fall auch mehr Kontakte geben – ist Weihnachten also ein großes Risiko?
Natürlich, das Virus geht von der privaten Lebenswelt aus, hier breitet es sich zuerst aus, das zeigen Untersuchungen. Das Private ist das, was man angehen müsste, aber dieser Raum ist eben aus guten Gründen besonders geschützt.
Weihnachten sitzen also alle mit FFP2-Masken und offenen Fenstern unterm Baum?
Wenn die Großeltern und Eltern stark vorerkrankt sind, müssen in der Theorie alle FFP2-Masken tragen, vor allem in ungelüfteten Räumen. Grundsätzlich sind ungelüftete Räume riskant. Und die Idee mit der Selbstquarantäne zuvor ist gut, aber ob sich da alle daran halten und halten können, ist eine andere Frage.
Das müsste doch nun den Bürgerinnen und Bürgern ganz deutlich gesagt werden.
So ist es. Es muss ganz direkt von der Politik angesprochen werde. Es muss besser kommuniziert und aufgeklärt werden, und zwar auch zielgruppenspezifisch.
[Alle wichtigen Nachrichten des Tages finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter "Fragen des Tages". Dazu Kommentare, Reportagen und Freizeit-Tipps. Zur Anmeldung geht es hier.]
Die Ärzteverbände haben die Maßnahmen des zweiten Lockdowns als zu lax kritisiert. Müssten wir gerade jetzt die Bremsen nicht doch noch viel fester anziehen?
Es sollte eine Doppelstrategie gefahren werden: Kontaktbeschränkungen müssen sein und AHA-Maßnahmen sowie Lüften. Dazu kommt, dass die Menschen aus den Risikogruppen, die Älteren und Vorerkrankten, nun konsequent geschützt werden müssen. Das bedeutet: FFP2-Masken müssen kostenlos an diese Gruppen verteilt werden, und die Schnelltests müssen hier zum Einsatz kommen, auch wenn sie nicht zu 100 Prozent zuverlässig sind. Jeder Besucher in Pflegeheimen sollte unmittelbar vorher, am besten zweimal, getestet werden. Dafür muss Geld zur Verfügung gestellt werden.
„Jeder Besuch bei den vorerkrankten Großeltern, Eltern oder Freunden ist ein Risiko“
Das große Problem sind aber die Älteren und die vorerkrankten Menschen, die nicht in Pflegeheimen wohnen – das wird nicht nur zu Weihnachten ein Problem, sondern ist es jetzt schon. Jeder Besuch bei den vorerkrankten Großeltern, Eltern oder Freunden ist ein Risiko, dafür bräuchte es günstige und schnell erreichbare Schnelltests. Man müsste überlegen, ob hier in Zukunft nicht die Apotheken unter Einhaltung strenger Bedingungen eine größere Rolle spielen können und sei es nur zeitlich befristet.
Das Ergebnis der Schnelltests zeigt nur die Infektiosität im Moment an, man müsste sich also bei einem Besuch über Weihnachten immer wieder testen.
Das ist eins der Probleme, man muss mehrfach testen, das kostet – und man muss die Tests unkompliziert erhalten können. Hier müssen wir nun vor allem auch aufpassen, dass sich keine Zwei-Klassen-Gesellschaft entwickelt. Dass nämlich alte und kranke Menschen in Pflegeheimen besser geschützt sind als die, die zuhause leben. Alte und kranke Menschen in den eigenen vier Wänden sind schlechter geschützt, wenn die Schnelltests nur an die Heime gehen.
Der normale Bürger, der seine vorerkrankten Eltern und Großeltern besuchen will, kommt nicht so leicht an die Tests. Es darf zudem auch nicht sein, dass Schnelltests nur etwas für Wohlhabende sind. Dies würde die soziale Ungleichheit weiter verschärfen.
Sie sagen auch, der Preis durch Verbote und repressive Maßnahmen sei zu hoch. Was meinen Sie damit?
Wenn der Staat zu sehr eingreift, kann die Selbststeuerung verloren gehen. Die Fähigkeit zum Selbstmanagement verlernen die Menschen allmählich, wenn sie lernen, sich nur auf die Vorgaben des Staates verlassen zu müssen. Die anderen Kosten sind die konkreten, etwa der Wirtschaft oder der Kultur. Sobald Einrichtungen bankrottgehen, geht etwas verloren, was sich so schnell nicht wiederaufbauen lässt. So können Städte langsam veröden.
Das hängt auch davon ab, wie lange es dauert und wie lange der Staat zahlen kann. Sobald es die Infektionszahlen erlauben, wird man überlegen müssen, ob man die Institutionen mit einem strengen und staatlich regelmäßig überprüften Hygienekonzept offenhält und zusätzlich auf die Verantwortung der Personen setzt.
Würden Sie die Freiheit über den Gesundheitsschutz stellen?
Das ist eine sehr schwierige Abwägung. Die Freiheit kann nur über der Gesundheit stehen, wenn man das Gesamtbild betrachtet. Im Einzelfall müsste die Freiheit eingeschränkt werden, wenn Mitmenschen gefährdet werden. Nicht jedes Verhalten ist in der Pandemie tolerierbar. Die Gerichte haben festgestellt, dass die Einschränkung der Freiheit immer verhältnismäßig sein muss, auch was Dauer und Begründung angeht. Daraus hat die Regierung gelernt, sie begründet nun etwas mehr und schafft zeitliche Begrenzungen.
Eigenverantwortung bedeutet auch, dass die Menschen sich selbst Regeln auferlegen. Dazu ist aber nicht jeder in der Lage.
Um sich selbst steuern zu können braucht es tatsächlich Gesundheitskompetenz, man braucht die entsprechenden Informationen, muss sie verstehen und bewerten und letztlich Schlussfolgerungen daraus ziehen können. Sonst kann man nicht selbstverantwortlich handeln. Dafür bräuchte es einen individuellen Lernprozess – das braucht Zeit. Diejenigen, die direktiv eingreifen wollen, argumentieren damit, dass man erst einmal Grenzen aufzeigen muss, bis das Problembewusstsein vorhanden und die Kompetenz erlernt ist. Dieses Argument darf man nicht überziehen. Sonst könnte man mit der gesundheitlichen Bedrohung vieles rechtfertigen.
Sie sagen, dass die Pandemie nun in eine andere Phase getreten ist – mit welchen Konsequenzen?
Zwar haben wir aktuell fast noch eine akutere Lage als zu Beginn der Pandemie. Aber am Anfang war es ein Jahrhundertereignis, für die Menschen ein Lebensereignis, alles völlig neu. Weder Gesellschaft noch der Einzelne war irgendwie vorbereitet. Es gab einen Schockzustand, einen Bedrohungszustand. Die Bilder der Militärlaster mit den Leichen in Norditalien haben vermittelt, dass – wie Macron sagte – „Krieg“ ist. Die Menschen haben allein aufgrund dieser Bilder angefangen, ihre Kontakte einzuschränken
Bedroht fühlt man sich einerseits, wenn man sich für eine Krankheit anfällig fühlt und anderseits angesichts des Schwergrades einer Krankheit. Durch die Bilder aus den italienischen Kliniken wurde klar, wie schwer die Krankheit ist. Da so viele krank wurden, entstand auch die Auffassung, dass die meisten anfällig sind. Bis dann die Meldungen kamen, dass jüngere gesunde Menschen in den meisten Fällen weniger betroffen sind.
„Wir sind nun in der chronischen Phase der Pandemie“
Aber?
Es wurde gleichzeitig klar, dass auch durch starkes Bremsen das Virus nicht ganz verschwindet. Und auch nun in der zweiten Welle würde ein starkes Bremsen die Zahlen zwar herunterbringen, sie würden aber nach einer Öffnung wieder ansteigen. Diesen Umstand haben wir in den Thesenpapieren unserer Covid-Autorengruppe wiederholt dargestellt. Wir kommen in eine Art Stotterbremse hinein, das hat den Vorteil, dass man dabei wahrscheinlich nicht aus der Kurve herausgetragen wird – also die Intensivstationen nicht überlastet werden. Man will zu Recht nicht entscheiden müssen, wer noch eine Beatmung bekommt und wer nicht.
Wo stehen wir jetzt?
Wir sind nun in der chronischen Phase der Pandemie, das Virus bleibt uns höchstwahrscheinlich noch eine Weile erhalten. Und hier zeigt sich nun aber, dass nicht alle das nötige Verhalten dauerhaft an den Tag legen wollen oder dies wollen, aber nicht umsetzen können.
Wenn das eigene Verhalten so wichtig ist, wie erreicht man, dass die Menschen konsequenter werden?
Indem man die Menschen ernst nimmt, auf sie und ihre Werte eingeht, für sie maßgeschneiderte Verhaltensvorschläge macht und sie bei der Änderung des Verhaltens unterstützt. Die Menschen lassen sich zudem besser überzeugen, wenn man sie als Partner behandelt.
Hilft der Vergleich mit der HIV-Pandemie, was war hier der Schlüssel zum Erfolg?
Das ist nicht so leicht zu vergleichen, die Verbreitung des HI-Virus ging nicht so schnell vonstatten und die Übertragungswege des Virus waren andere. Man ist damals auf jeden Fall zu den Risikogruppen gegangen und hat sie überzeugt, ihre eigenen Verhaltensregeln zu schaffen. Man hat auf Einsicht und Vernunft der betroffenen Gruppen gesetzt, dass sie selbst ihre Regeln aufstellen, einhalten und überwachen. Das ging auf. Dies müssten wir nun auch so praktizieren. Das nenne ich aufsuchende Politik, die Betroffenen der einzelnen Gruppen, etwa religiöse Gemeinschaften, Firmen, Verbände und Familien, dort abholen, wo sie stehen.
Es braucht spezifische Ansätze für die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft. Einfach Verbote zu erlassen, kann in vielen Fällen dazu führen, dass sich die Gruppen erst recht nicht daranhalten.
[Jetzt noch mehr wissen mit TPlus: Lesen Sie hier, warum Genesene nach einer Coronainfektion ein zweites Mal erkranken könnten.]
Ihr Vorschlag?
Man muss sie von der Richtigkeit der Maßnahmen überzeugen. Das dauert natürlich, da haben wir über den Sommer viel Zeit vertan. Je später man ansetzt, desto restriktiver muss man werden.
Oder Appelle ausgeben.
Und an die halten sich natürlich oft nur Betroffene. Für jemand ohne vorerkrankte Großeltern, Eltern und Freunde ist das solidarische Verhalten oft schwierig zu akzeptieren.
Hat die Risikokommunikation der Regierung versagt?
Ja, zumindest hat sie nicht ausreichend differenziert und zur Schilderung der Risiken wenig angemessene Zahlen verwendet. Dies hat unsere Autorengruppe ausführlich in den bisher sechs Thesenpapieren erläutert. Es hätte auch mehr Vertrauen in der Öffentlichkeit geschaffen werden müssen, das setzt gemeinsame Werte, Verlässlichkeit und Offenheit voraus. Man vertraut Menschen, die offen kommunizieren. Fehler nicht zuzugeben, kommt nicht gut an, sie zuzugeben ist die beste Strategie – das schafft Vertrauen.
Drohkulissen sind also falsch?
Am Anfang waren sie notwendig, aber sie greifen nicht mehr bei den Gruppen, die glauben, dass sie offensichtlich nur wenig betroffen sind. Diese Menschen sind nur noch über Solidarität zu erreichen. Bedrohungsszenarien sind schon eine richtige Maßnahme, wenn die Menschen sehr schnell zu bestimmten Handlungen gebracht werden müssen, wie eben am Anfang der Pandemie.
Aber jetzt …
… jetzt brauchen wir einen ehrlichen Umgang mit dem Ganzen. Angesichts der Bedrohung der vulnerablen Gruppen muss an die Solidarität der Mitmenschen appelliert werden. Wir müssen jetzt einen Mittelweg zwischen Einschränkungen, Eigenverantwortung und mehr systematischen und flexiblen Schutz für die Anfälligen – also FFP2-Masken, Schnelltests – finden.
Und nach der Impfung ist die Welt wieder wie vorher?
Nicht ganz. Wie die Erfahrung mit der Grippeschutzimpfung zeigt, wird wahrscheinlich ein gewisser Teil der Gesellschaft daran teilnehmen, aber man erreicht nie alle. Die Impfung wird das Problem abschwächen, aber solange nicht die Mehrheit geimpft ist, werden wir doch warten und die bisherige Strategie der Stotterbremse weiter anwenden müssen.
Dies bedeutet, dass man zwischen Lockdown und Öffnung wechselt, um die Intensivstationen zu entlasten. Für diese Stotterbremsen-Strategie benötigen wir jedoch vernünftige Zahlen und vernünftige Erklärungen für diese Zahlen. Seit August haben wir beispielsweise einen Abfall der Gesamtzahl der gemeldeten Intensiv-Betten in einer nicht unbeträchtlichen Höhe. Wenn diese Abnahme nicht gestoppt wird, werden wir noch stärker bremsen müssen. Hier ist eindeutig die Politik gefragt.