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Die Polizei kann es nicht richten. Die Gesellschaft ist für den Anstieg der Infektionen verantwortlich und nur sie kann einen Lockdown verhindern.
© dpa

Dramatische Corona-Entwicklung: Die Gesellschaft hat es vermasselt - und kann es jetzt auch selbst richten

Angst ist kein guter Ratgeber, Selbstverantwortung aber schon. Weder Staat noch Polizei können Neuinfektionen verhindern - es liegt an uns. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christiane Peitz

Die Kanzlerin spricht von „Unheil“, ein altmodisches Wort. Es klingt nach Verhängnis, nach Naturkatastrophe. Aber die steigenden Infektionszahlen sind vor allem menschengemacht. Und hinter der drastischen Vokabel steckt wohl eher Merkels Sorge um das Gemeinwohl. Sie fürchtet, noch die schärfsten Appelle und flächendeckendsten Sperrstunden könnten nicht wirken.

Läuft es in Italien besser, weil der Bergamo-Schock den Italienern in den Knochen steckt? Urlaubseindrücke sprechen dafür, aber dort steigen die Zahlen ebenfalls wieder. Auch Deutschland hatte der Corona-Schock im Frühjahr diszipliniert. So gut wie alle hielten sich an die Regeln, kaum jemand murrte über den Lockdown, Alu- Hüte kamen erst später in Mode.

Kehrt die Angst nun zurück? Wäre das gut, gerade in Berlin? Viele hocken in den Kneipen ja wieder eng aufeinander, feiern Party und Familienfeste. Aber die Angst ist schon deshalb kein guter Ratgeber, weil sie sich bei anhaltenden Krisen irgendwann legt. Lässigkeit macht sich breit, Nachlässigkeit. Das sind nur die „Anderen“?

Mal ehrlich: Auch wenn Sie keine Großfamilien-Hochzeiten feiern, wie viele verschiedene Personen aus der Verwandtschaft, dem Freundes- oder Kollegenkreis haben Sie im März getroffen? Und wie viele jetzt?

Nicht die Politik hat die steigenden Corona-Kurven produziert, sondern wir selbst

Die zweite Welle lässt sich nicht mit shock and order abwehren, mit Panik und Polizei. Sondern indem alle an einem Strang ziehen. In Frankreich, Spanien oder den Niederlanden mögen rigide Maßnahmen angesichts einer noch dramatischeren Entwicklung unerlässlich sein. Aber hierzulande ist vorerst nicht der Ruf nach dem starken Staat angebracht, sondern nach der starken Gemeinschaft. Nicht Loyalität, sondern Solidarität, so sagte es Markus Söder.

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Wir selbst haben die Gefahr des exponentiellen Anstiegs der Corona-Kurven provoziert, nicht die Politik oder zu lasche Vorschriften. Wir, die Gesellschaft, haben es vermasselt. Das heißt aber auch: Wir, die Gesellschaft, können es richten. Verantwortung in eigener Sache, für das Wohlbefinden aller, darum geht es. Wir wollen die Freiheit und die Demokratie, wir wollen weiter protestieren können, auch gegen den Staat. Aber das geht nur, wenn der öffentliche Raum erhalten bleibt, ohne zweiten Lockdown.

Die Berliner sind ja bekannt dafür, dass sie eine Weile brauchen, bis sie merken, der öffentliche Raum gehört ihnen auch selber, also vermüllt man ihn nicht. Gemeinwohl verpflichtet: Diese Verantwortung weitet sich jetzt bis in die Privatsphäre aus. Was ich hinter der Wohnungstür veranstalte, hat Folgen für alle.

Zivilcourage und über den eigenen Schatten springen - das ist jetzt gefragt

Nun ist kein Mensch rund um die Uhr vernünftig. Also ist nicht Zwangscharakterstärke gefragt, sondern Sensibilität für die großen großen Folgen der kleinen individuellen Freiheiten, die man sich so nimmt. Beim Klimaschutz ist es nicht anders.

Mit der Pandemie leben, bedeutet Vorsicht, Rücksicht, Umsicht. Dazu gehört eine große Portion Zivilcourage, wenn die Busfahrerin von Maskenmuffeln angeblafft wird, und die Fähigkeit etwa des obrigkeitskritischen Bezirks Friedrichhain-Kreuzberg, über den eigenen Schatten zu springen, und die Bundeswehr zur Verstärkung des Gesundheitsamts zuzulassen. Nicht Angst wäre dann der entscheidende Motor, sondern das Eigeninteresse. Auf dem Spiel stehen die letzten gemeinsamen Freiräume. Wäre doch blöd, wenn nur Kleinfamilien zusammen Weihnachten feiern könnten.

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