„Menschen haben den Lockdown vorweggenommen“: Die überraschenden Erkenntnisse eines Mobilitätsforschers zu den Corona-Regeln
Der Berliner Wissenschaftler Kai Nagel erklärt im Interview, welche Maßnahmen Infektionen deutlich reduzieren können – und kritisiert Politik und RKI.
Kai Nagel ist Leiter des Fachgebiets Verkehrssystemplanung und Verkehrstelematik an der TU Berlin. Mithilfe eines Simulationsmodells, das auch reale Mobilfunkdaten nutzt, geht er der Frage nach, wie sich das Coronavirus in Schulen, am Arbeitsplatz und auf Reisen verbreitet.
Herr Nagel, welche konkreten Erkenntnisse haben Sie über die Wirkung von Corona-Maßnahmen gewonnen?
Das hängt von den Phasen ab. Im Moment haben wir in gewisser Weise eine Panikphase. Generell hilft ein starkes Ausdünnen der Kontakte fast genauso gut wie vollständige Schließung: Wechselunterricht in Schulen oder nur die Hälfte der Gäste in Restaurants, wenn diese überhaupt öffnen dürfen. Und Maske tragen. Das heißt: die Menge der Leute reduzieren und die Menge an Virus, die sie einatmen können. Ersteres hat im Frühjahr ganz gut funktioniert.
Wie haben sich die Menschen im Lockdown im Frühjahr, beim Lockdown light im Herbst und jetzt bei den Verschärfungen verhalten?
Im Frühjahr haben die Menschen den Lockdown praktisch vorweggenommen. Sie haben die Menge ihrer Aktivitäten außer Haus um 40 Prozent reduziert, noch bevor die Regierung das angeordnet hat. Und später war die Bevölkerung schon längst wieder mehr unterwegs, bevor die Regierung die Lockerungen beschlossen hat.
Das ist nur deshalb gut gegangen, weil der Sommer begann und viele Aktivitäten nach draußen verlagert wurden. Auch den Lockdown light im November haben die Menschen vorweggenommen.
In den Schulferien im Oktober sind Schüler und Eltern mehr zu Hause geblieben, und auch danach sind sie nicht zu dem Aktivitätsniveau aus dem September zurückgekehrt. Im Dezember war es zum ersten Mal umgekehrt: Die Maßnahmen griffen ab Mitte Dezember, und davor gab es hektische Betriebsamkeit. Danach ging es dann aber dramatisch nach unten. Um Weihnachten herum waren wir wieder auf dem niedrigen Niveau des Frühjahrs.
Das heißt, dass wir im Moment so schlechte Zahlen bei den Infektionen und Todesfällen haben, ist eine nachlaufende Entwicklung?
Den Infektionszahlen würde ich im Moment nicht trauen, weil sie durch die Feiertage stark verzerrt sind. Die Todesfälle laufen dem Infektionsgeschehen vier bis sechs Wochen hinterher. Interessant sind die Zahlen der Krankenhausbelegung. Da sieht man – bei aller Vorsicht –, dass die Zahlen seit 30. Dezember nicht mehr weiter steigen. Das passt zu der Einschränkung der Mobilität ab 15. Dezember.
Aber wie ordnen Sie dann den jüngsten Run auf die Ski- und Rodelpisten ein?
Schwierige Frage. Wenn die Leute Abstand halten würden, wäre Bewegung an der frischen Luft ja gesund. Aber Seilbahnen und Warteschlangen am Lift sind ein Problem.
Wie genau erstellen Sie ihre Verkehrssimulationsmodelle?
Ursprünglich komme ich aus der statistischen Physik. Da haben wir uns angeschaut, wie zum Beispiel Moleküle oder Billardkugeln zusammenwirken. Von dort bin ich in die Mobilitätsforschung gewechselt und habe die Moleküle durch Personen ersetzt. Wir schauen uns Systeme mit vielen Menschen an, Städte oder Verkehr. Wir bauen für synthetische Personen Bewegungsmodelle. Als die Pandemie ausbrach, haben wir an diese Personen Modelle für die Ausbreitung des Virus drangehängt. Dazu konnten wir Mobilfunkdaten nutzen und deshalb schnell starten.
Wann hatten Sie die ersten Ergebnisse?
Von der Idee bis zum ersten Modell haben wir zwei Wochen gebraucht. Mitte März 2020 hatten wir die ersten Vorhersagen. Durch eine Förderung des Bundesforschungsministeriums kam das Konsortium mit der HU und der FU Berlin beziehungsweise dem Zuse-Institut zustande. So erhielten wir Unterstützung in den Bereichen Biologie, Mathematik und Großrechner.
Sie bilden Menschen als Agenten ab. Haben Sie also für Berlin 3,7 Millionen Agenten?
Ja. Im Prinzip könnten wir die Bewegungsprofile von echten Menschen verwenden. In der Realität ist das aber wegen des Datenschutzes nicht möglich. Deshalb nehmen wir synthetische Bewegungsprofile. Wenn man diese hochaggregiert, sehen sie genauso aus wie die echten: Die Anzahl stimmt, die Altersstruktur stimmt, wie oft die Menschen einkaufen oder zur Schule gehen, ob sie das in Berlin-Mitte oder in einem Randbezirk tun. Es sind Avatare, die morgens aufstehen, mit dem Auto zur Arbeit fahren und mittags zu Fuß zum Supermarkt gehen, um sich etwas zu essen zu kaufen.
Und wenn im Frühjahr oder auch jetzt ein Lockdown verhängt wird, können Sie das abbilden?
Ja, und zwar täglich. Anhand der Mobilfunkdaten sehen wir sofort, wenn die Aktivität sinkt, und bauen das in unser Modell ein. Wenn im Extremfall alle zu Hause bleiben würden, würde das Virus nicht mehr weitergegeben – zumindest nicht außerhalb des eigenen Haushalts.
Wie sollte es mit Schulen und Kitas weitergehen?
Wenn die Schulkinder wirksame Masken tragen und jeweils nur jeden zweiten Tag in die Schule kommen würden, wäre ihr Anteil an den Infektionen so gering, dass er keine Rolle mehr spielen würde. Von Kindergartenkindern zu verlangen, eine Maske zu tragen, ist allerdings wohl unrealistisch.
In der Grundschule ist das auch schwierig. Man muss sich herantasten, ohne dass die Infektionszahlen explodieren. Bei den älteren Kindern hätte man schon im Herbst den Mund-Nasen-Schutz auch während des Unterrichtes vorschreiben sollen.
Sollten wir Arbeitswege durch mehr Homeoffice reduzieren?
Wenn man die derzeit für wahrscheinlich gehaltenen Ausbreitungsmodelle des Virus, nämlich durch Aerosole, zugrunde legt, dann muss man vermuten, dass Plexiglas-Abtrennungen zwischen den Arbeitsplätzen kaum wirken. Deshalb sollten Masken getragen werden, sobald mehr als eine Person im Raum ist.
Durch Einzelbüros, Masken oder Homeoffice hat man genug Flexibilität, um ein sicheres Arbeiten zu gewährleisten. Ohne Maske eng im Büro zu sitzen, ist keine Option, unseres Erachtens auch nicht mit Abtrennungen zwischen den Arbeitsplätzen.
Die Kanzlerin und die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten haben jetzt einen Radius von 15 Kilometern um Hotspots beschlossen. Ist das sinnvoll?
Generell schon. Auch wenn jetzt diskutiert wird, wie das kontrolliert werden kann. Aber wir wissen, dass Menschen aus Gebieten mit hoher Inzidenz das Virus in Gebiete mit niedriger Inzidenz bringen. Das haben wir ganz massiv im Frühjahr bei den Rückkehrern aus dem Skiurlaub gesehen. Deshalb sollten Reisen zwischen Gebieten mit unterschiedlichen Inzidenzen möglichst unterbleiben. Und der Inzidenz-Grenzwert für Hotspots sollte nicht 200 betragen, sondern deutlich weniger.
Welche Verkehrsmittel halten Sie für gefährlich?
Unproblematisch sind natürlich Fahrradfahren, Laufen und mit Haushaltsangehörigen im Auto fahren. Beim öffentlichen Verkehr ist der Befund nicht eindeutig. Solange die Menschen gute Masken tragen, ist die Ansteckungsgefahr nicht hoch. Das erscheint nicht plausibel, weil die Fahrgäste oft eng aufeinander hocken.
Aber das Gute ist: Sie schreien nicht wie in der Bar, sondern sind still. Und die meisten öffentlichen Verkehrsmittel haben relativ moderne Belüftungssysteme. Insgesamt führt das in unserem Modell zu niedrigen Ansteckungsraten im öffentlichen Verkehr. Aber es gibt, auch bei uns im Projekt, andere Meinungen.
Über Weihnachten sind einige Deutsche zum Beispiel nach Südafrika geflogen. Wäre in Zukunft eine Impfpflicht im Flugzeug richtig?
Im Flugzeug ist die Belüftung ähnlich gut wie im Fernzug. Es gibt ein Ansteckungsrisiko, aber das wird auf ein Zehntel reduziert, wenn die Passagiere gute und neue Masken tragen. Durch eine Impfung wäre die Unterdrückung des Virus ähnlich stark.
Wenn man auf der absolut sicheren Seite sein will, müsste man fordern: Maske plus Impfung. Wenn man eine Risikoabwägung machen will, könnte man vielleicht auch sagen: Maske oder Impfung. Im Fall von Südafrika sehe ich das größere Problem darin, dass sich die Touristen vor Ort wieder einem Infektionsrisiko aussetzen. Dort sitzen sie zusammen in einer Lodge. Wie soll man das überwachen?
Das heißt, die Übertragung des Virus zwischen Heimat- und Zielland ist das größere Problem als die Ansteckung im Flugzeug selbst?
Laut unseren Modellen ja. Wenn ich im Urlaub in Bars gehe, ist mein Risiko dort wesentlich höher, als wenn ich mit Maske im Flugzeug sitze. Die hereingetragenen Infektionen kommen aus Gebieten mit hohen Inzidenzen.
Zum Beispiel aus Südafrika mit dem mutierten Virus?
Die Mutation könnte tatsächlich ein Problem werden. Wir simulieren gerade, was schneller greift: das mutierte Virus auf der einen Seite oder der Sommer und die Impfungen auf der anderen Seite. Es hängt davon ab, wann und in welcher Menge die Mutation nach Deutschland eingetragen wurde.
Bis jetzt sind wir davon ausgegangen, dass wir schlimmstenfalls auf dem jetzigen Infektionsniveau in den Sommer kommen und dann auch die Impfungen greifen. Wenn das mutierte Virus tatsächlich deutlich ansteckender ist, wird es schwierig; dann reichen die derzeitigen Mobilitätseinschränkungen ziemlich sicher nicht mehr aus, um eine Explosion der Fallzahlen zu verhindern.
Wenn wir Corona irgendwann doch besiegt haben – welche Lehren sollten wir aus der Pandemie ziehen?
Bezogen auf das Umfeld unserer Arbeit: Wir brauchen unbedingt bessere Daten. Das Robert Koch-Institut muss taggen, welche Fallzahlen mit welcher Methode erhoben wurden. Die Teststrategie zum Beispiel bei Reiserückkehrern wurde immer mal wieder geändert.
Das macht die Zeitreihe kaputt, sodass wir keine passenden Modelle entwickeln können. Sinnvoll wären auch systematischere Überwachungsregime, wo seitens der Labore Befunde systematisch zusammengetragen werden, auch hier mit Angabe des Anlasses für den Test sowie optimalerweise demografischen Daten. Teilweise findet das ja bereits statt, und wir verwenden es auch, aber es wäre noch mehr möglich.
Und welche Lehren sollte die Politik ziehen?
Die Politik sollte Wenn-dann-Kataloge entwickeln: Wenn die Inzidenz größer als 50 ist, ergreifen wir folgende vorher festgelegte Maßnahmen etc. Der jetzige Zustand ist unbefriedigend: Viele Wissenschaftler haben vorhergesagt, dass die Krankenhäuser volllaufen werden. Aber es musste erst passieren, bevor es auch geglaubt wurde.
Wenn wir auf den Verkehr schauen: Soll jeder nur noch allein im Auto sitzen?
Da sind auch wir Wissenschaftler unsicher. Generell würde ich sagen, dass es gut wäre, wenn unser Verkehrssystem flexibler würde. Da ist der sogenannte Bedienverkehr wie der Berlkönig sehr hilfreich. Diese Fahrzeuge kann man umwidmen, um zum Beispiel Krankenhauspersonal zur Arbeit und wieder nach Hause zu bringen. Wenn diese Fahrzeuge erstmal autonom fahren, könnte man sie leichter auf den Einzelpersonenbetrieb in einer Pandemie umstellen, mit automatischer Desinfektion zwischen den Fahrten.
Große Busse sind da weniger flexibel. Aber auch sie haben sich – wie U-Bahn und Fernbahn – in der Pandemie nicht schlecht geschlagen. Wenn sie alle eine gute Lüftung haben und nur mit der halben Auslastung fahren, ist das Ansteckungsrisiko unseres Erachtens beherrschbar. Neu beschaffte Fahrzeuge sollten unbedingt gute Lüftungssysteme haben.
Beim Radfahren ist das Infektionsrisiko fast null. Wie sollte man dieses Verkehrsmittel fördern?
Ich war schon vor Corona dafür, den Straßenraum entsprechend der Nutzung zu verteilen. In der Berliner Innenstadt hat der Radverkehr schon heute vielerorts einen Anteil von 25 Prozent. Wenn es das politische Ziel ist, den Autoverkehr zu verringern, wird es laut unseren Modellen nicht ohne Push-Maßnahmen gehen. Allein durch eine Verbesserung der Alternativen wird der Autoanteil nicht deutlich genug sinken.
Was könnten diese Push-Maßnahmen sein? Eine City-Maut oder höhere Parkgebühren?
Eine City-Maut ist relativ schwierig zu erheben, insbesondere, wenn sie zielgenau sein soll. Höhere Parkgebühren sind sehr wirksam. Aber es gibt noch andere Ideen: zum Beispiel die sogenannten Superblocks wie in Barcelona. In diesen Blocks darf man gar nicht mehr parken. Das bedeutet, man muss erstmal zehn Minuten bis zum Auto laufen. In der Zeit kann man auch den Bus nehmen oder gleich vor der Haustür aufs Rad steigen
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