Warnung vor „explosiver Dynamik“ im Herbst: Corona-Modellierer fordern Teststrategie auch für Geimpfte
In der Pandemieabwehr fordern Berliner Forscher ein Umdenken. Sie plädieren für eine Ausweitung der Teststrategie und kritisieren das Ende kostenloser Tests.
Eine Forschungsgruppe aus Berlin hat mit Blick auf das beschleunigte Infektionsgeschehen in der Corona-Pandemie und die steigende Hospitalisierungs-Inzidenz eine weitreichende Teststrategie gefordert, die auch auf Geimpfte und Genesene abzielt. Zugleich stellt sie die künftige Bezahlpflicht von Antigen-Schnelltests in Frage.
„Eine wirksame Teststrategie für den Herbst 2021 muss die Geimpften/Genesenen mit einbeziehen, da diese, auch wenn sie nur selten schwere Verläufe zeigen, trotzdem an der Übertragung des Virus beteiligt sind“, heißt es im neuen Bericht der Gruppe an das Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Zu dem wissenschaftlichen Team unter Leitung des Mobilitätsforschers Kai Nagel von der Technischen Universität (TU) Berlin gehören unter anderen der Mathematiker Christof Schütte und der Informatiker Tim Conrad vom Zuse-Institut Berlin (ZIB).
Basierend auf einer früheren Modellierung, die eine vierte Welle für den Herbst und somit schnell ansteigende Krankenhauszahlen prognostiziert, simulierte die Gruppe verschiedene Teststrategien. Hierbei sollten Maßnahmen identifiziert werden, die eine Infektionsdynamik deutlich bremsen und „die kritische Situation“ abwenden können.
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In dem Bericht räumt die Gruppe ein, dass die Prognosen aus dem vorherigen Modell bereits früher als erwartet eingetreten seien. Dies sei der Delta-Variante geschuldet, heißt es in dem Bericht. Insbesondere durch Reiserückehrende sei die Mutation bereits Ende Juni in Deutschland dominant geworden und aufgrund der hohen Ansteckbarkeit dieser Variante habe „das exponentielle Wachstum“ früher eingesetzt als zuvor angenommen.
Anfang September war die Gesamtzahl der seit Beginn der Corona-Pandemie nachweislich mit dem Erreger Sars-CoV-2 infizierten Personen in Deutschland über die Marke von vier Millionen gestiegen. Laut den jüngsten Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom Sonntag infizieren sich im Schnitt täglich mehr als 10.000 Menschen mit dem Coronavirus.
Drei Maßnahmen zur Pandemieabwehr
Insgesamt benennen die Forscher drei Maßnahmen, die sie als hilfreich in der Pandemieabwehr erachten. Zunächst sind dies eine Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr und im Einzelhandel sowie eine 2G-Regel in Innenräumen mit hohen Personendichten. Als dritten Punkt fordern sie die Einbeziehung auch der Geimpften und Genesenen in eine Teststrategie mit regelmäßigen Schnelltests, wobei hier PCR-Tests eindeutig bevorzugt werden.
Der dritte Punkt ist das Kernelement der nun von der Gruppe veröffentlichten Überlegungen. Dass eine wirksame Teststrategie demnach auch auf die 2G-Gruppe abzielt, erklären die Modellierer damit, „weil auch Geimpfte/Genesene (GG) an der Übertragung des Virus beteiligt sind, dadurch eine explosive Dynamik entsteht, und alle dadurch ausgelösten schweren Verläufe, hauptsächlich bei den Nicht-Geimpften/Genesenen (NGG), nahezu gleichzeitig ins Krankenhaus müssen“.
Dieses Szenario nimmt an, „dass es unter bestimmten ungünstigen Umständen trotz Impfungen nochmals zu einer Überlastung der Krankenhäuser kommen wird“. Die Wissenschaftler räumen ein, dass dies spekulativ ist. Um frühzeitig einer solchen Situation vorzubeugen, empfehlen sie „insbesondere die Krankenhaus-Inzidenz sowie deren Belegungsquote konsequent zu beobachten und - wenn erforderlich - zeitnah Maßnahmen zu ergreifen“.
Jüngsten Angaben des RKI vom vergangenen Freitag zufolge liegt die Zahl der in Kliniken aufgenommenen Corona-Patienten je 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen bei 1,83 (Vortag: 1,74). Ein bundesweiter Schwellenwert, ab wann die Lage kritisch zu sehen ist, ist für die Hospitalisierungs-Inzidenz unter anderem wegen großer regionaler Unterschiede nicht vorgesehen.
Grundsätzlich kommen die Forscher nach Prüfung von vier verschiedenen Simulationen mit Beschränkungen für Ungeimpfte zu dem Schluss, dass mit Blick auf das kurzfristige Ziel einer wirksamen Pandemiebekämpfung kaum ein Weg an der Gruppe der Geimpften und Genesenen vorbeiführe. „Insgesamt führt keine von uns für machbar gehaltene Strategie zu einer deutlichen Absenkung des R-Wertes, solange die Strategie nur die Ungeimpften betrifft“, heißt es in dem Bericht. Dies gelte insbesondere bei schnell steigenden Infektionszahlen.
Den Simulationen nach könnte bei einem schnellen Anstieg der Krankenhauszahlen eine kurzfristige Absenkung des R-Wertes um bis zu 0,8 notwendig sein – eine kurzfristig kaum zu stemmende Herausforderung.
Deshalb untersuchte die Forschungsgruppe noch drei weitere Einschränkungsmaßnahmen, deren zentraler Punkt eine Teststrategie unter Einbezug der 2G-Gruppe ist. Hierzu konstatiert das Team, dass solch weitreichende Strategien potenziell vielversprechend sind. Als „weitreichend“ definieren die Modellierer den Einsatz von „PCR-Tests statt Antigen-Tests sowie eine Frequenz von 2-3 Tests pro (mobilem) Einwohner pro Woche“. Einschränkungen für Ungeimpfte, insbesondere im Freizeitbereich, setzen die Forscher bei ihren Überlegungen stets voraus.
Kritik an Abschaffung kostenloser Tests
Mit Blick auf diese Forschungsergebnisse stellt die Expertengruppe kritisch die Frage, „ob es genau in der jetzigen Phase der Pandemie zielführend ist, die Antigen-Schnelltests kostenpflichtig zu machen“. Anfang August hatten sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder darauf verständigt, die kostenlosen Corona Tests zum 11. Oktober abzuschaffen.
Stattdessen plädieren die Modellierer dafür, die aktuelle Teststrategie beizubehalten und Geimpfte und Genesene zu Tests vor Aktivitäten mit hoher Personendichte in Innenräumen zu animieren. Abschließend wünschen sie sich „optimalerweise sogar die Aufnahme der genaueren PCR-Tests in den Katalog derjenigen Tests, die auch ohne Anlass kostenfrei in Anspruch genommen werden können“.
Um herauszufinden, welche pandemiebedingten Einschränkungen angemessen und möglichst wenig belastend sind, verglichen die Wissenschaftler die deutsche Infektionslagen mit denen aus anderen EU-Staaten. Dort habe es „einen sehr ähnlichen Anstieg der Fallzahlen ab Anfang Juli“ gegeben. Allerdings habe im Gegensatz zu Deutschland „in vielen dieser Länder, z.B. Griechenland, den Niederlanden oder Spanien dieser Trend aber mittlerweile wieder gestoppt“ werden können – durch Beschränkungen oder aber auch steigende Impfzahlen, wie in Frankreich nach Einführung des Gesundheitspasses.