App- statt Apparate-Medizin: Die schöne, neue Handy-Medizin
Längst messen Smartphones Blutdruck und Puls und überwachen Trainings- und Diätpläne. Doch aus den Nutzungsdaten können Ärzte noch viel mehr über die Gesundheit ihrer Patienten erfahren.
„An apple a day keeps the doctor away.“ Das alte englische Sprichwort („Ein Apfel am Tag hält den Doktor fern“) hat eine neue Bedeutung, seit die Firma Apple neben dem neuen iPhone auch die „Apple-Watch“ verkauft. Diese Uhr misst mit Sensoren den Puls ihres Trägers und kann seine Schritte zählen. Ans iPhone gesendet, informiert dann eine „Fitness-App“, ein Programm, über den Gesundheitszustand des Besitzers und hält ihn über die täglichen Anstrengungen für ein gesundes Leben auf dem Laufenden.
Ob eHealth oder mHealth - elektronische oder mobile Gesundheit ist ein boomender Markt. „Technisch reißen einen die meisten neuen Anwendungen eigentlich nicht vom Stuhl, doch die Rechenleistung der Smartphones ist beachtlich, der Speicherplatz ist da“, urteilt der Elektrotechnik- und Informatikprofessor Thomas Norgall vom Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen in Erlangen, stellvertretender Sprecher der Fraunhofer-Allianz Ambiant Assisted Living (AAL).
Fieber messen mit dem Handy
So kann man unterwegs auf der „UV-Check“-App nachgucken, welchen Lichtschutzfaktor man heute auftragen sollte. Mit der App „Foodwiz“ können Lebensmittelallergiker und Zöliakie-Patienten im Supermarkt anhand des eingescannten Barcodes überprüfen, ob sie ein bestimmtes Produkt essen dürfen. „CardioDock“ ist ein Messmodul mit aufblasbarer Manschette, das sich einfach mit dem Smartphone verbinden lässt, um die Blutdruckwerte anzuzeigen und zu speichern, „MediClim“ bietet medizinisch relevante Wettervorhersagen, der Polleninformationsdienst hat auf der Basis der Werte aus Pollenfallen eine App für Heuschnupfengeplagte entwickelt, die dem Nutzer aktuelle Werte für seinen aktuellen Standort durchgibt. Und ThermoDoc ist ein Infrarotthermometer für das iPhone, das nicht nur Fieber, sondern bei Bedarf auch die Temperatur von Badewasser oder Rotwein misst.
Vieles davon klingt noch wie technische Spielerei. Informatiker Norgall findet es trotzdem wichtig, über einige Fragen schon heute nachzudenken. „Ich fände es zum Beispiel bedenklich, wenn das regelmäßige Ermitteln bestimmter Gesundheits- und Fitnesswerte zur sozialen Norm erhoben würde, wenn etwa Firmen das in Zukunft von Arbeitnehmern erwarten würden.“
Je medizinischer und fachlicher eine Anwendung sei, desto wichtiger sei zudem Qualitätskontrolle, also beispielsweise eine Zertifizierung der App als Medizinprodukt und eine realistische Einschätzung ihrer Grenzen: „Problematisch sind Sehtests auf dem Handy, die den Besuch beim Augenarzt oder Optiker nicht ersetzen können.“
Bessere Gesundheitsversorgung in der Provinz
Die meisten der über fünf Milliarden Mobiltelefone werden heute allerdings in Regionen genutzt, die medizinisch nicht so gut versorgt sind wie die reichsten Industrienationen. Die mHealth-Allianz, an der sich auch die Vereinten Nationen beteiligen, verfolgt deshalb das erklärte Ziel, mit mobilen Technologien die Gesundheit von Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern zu verbessern. Ein neues Beispiel für die Chancen ist die App „Momconnect“, die die Regierung in Südafrika vor wenigen Wochen lancierte. Sie liefert Informationen für Schwangere und erinnert an Vorsorgetermine.
Die Übergänge zur Telemedizin, bei der es immer um Kontakte zwischen Ärzten und Patienten geht, sind hier fließend. Im Projekt „Gesundheitsregion der Zukunft Nordbrandenburg Fontane“ wird Telemedizin auch hierzulande in einer strukturschwachen Region eingesetzt: Im Rahmen der Studie „TIM-II“ (Telemedical Interventional Management in Heart Failure) werden seit letztem Herbst 1500 Patienten mit chronischer Herzschwäche entweder mit einer Kombination aus direkten Arztkontakten und Telemedizin oder ganz herkömmlich nur vom Arzt behandelt. Die Teilnehmer der Telemonitoring-Gruppe schicken täglich Blutdruckwerte, Gewicht und EKG an die Charité. Wenn der Verdacht aufkommt, dass etwas nicht stimmt, greift ein abgestuftes Notfallsystem – das kann von der Aufforderung, noch mal zu messen, bis zum Einsatz des Notfallhubschraubers gehen. Erhoffter Nutzen des Projekts, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, dem Land Brandenburg, der AOK Nordost und der Barmer GEK unterstützt wird: weniger Krankenhauseinweisungen, bessere Lebensqualität, weniger Todesfälle, damit auch eine dünn besiedelte Gegend der der Großstadt nicht nachsteht.
"Entscheidend ist der klinische Nutzen"
Friedrich Köhler kann sich für Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes auch eine Mischung aus Apps und individuellen Monitoring-Programmen vorstellen. Köhler leitet das Zentrum für Kardiovaskuläre Telemedizin der Charité, an dem die Studie läuft. Dass das Smartphone Menschen hilft, die dem Risikofaktor Übergewicht zu Leibe rücken wollen, findet er sehr sinnvoll – ob es nun bei der Ernährung berät, zur Bewegung motiviert oder an die Einnahme der Medikamente erinnert. „Entscheidend ist der klinische Nutzen, nicht der technische Fortschritt, den ein Programm beinhaltet.“
Klinischen Nutzen für dessen Benutzer verspricht auch ein Blick auf das Smartphone selbst. An der Universität Bonn wird versucht, Schwere und Verlauf einer Depression anhand der Handy-Nutzung der Betroffenen zu erkennen. „Wir glauben, dass wir diese Datenquelle nutzen können, die ausgesprochen feinmaschig Einblick in das Krankheitsbild zulässt“, sagt Christian Montag von der Abteilung für Differentielle und Biologische Psychologie. Er entwickelt das Projekt gemeinsam mit dem Informatiker Alexander Markowetz und dem Psychiater Thomas Schläpfer. So lässt sich der soziale Rückzug bei einer Person mit einem einst großen Netzwerk an Kontakten an abnehmenden „WhatsApp“-Botschaften, der Zunahme an negativ gefärbtem Vokabular in den Kurznachrichten und an einem GPS-Signal erkennen, das sich nicht mehr vom Fleck bewegt. Denn depressive Menschen bleiben eher zu Hause und melden sich nicht mehr so oft bei seinen Freunden. Dem Informatiker Markowetz ist bewusst, dass hier persönliche Daten gesammelt werden. „Das ist aber kein Grund, auf etwas zu verzichten, womit Patienten geholfen werden kann."
App misst Handyabhängigkeit
Montag bedauert, dass die empirische Basis auf dem Gebiet der Psycho-Informatik derzeit noch gering ist. „Das Phänomen Smartphone ist noch viel zu neu, und Wissenschaft braucht Zeit.“ Erste Ergebnisse gibt es immerhin zur App „Menthal“, die die Bonner Wissenschaftler für das Betriebssystem Android entwickelt haben. Sie liefert Informationen über Art und Dauer der persönlichen Handy-Nutzung. Eine Pilotstudie mit knapp 50 Probanden zeigte, dass die jungen Versuchspersonen 80 Mal am Tag ihr Mobiltelefon nutzten. Alle zwölf Minuten schauten sie dort etwas nach, meist in sozialen Netzwerken. Ein Blick auf die klassische Nutzungsart des Handys gab indes am meisten Aufschluss über ein zentrales Persönlichkeitsmerkmal: Am extrovertiertesten waren – wenig erstaunlich – die Probanden, die die meisten ausgehenden Telefongespräche auf der Liste hatten.
Die App „Menthal“ wurde allerdings nicht nur zu Forschungszwecken entwickelt. Sie soll Nutzern weiterhelfen, die den Verdacht haben, allzu sehr an ihrem Gerät zu kleben. „Es ist extrem schwierig, das eigene Smartphone-Verhalten richtig einzuschätzen, denn das ist angelerntes Verhalten und läuft unbewusst ab“, erklärt Psychologe Montag. „Wer eine digitale Diät machen will, hat mit dieser App eine Waage dafür in der Hand“, ergänzt Informatiker Markowetz. Sie wurde schon mehr als 100 000 Mal heruntergeladen.
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