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Bakterien der Art Mycobacterium tuberculosis rufen bei Menschen Tuberkulose hervor.
© NIAID

Im Schatten der Pandemie: Die Tuberkulose breitet sich rasant auf der Welt aus

Die Bekämpfung von Covid-19 ist wichtig. Aber darüber dürfen die anderen großen Seuchen nicht vergessen werden, fordert unser Gastautor.

Ein ansteckender Erreger geht um die Welt. Er springt per Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch und befällt meist die Lunge. Zehn Millionen Menschen stecken sich jedes Jahr an. 1,4 Millionen Betroffene sterben.

Die Rede ist nicht von Covid-19, sondern von Tuberkulose. Bis vor Kurzem war die „weiße Pest“ die tödlichste Seuche der Welt. Aktuell hat das Coronavirus ihr diesen Rang abgelaufen. Doch während seit einem Jahr alle Aufmerksamkeit und Ressourcen auf die Pandemie gerichtet sind, greift die alte Seuche gefährlich um sich.

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Dabei sieht es auf den ersten Blick zunächst nach dem Gegenteil aus: Im ersten Halbjahr 2020 verzeichnete ein Großteil der besonders von Tuberkulose betroffenen Länder einen erheblichen Rückgang der Fallzahlen. Indien, die Philippinen, Indonesien und Südafrika meldeten in den ersten Monaten des vergangenen Jahres zwischen 60 und 75 Prozent weniger Neuinfektionen als im Vergleichszeitraum 2019.

Die Jahres-Statistik der Tuberkulosetoten für 2020 dürfte im Vergleich zum Vorjahr einen Rückgang um ein Drittel ausweisen. Doch die Daten trügen.

In der Pandemie ist in vielen Ländern das Meldesystems für Tuberkulose zusammengebrochen. Labore haben ihre ganze Kapazität auf die Diagnostik von Covid-19 ausgerichtet. Kliniken waren und sind überfüllt oder werden aus Angst vor Ansteckung mit dem neuen Virus gemieden. Personal, das die oft langfristige Tuberkulose-Therapie begleitet und überwacht hat, ist nun gegen Covid im Einsatz.

Der Nachschub an dringend benötigten Tuberkulose-Medikamenten war unterbrochen. Und Kranken, die längere Wege zurücklegen müssen, um Diagnosen, Medikamente oder Behandlung zu erhalten, hat die Pandemie mit ihren Reisebeschränkungen oft schlicht den Weg abgeschnitten. All dies hat dazu geführt, dass sich die Tuberkulose jenseits der Statistik 2020 rasant ausbreiten konnte.

Stefan H.E. Kaufmann ist Emeritus-Direktor am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin.
Stefan H.E. Kaufmann ist Emeritus-Direktor am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin.
© Jonas Steengard/MPI Infektionsbiologie

Wie gravierend die Lage ist, dazu gibt es nur Schätzungen. Klar ist: Während Lockdowns nach einigen Wochen oder Monaten enden, wirken sie in Bezug auf andere Seuchen langfristig nach. Einer Modellierung der Initiative Stop TB Partnership zufolge hätte ein dreimonatiger weltweiter Lockdown gefolgt von einer zehnmonatigen Phase des langsamen Wiederhochfahrens 6,3 Millionen zusätzliche Tuberkulose-Infektionen zur Folge – verteilt auf fünf Jahre.

Außerdem kämen in dieser Zeit 1,4 Millionen Tuberkulose-Tote hinzu. Träfe dies ein, würden die realen Tuberkulose-Zahlen 2021 auf ein Niveau steigen, das wir zuletzt 2013 bzw. 2016 gesehen haben. Ähnlich prekär sind die Prognosen für HIV/Aids und Malaria.

Für die Pandemie stehen die Chancen gut, dass Impfungen erheblich dazu beitragen werden, Covid-19 zurückzudrängen. In westlichen Ländern könnte dies bereits im Verlauf dieses Jahres gelingen. Für den globalen Süden jedoch gilt das nicht: Schon jetzt ist absehbar, dass 2021 in den armen Ländern nur ein kleiner Teil der Bevölkerung eine Impfung erhalten wird. Weil dort aber auch die anderen großen Seuchen wüten, wird sich das Versagen der Weltgemeinschaft, die Impfstoffe gerecht zu verteilen, in diesen Ländern doppelt negativ auswirken.

Noch ist es möglich, die Erfolge der vergangenen Jahre in der Tuberkulosebekämpfung wieder zurückzugewinnen. Aber dafür muss der Kampf gegen diese Seuche jetzt massiv aufgestockt werden.

Zentral ist es, dass die Hunderttausenden unerkannt Infizierten schnell identifiziert werden. Was es dafür braucht, wissen wir aus der Covid-Pandemie genau: einen erheblichen Ausbau der Tuberkulose-Diagnostik, eine intensive Nachverfolgung der Kontakte und aktive Aufklärungskampagnen in den Kommunen. Überdies müssen alle Infizierten kontinuierlich und den Standards entsprechend behandelt werden. Und parallel braucht es erhebliche Investitionen in neue Medikamente und in TB-Impfstoffe.

Obwohl wir es bei der Tuberkulose mit einem sehr viel trickreicheren Erreger zu tun haben, gibt es Anlass zur Hoffnung. Seit Anfang dieses Jahrtausends wird intensiv an neuen Vakzinen geforscht, aktuell befinden sich einige in der letzten Phase der klinischen Überprüfung.

Es könnte gelingen, dass wir auch diese Seuche in absehbarer Zeit in den Griff bekommen. Allerdings nur, wenn ausreichend Gelder dafür bereitgestellt werden. Wie schlagkräftig Forschung und Entwicklung sein können, wenn die Finanzierung gesichert ist und Ressourcen gebündelt werden, hat die Corona-Pandemie eindrücklich gezeigt. Es wäre wichtig, dass die Weltgemeinschaft bei allem verständlichen Fokus auf Covid-19 die anderen Seuchen wieder mit in den Blick nimmt.

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