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Gesundheitspolitiker Lauterbach plädiert für eine breitere Anwendung des 2G-Modells.
© C. Hardt/FutureImage/Imago

Lauterbach erwartet steigende Coronazahlen im Herbst: Die vierte Welle ist kein Schreckgespenst

„Wir befinden uns in einer Zwischenphase“: Der SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach vermisst Modellierungen für den Herbst und ist für eine 2G-Erweiterung.

Es klingt paradox: Die deutsche Impfquote erreicht trotz einer Aktionswoche bei weitem nicht das politisch erwünschte Tempo und dennoch flaut die bundesweite Infektionsdynamik ab – mitten in der von der Delta-Mutante getriebenen vierten Corona-Welle.

Seit der Überschreitung der 60-Prozent-Marke vor knapp einem Monat hat die Rate an komplett Geimpften in Deutschland lediglich um drei Prozent zugelegt. Zugleich folgt die Sieben-Tage-Inzidenz einem Abwärtstrend und liegt nach einer fast vierwöchigen Pause wieder deutlich unter dem Wert von 70 neu registrierten Covid-19-Fällen je 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen.

Die Zahl der Neuinfektionen nimmt im Wochenvergleich den neunten Tag in Folge ab. Auch die Hospitalisierungsrate, also die Zahl der neu eingewiesenen Corona-Patienten je 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen, scheint eine Plateauphase erreicht zu haben.

War das Bild einer „fulminanten Welle“, das der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, zu Monatsbeginn zeichnete, also lediglich ein Schreckgespenst? Mitnichten, findet die Frankfurter Virologin Sandra Ciesek. „Die Impfquote ist leider zu niedrig, um davon ausgehen zu können, dass wir nicht eine erneute Welle mit möglichweise vielen schweren Verläufen und Todesfällen befürchten müssen“, sagt sie dem Tagesspiegel.

Kurzzeitige Trends reichten nicht aus, um langfristige Entwicklungen vorhersagen zu können, betont Ciesek, die gemeinsam mit ihrem Berliner Kollegen Christian Drosten von der Charité den Podcast „Coronavirus-Update“ aufnimmt. Demnach könnte neben der Impfquote vor allem auch das Ende der Reisesaison einen entscheidenden Einfluss auf den Abwärtstrend haben.

Wie Ciesek verweist der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach unter anderem auf den zurückliegenden Anstieg der Fallzahlen durch Reiserückkehrer. „Diese Entwicklung ist nun abgeebbt“, sagt er im Gespräch mit dem Tagesspiegel. „Jetzt befinden wir uns in einer Zwischenphase, bis jetzt war das Wetter gut, die Infektionszahlen insgesamt stabil. Doch ich gehe von wieder steigenden Zahlen aus, wenn sich das Leben wieder mehrheitlich in die Innenräume verlagert“, so Lauterbach.

Sandra Ciesek ist Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt.
Sandra Ciesek ist Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt.
© Imago/Ipon

Die Bewertung der aktuellen Lage bleibt also schwierig. Im aktuellsten Wochenbericht vermutet das RKI „einen Rückgang des Sommerreiseverkehrs, eine Abnahme der im Rahmen des Schulanfangs diagnostizierten Infektionen sowie die breite Einführung der 2G- bzw. 3G-Regeln“ als Erklärungen für den aktuell zu beobachtenden Abwärtstrend.

Lauterbach fordert „dringend verlässliche Modellierungen“

Fachleute wie Ciesek und Lauterbach mahnen deshalb weitere Anstrengungen an. „Die Impfquote noch zu erhöhen, ist momentan die wichtigste Maßnahme für den Herbst“, sagt Ciesek, die das Institut für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt leitet, dem Tagesspiegel.

Die ernüchternde Bilanz der vergangenen Impf-Aktionswoche sei sehr bedauerlich. „Trotzdem zählt jede Impfung“, betont die Virologin. Zudem blieben niedrigschwellige Impfangebote und persönliche Gespräche auch in den nächsten Wochen wichtig.

Lauterbach, der selbst Impfarzt ist, vermisst in diesem Punkt die Entschlossenheit. Im Gespräch mit dem Tagesspiegel erklärt er unter Berufung auf seine praktischen Erfahrungen, dass reine Impfappelle seit einigen Wochen kaum noch bei den Zielgruppen verfingen. „Es gibt die Impfverweigerer und die Impfzögerer. Die letzte Gruppe erreicht man, indem man ihr die Sorgen nimmt“, so Lauterbach. „Ihnen muss etwas Neues mitgeteilt werden.“

Hierzu zählt er medizinische Aufklärung und nicht nur die Bereitstellung von Impfbussen und ähnlichen Angeboten. „Zusätzlich hätten die medizinischen Aspekte mehr im Vordergrund stehen müssen“, erklärt er zu Impfwoche.

Deutliche Kritik äußert Lauterbach zudem an der wissenschaftlichen Vorbereitung auf die bevorstehende pandemische Entwicklung „Es hätte längst Modellierungen für den bevorstehenden Herbst geben müssen.“ Diese seien technisch zweifelsohne möglich, sagt der Gesundheitspolitiker. Es bedürfe jedoch akribischer Analysen um sichere Modellierungen erstellen zu können.

Allerdings, so warnt Lauterbach, genügten hierzu nicht Blicke nach Israel oder Großbritannien, denn beide nutzen andere Impf-Intervalle als Deutschland. Demnach hat England, das eine zweite Dosis von Biontech nach sechs Wochen oder später verabreicht, seine Intervalle „klüger eingesetzt“ als Israel mit zunächst kürzeren Intervallen. Ungeachtet dessen bekräftigt Lauterbach: „Wir brauchen dringend verlässliche Modellierungen für Deutschland.“

Aufgrund der verschiedenen eingesetzten Impfstoffe variieren die Abstände zwischen der ersten und zweiten Impfung hierzulande zwischen drei und sechs Wochen bei mRNA-Vakzinen, bei einer Kombi-Impfung beträgt der Abstand vier Wochen, wie es in einer Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) heißt.

Niedrige Impfquote als Inzidenztreiber?

Insgesamt entwickelt sich die Pandemie derzeit regional uneinheitlich. Laut RKI-Wochenbericht stiegen die Werte in den Ost-Bundesländern während der ersten beiden Septemberwochen mitunter drastisch an, allen voran Sachsen und Thüringen mit jeweils 40-prozentigen Zuwächsen. Dies geht womöglich mit den Impfquoten einher, die im Osten niedriger sind als im Westen.

Allerdings gehört zur Wahrheit hinzu, dass die Fallaufkommen in den West-Ländern auf mitunter deutlich höheren Niveaus liegen – ausgenommen Berlin (81,1) auf der einen und Schleswig-Holstein (34,5) auf der anderen Seite.

Weitaus mehr als auf die Himmelsrichtung lohnt allerdings der Blick auf die Altersgruppen. Hier fällt auf, dass die Inzidenzwerte bei jüngeren Menschen am höchsten sind. „Momentan steigt die Inzidenz besonders bei Kindern und Jugendlichen“, heißt es im RKI-Wochenbericht. Zudem schreibt das RKI, dass die meisten hospitalisierten Fälle „weiterhin in der Altersgruppe der 35- bis 59-Jährigen übermittelt“ werden. Dahinter folgen demnach die Altersgruppe der 60- bis 79-Jährigen und die der 15- bis 34- Jährigen.

Deutlich bedenklicher sind die Erkenntnisse beim Blick auf die Todesopfer. Mittlerweile hat die Pandemie seit ihrem Beginn hierzulande unmittelbar mehr als 93.000 Menschen das Leben gekostet. Die Zahl der Covid-19-Toten steigt zwar nur langsam, aber weiterhin stetig. Seit Mitte August folgen die Todesfallzahlen einem Aufwärtstrend: Kamen vor einem Monat im Sieben-Tage-Mittel noch 15 neue Todesfälle hinzu, so sind es nun bereits 57 – der Wert liegt also um fast das Vierfache höher.

„Wir sind gut beraten, 2G deutlich zu erweitern“

Von einem Ende der vierten Welle zu sprechen, wäre also vermessen. Ob die Delta-Welle „fulminant“ wird, wie es RKI-Chef Wieler formulierte, vermag Lauterbach nicht zu bewerten. „Wie stark sich die Dynamik entwickelt, wird von der Impfwirkung bei den bereits Geimpften abhängen“, sagt er.

Hierbei komme es auch auf die Notwendigkeit, den Zeitpunkt und den Erfolg von Booster-Impfungen an. Darüber hinaus hänge die Entwicklung davon ab, ob sich neue Varianten wie My oder ganz andere Mutanten durchsetzen. „Das ist alles sehr unklar“, so Lauterbach. „Das Coronavirus ist noch nicht bekämpft.“

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Als Priorität im Kampf gegen die Pandemie benennt Lauterbach der Menschen ohne Immunisierung – aktuell sind das laut RKI 32,6 Prozent, also knapp ein Drittel der Bevölkerung. „Wir müssen die Ungeimpften schützen“, erklärt Lauterbach.

Deshalb favorisiert er das 2G-Modell als politische Leitlinie. „Wir sind gut beraten, die 2G-Möglichkeiten deutlich zu erweitern. Und ich bin mir sicher: Nach der Bundestagswahl werden mehr 2G-Optionen gezogen“, erklärt er.

Die mancherorts verlautbarte Kritik, wonach dies eine Impflicht durch die Hintertür sei, erwidert er Lauterbach mit dem Argument der Entscheidungsfreiheit: „Wenn sich Ungeimpfte doch für eine Impfung entscheiden, dann war es ihre freie Wahl.“

Derweil will die Virologin Ciesek keine allgemeine Aussage zu einer empfohlenen Pandemiepolitik machen, schließlich müsse dies lokal entschieden werden. „Je geringer die Impfquote ist, umso mehr sind wir auf Teststrategien angewiesen“, erklärt Ciesek allerdings.

Die beste Strategie bleibe indes die Impfung. Zwar komme es durch die Delta-Variante leider zu Impfdurchbrüchen. „Das heißt aber auf keinen Fall, dass die Impfung unwirksam ist“, betont Ciesek. Insbesondere die Wirksamkeit gegen schwere oder gar tödliche Verläufe sei immer noch sehr hoch. „Der Nutzen der Impfung ist sehr groß, auch viele Monate nach der Impfung“, wirbt sie mit Blick auf die anstehende kalte Jahreszeit mit erhöhtem Ansteckungsrisiko.

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