Selftracking: Die Vermessung des Menschen
Selftracker dokumentieren ihr Leben mit moderner Technik bis ins Detail. Die Unternehmen hoffen auf einen großen Markt.
Es begann mit einem guten Vorsatz. Florian Schumacher wollte mehr Sport treiben, fand aber stets eine neue Ausrede, es nicht zu tun. Um sich zu motivieren, begann er akribisch zu notieren, wie viel Zeit er im Fitnessstudio verbrachte. Seine Erfolge und Misserfolge in Zahlen auszudrücken, motivierte ihn – und war der Einstieg in die Selbstvermessung.
Heute gibt es kaum einen Lebensbereich, den der 33-Jährige nicht überwacht und in Zahlen erfasst. Um seinen Hals baumelt eine Kette mit einem kleinen schwarzen Gerät als Anhänger. Es zählt, wie viel Schritte Schumacher am Tag zurücklegt. Sein Gewicht kontrolliert er mit einer Waage, die die Daten automatisch an seinen PC überträgt. Über eine App auf dem Smartphone überwacht er, wann er wie viel Kalorien zu sich nimmt. Und auf seinem Computer hat Schumacher ein Programm installiert, das aufzeichnet, wie viel Zeit er damit verbringt, Emails zu schreiben oder im Internet zu surfen. „Das hilft bei der Selbstreflexion“, sagt er.
Schumacher gehört zu den sogenannten Selftrackern: Menschen, die mit moderner Technik möglichst viele Daten über sich selbst sammeln. Der Trend kommt aus den USA, wo er sich unter dem Begriff „Quantified Self“ – das quantifizierte Selbst – verbreitet hat. Mittlerweile organisieren sich auch in Deutschland immer mehr Anhänger. Allein die Berliner Quantified-Self-Gruppe zählt mehr als 600 Mitglieder. Alle paar Wochen kommen sie zum „Show and Tell“ zusammen: An diesen Abenden stellen sie vor, welche Technik sie gerade nutzen, um Daten über sich zu erfassen, und welche Erfahrungen sie damit gemacht haben.
Einige wollen die Gesundheit verbessern, andere den Tag organisieren
Die Motivation der Selbstvermesser ist verschieden. Die einen wollen ihre Gesundheit verbessern und notieren regelmäßig Gewicht, Puls, Blutdruck und Cholesterinwerte. Die anderen wollen ihr Zeitmanagement perfektionieren und überwachen deshalb bis ins Detail ihren Tagesablauf. Wieder andere wollen ihr Leben protokollieren und erfassen zum Beispiel ihren Schlafrhythmus oder wann sie gut und wann schlecht gelaunt sind. Die meisten nutzen dafür Apps auf ihrem Smartphone. Andere tragen sie in lange Exceltabellen ein. „Dahinter steht die Neugierde, sich selbst besser zu verstehen“, sagt Roland Gaber. Der 29-Jährige hat das Selftracking während des Studiums in den USA kennengelernt. Heute gehört er zu den Organisatoren der Berliner Quantified-Self-Gruppe. Wie die meisten Selftracker trägt er ein Aktivitätsarmband am Handgelenk. Es misst, wie viele Schritte er am Tag zurücklegt und wie lange er schläft.
Was als Hobby einiger Technikbegeisteter begann, entwickelt sich derzeit zum Massenphänomen. Immer mehr Anbieter bringen Geräte oder SmartphoneApps auf den Markt, mit denen Nutzer auf spielerische Weise Daten über sich erfassen können. „Der Markt für solche Produkte wächst“, sagt Timm Hoffmann vom Hightech-Verband Bitkom.
Besonders beliebt sind Fitness-Apps
Besonders beliebt sind Fitness-Apps. Bereits jetzt hat gut die Hälfte der Deutschen beim Sport ein Smartphone dabei. Das Smartphone wird mittlerweile fast ebenso viel für Anwendungen genutzt, mit denen man die sportliche Leistung oder Vitaldaten prüfen kann, wie damit Musik zu hören, hat eine Studie des Bitkom ergeben. Zu den ersten Anbietern auf dem Markt gehörten vier Österreicher, die 2009 die App Runtastic rausbrachten. Mit der können Jogger ihre Rennstrecke aufzeichnen, Kilometer zählen und erfassen, wie das Wetter ist und wie gut sie sich beim Laufen fühlen. Bis heute ist die App 70 Millionen mal heruntergeladen worden. Die Beratungsfirma Pricewaterhouse-Coopers schätzt, dass Anbieter mit solchen Apps 2017 weltweit bereits mehr als 23 Milliarden Dollar umsetzen werden.
Das ist erst der Anfang. Immer mehr Menschen legen sich ein Fitness-Armband zu. Es registriert die Armbewegungen und schließt daraus auf die Anzahl der Schritte, die der Nutzer am Tag zurücklegt. Wer will, kann es so programmieren, dass es vibriert, wenn abends eine gewisse Zahl an Schritten noch nicht erreicht wurde. Schaltet man es auf den Nachtmodus um, dokumentiert es Einschlafzeit, Schlafdauer und Wachphasen.
Marktforscher: 2017 werden weltweit 45 Millionen Fitness-Armbänder verkauft
Das Marktforschungsinstitut Canalys prognostiziert, dass in diesem Jahr weltweit acht Millionen dieser Armbänder verkauft werden. 2017 sollen es bereits 45 Millionen sein. Das lockt große Konzerne. Der US-Chiphersteller Intel hat gerade eine Firma übernommen, die solche Fitness-Armbänder herstellt. Auch Samsung, Sony und LG sind in dem Markt unterwegs. Apple soll derzeit an einer intelligenten Armbanduhr basteln, mit der die Nutzer ihren Schlaf analysieren oder ihren Blutdruck messen können.
Das Ganze werde sich noch weiterentwickeln, sagt Bitkom-Referent Hoffmann. Künftig könnten Sensoren in Sportgeräte eingebaut werden. Per App könnten die Nutzer dann erfassen, wie viele Bälle sie beim Tennis schlagen oder wie oft sie hintereinander die Hanteln in die Höhe stemmen.
Verbraucherschützer warnen, dass Nutzer die Kontrolle über ihre Daten verlieren
Verbraucherschützer sehen die Entwicklung sehr kritisch. Denn die Hersteller sammeln über die Geräte und Apps eine Vielzahl sensibler Daten, die schnell in die falschen Hände kommen könnten, warnt der Bundesverband der Verbraucherzentralen. Er hat die Dienste, die Selftracker nutzen, stichprobenartig untersucht. Das Ergebnis: In vielen Fällen treten die Nutzer mit ihrem Häkchen unter den Allgemeinen Geschäftsbedingungen das Recht an ihren Daten ab. Die Anbieter dürfen sie dann an Dritte weitergeben, die sie zum Beispiel nutzen können, um personenbezogene Werbung zu schalten.
Interessant ist das Geschäft auch für Krankenkassen, die stets bemüht sind, mehr über ihre Versicherten zu erfahren. Die AOK Nordost hat jetzt 730 Menschen mit einer Handy-App ausgestattet, mit der sie erfassen können, wie viel Sport sie treiben, wie viel Alkohol sie trinken oder wie viel sie schlafen. Noch ist das ein Pilotprogramm. Wird es ein Erfolg, könnte es schon bald Teil des Bonusprogramms der Krankenkasse werden.
Die Wissenschaft sieht ebenfalls Potenzial im Selftracking
Auch die Wissenschaft hat erkannt, welche Möglichkeiten das Selftracking bietet. Forscher der Universität Bonn nutzen es zum Beispiel, um frühzeitig psychische Probleme aufzudecken. Sie haben eine App entwickelt, die erfasst, wie oft ein Smartphone-Nutzer telefoniert, wie viele Nachrichten er schreibt und wo er sich aufhält. Aus diesen Daten lässt sich herauslesen, wie oft jemand mit anderen kommuniziert. „Zieht er sich aus seinem sozialen Umfeld zurück, kann das ein erstes Anzeichen für eine Depression sein“, sagt Wissenschaftler Alexander Markowetz. Auf diese Weise wird die Selbstüberwachung zur Lebenshilfe.
Auch Selbstvermesser Florian Schumacher glaubt, dass Selftracking noch viel Potenzial hat. Er testet derzeit das sogenannte „Lifelogging“. An seiner Jacke steckt ein kleines schwarzes Gerät, das in etwa die Größe eines Passfotos hat: Es ist eine Kamera, die alle 30 Sekunden ein Foto schießt. Auf diese Weise dokumentiert Schumacher seinen Alltag. Wo war er, was hat er gemacht, welche Menschen hat er getroffen, wie war das Wetter? Wie er die Fotos nutzen will, ob er alle oder nur einen Teil archivieren wird, weiß Schumacher noch nicht. „Im Moment teste ich das erst einmal aus“, sagt er.
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