Immer mehr Infizierte in Heimen: Warum kann Berlin die Alten nicht schützen?
Die Zahl der Neuinfektionen in Pflegeheimen hat sich in zwei Wochen fast verdoppelt. Der Druck auf die Einrichtungen steigt – dabei sind sie nicht immer schuld.
In vielen Berliner Pflegeheimen steigt die Angst vor dem Virus. Denn die Zahl der Neuinfektionen in diesen Einrichtungen hat sich innerhalb von gut zwei Wochen fast verdoppelt. So wuchs die Gesamtzahl positiv getesteter Heimbewohner von 1021 Mitte November auf 2050 zu Beginn dieser Woche. Zudem wurden seit Beginn der Pandemie in Berlin rund 1000 Mitarbeiter, zumeist Pflegekräfte, positiv auf Sars-CoV-2 getestet.
Circa 60 Prozent aller Todesopfer der Pandemie lebten der Universität Bremen zufolge in einem Heim oder sind ambulant zu Hause von Pflegekräften betreut worden. In Berlin hat es bereits in diversen Pflegeheimen Coronavirus-Ausbrüche gegeben, sei es in Häusern gemeinnütziger, privater oder kommunaler Betreiber.
Dem Senat zufolge sind bislang 223 stationäre Pflegeeinrichtungen betroffen gewesen. Erst in diesen Tagen haben sich in einem Pflegeheim in Pankow 18 Bewohner mit dem Virus angesteckt. Alle Betroffenen sollen in ihren Aufenthaltsbereichen isoliert worden sein; bei 16 der 18 Erkrankten seien nur milde Symptome aufgetreten.
Nicht immer verlaufen Ausbrüche in Heimen glimpflich. In einem Pflegeheim in Berlin-Lichtenberg starben 15 Bewohner an den Folgen einer Coronavirus-Infektion. In Berlin hat es der Gesundheitsverwaltung zufolge bis zum 16. November 132 Sars-CoV-2-Todesfälle in Heimen gegeben.
In den zwei Wochen danach sind mehr als 90 Fälle hinzugekommen, inzwischen zählt der Senat 224 Verstorbene.
Warum sind die Ausbrüche in den Heimen so heftig?
In Lichtenberg hatte offenbar das Personal des Heimes die Bewohner angesteckt, wie aus dem Bericht des Pandemiestabs hervorgeht. Demnach war das Heim den Hygienemaßnahmen, die der Amtsarzt angeordnet hatte, nicht in ausreichendem Maße nachgekommen.
Mögliche Ansteckungsquellen sind neben infizierten Pflegekräfte auch infizierte Besucher sowie infizierte Bewohner, die sich beim Ausgehen angesteckt haben.
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Grundsätzlich gilt, dass in Heimen zwei Faktoren zusammenwirken: Erstens gehören die Bewohner zur Risikogruppe, weshalb eine Infektion bei ihnen öfter schwerer verläuft. Zweitens leben die Bewohner oft auf engerem Raum zusammen. Noch fehlen Forschungsergebnisse zur Lage in den Heimen.
Wie reagiert die Berliner Politik auf die aktuellen Ausbrüche?
Die Verwaltung von Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) teilte auf Anfrage mit, man habe bis Anfang Dezember insgesamt 431.000 FFP2- und KN95-Masken an Pflegeeinrichtungen in Berlin verteilt. Kalayci hatte nach dem Ausbruch in Lichtenberg auf strikte Einhaltung aller Hygienemaßnahmen in den Heimen gedrängt – und dabei auch Kritik aus der Branche auf sich gezogen.
Insgesamt sind laut Senatsverwaltung fast 1.9 Millionen FFP2/KN95-Masken an „Bedarfsträger“ des Landes Berlin verteilt. Zudem habe die Gesundheitsverwaltung mehr als eine Million Corona-Schnelltests an Pflegeeinrichtungen ausgeliefert. Im Fall eines positiven Ergebnisses dieser Tests muss dieses noch durch einen PCR-Test im Labor bestätigt werden.
Die Opposition will im Abgeordnetenhaus über die Lage sprechen. Turnusmäßig sei erst im Januar der nächste Termin des Gesundheitsausschusses, sagte der CDU-Gesundheitsexperte Tim-Christopher Zeelen, man werde aber mit dem Präsidenten des Abgeordnetenhauses über eine frühere Sondersitzung sprechen.
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„Seit Monaten fordern wir vom Senat eine klare Teststrategie mit verbindlicher, kostenloser und regelmäßiger Durchtestung von Personal und Bewohnern“, sagte der Gesundheitsexperte der Berliner FDP, Florian Kluckert. „Dabei könnten Medizinstudenten und die Bundeswehr helfen.“ Es reiche nicht, wenn sich der Senat als „Schnelltest-Dealer“ zu engagieren versuche, denn das Personal in den Heimen sei dieser Tage übermäßig beansprucht.
Wie beurteilen die Pflegeheimbetreiber die Lage?
Zahlreiche private Betreiber äußerten sich auf Tagesspiegel-Anfrage nicht. Ausnahme ist die Korian-Gruppe, von deren sieben Berliner Einrichtungen vier von Covid-19-Fällen betroffen sind. Von 877 Bewohnern seien 29 Bewohner und 20 Mitarbeiter positiv auf Covid-19 getestet; alle Beschäftigten erhielten eine spezielle Hygieneschulung im Umgang mit Covid-19-Patienten.
Auch die Caritas macht die Lage in ihren Berliner Häusern weitgehend transparent. Der kirchliche Träger betreibt in der Hauptstadt acht Heime, in denen fast 600 Bewohner leben. Aktuell verzeichne man 37 an Covid-19 erkrankte Bewohner und 14 erkrankte Mitarbeiter. In Abstimmung mit den Gesundheitsämtern werden die Betroffenen isoliert. Dabei stelle man fest, dass die Gesundheitsämter in den Bezirken „sehr unterschiedliche Maßnahmen“ anordneten.
So sei zwar vorgeschrieben, dass nach einem positiven Schnelltest zum Absichern ein PCR-Test eingesetzt werden muss. Zuweilen teilen örtliche Amtsärzte aber mit, dass dafür nicht ausreichend PCR-Tests vorrätig seien. Trotz aller Schutzmaßnahmen müsse man damit rechnen, teilt die Caritas mit, dass es dennoch zu Infektionsgeschehen kommen kann: „Wir können ja nicht die Einrichtungen hermetisch abschotten.“
Die Zusatzmaßnahmen – Kontrollen, Tests, Isolieren – bedeuten auch massive Mehrarbeit. Ein Beispiel: In einem Haus mit 100 Bewohnern arbeiten fast 90 Beschäftigte. Wenn diese 190 Männer und Frauen wie von der Bundesregierung empfohlen jede Woche getestet werden, zöge das im Monat 800 Tests nach sich.
Bei zwölf Minuten pro Test hätte dies zur Folge, dass eine Vollzeitkraft nur noch damit beschäftigt ist. Weil Krankenkassen und Sozialämter dafür aber bislang kein Zusatzgeld zahlen, müssen die ohnehin durch Überstunden belasteten Pflegekräfte diese Extraarbeit auch noch leisten.
Welche Probleme sehen die Pflegekräfte?
Die Diakonie, die Pflegeheime betreibt, hat in einer repräsentativen Studie im Oktober bundesweit 1500 Mitarbeiter befragt. Demnach berichteten 70 Prozent der Befragten, dass eigentlich dringend benötigte Kollegen in Quarantäne mussten; 23 Prozent der Beschäftigten hatten Kontakt zu erkrankten Pflegebedürftigen und 8,3 Prozent hatten Covid-19-Todesfälle in ihren Heimen zu verzeichnen.
Zudem gab es in den Einrichtungen zu wenige Corona-Tests. Die befragten Pflegekräfte fühlten sich offenbar unzureichend durch die für den Infektionsschutz zuständigen Gesundheitsämter informiert. Neues über das Pandemiegeschehen vermittelten am ehesten das Robert-Koch-Institut (88 Prozent), die eigene Heimleitung (88 Prozent) und die Medien (86 Prozent).
Die örtlichen Gesundheitsämter kommen auf 49 Prozent. Da die meisten Heime aber von Privatfirmen betrieben werden, haben Umfragen bei kirchlichen Trägern wie der Diakonie nur begrenzte Aussagekraft.
Welche Pflegeheime gibt es in Berlin?
In Berlin gibt es 400 Pflegeheime mit insgesamt circa 30 000 Plätzen. Davon sind fast 95 Prozent belegt. Die Hälfte der Heime wird von privaten Trägern betrieben, die meisten anderen von gemeinnützigen Verbänden – von der Arbeiterwohlfahrt bis zur Caritas. Dazu kommen die 13 Senioreneinrichtungen des landeseigenen Vivantes-Konzerns.
Von allen fast 39.000 Pflegebedürftigen in Berlin, also denjenigen in Heimen sowie den von ambulanten Diensten zu Hause versorgten, sind die meisten dem mittleren Pflegegrad II zugeordnet. Überwiegend handelt es sich um Männer und Frauen, die älter als 80 Jahre sind. In den meisten Pflegeheimen wohnen maximal 150 Bedürftige, größere Häuser sind selten – womöglich hat dieser Umstand noch größere Ausbrüche verhindert.