Forscher entdecken extragalaktische Neutrinoquelle: Die scheuen Zeugen kosmischer Katastrophen
Zum ersten Mal haben Forscher mit Hilfe des IceCube-Detektors am Südpol die Herkunft eines hochenergetischen Neutrinos aus einer fernen Galaxie ermittelt - im Sternbild Orion.
Es ist 20 Uhr, 54 Minuten und 30,43 Sekunden am 22. September 2017, als tief im Eis der Antarktis nahe des Südpols ein unscheinbarer bläulicher Lichtschimmer aufblitzt. Es ist die Spur eines hochenergetischen kosmischen Neutrinos, das vor langer Zeit am Rand eines fast vier Milliarden Lichtjahre entfernten, supermassiven Schwarzen Lochs entstand und seitdem ungebremst durchs Weltall raste. Und es ist buchstäblich eine Sternstunde der Astrophysik und der Zusammenarbeit hunderter Forscher und Teleskope weltweit: Zum ersten Mal wurde die Quelle eines dieser geisterhaften Teilchen identifiziert, die Planeten, Sterne und sogar stärkste Magnetfelder durchdringen und von denen sich Astronomen wichtige Einblicke ins Innere explodierender Sterne oder Schwarzer Löcher versprechen. Etwa 30 Sekunden nachdem die Lichtsensoren des Neutrino-Detektors „IceCube“ die Lichtspur registriert und der Computer des rund 300 Millionen Euro teuren Apparates die Herkunftsrichtung des Teilchens auf einen halben Grad genau berechnet hatte, alarmierte eine simple SMS das internationale Kommunikationsnetzwerk der Astronomen: alle verfügbaren Gammastrahlen-, Röntgen- und sonstigen Teleskope auf das Sternbild Orion ausrichten. Im Fachblatt „Science“ präsentieren die Forscher nun das Ergebnis der konzertierten Aktion: Offenbar werden in einer Art Materie-Fontäne, die fast mit Lichtgeschwindigkeit aus einem "Blazar" genannten supermassiven Schwarzen Loch schießt, zumindest zeitweise Neutrinos produziert.
Irdische Lichtspur einer Milliarden Lichtjahre entfernten Katastrophe
Was in vier Milliarden Lichtjahren Entfernung eine Katastrophe kosmischen Ausmaßes ist, hinterlässt im Eis des Südpols nur noch ein harmloses bläuliches Schimmern. Es entsteht in dem extrem seltenen Fall, dass ein kosmisches Neutrino direkt auf einen Atomkern trifft. Dann wird er zerschmettert wie die Kugeln zu Beginn eines Billiardspiels, sagt Marek Kowalski, einer der beteiligten Forscher vom DESY, dem Deutschen Elektronen Synchrotron in Zeuthen. Dabei entsteht auch ein Myon, das in der gleichen Richtung weiterfliegt wie ursprünglich das Neutrino und dabei das bläuliche Lichtspur, das „Tscherenkow“-Licht, hinterlässt. Um diese Neutrinospuren zu entdecken, haben Physiker in internationaler Zusammenarbeit eine „relativ exotischen“ Detektor gebaut, so Kowalski. „Der Trick ist, den Detektor so groß zu bauen, dass die Chance, eine Wechselwirkung zu sehen, etwas größer ist als verschwindend gering.“ Einen Kubikkilometer ist der Apparat groß und besteht im Grunde nur aus rund 5000 besonders sensiblen Lichtsensoren, die in bis zu zwei Kilometern Tiefe im antarktischen Eis versenkt sind. „Dort unten ist es pechschwarz, man sieht nichts von der Oberfläche“, sagt Kowalski. Gleichzeitig seien die optischen Eigenschaften dort für die Messungen des Tscherenkow-Lichts unerreichbar gut. „Ein Photon fliegt hundert Meter durch das Eis, bevor es absorbiert wird. So eine Eisqualität könnte man im Labor gar nicht erzeugen“, schwärmt Kowalski.
Was in der Theorie nach einem Kinderspiel klingt, ist in der Praxis allerdings ein mühsames Unterfangen. Denn leider blitzt es nicht nur, wenn hochenergetische Neutrinos aus fernen Galaxien durch den Detektor fliegen. Genaugenommen blitzt es etwa 2000 Mal pro Sekunde, 10 Milliarden Mal im Jahr. „Das sind meist Spuren anderer Elementarteilchen, die interessieren uns aber nicht“, sagt Kowalski. Nur Neutrinos wecken die Aufmerksamkeit der etwa 300 IceCube-Forscher, von denen die meisten in den USA und Europa im Warmen sitzen, während nur zwei als Teil der stets 50köpfigen Besatzung am Südpol ausharren. Teilchen vom Neutrinotyp hinterlassen etwa alle zehn Minuten einen Lichtblitz. Allerdings stammen diese Neutrinos meist aus der Sonne, nicht aus fernen Galaxien, erkennbar an der relativ geringen Energie und des daher vergleichsweise schwachen Lichtblitzes. „Nur ganz selten, etwa zehn Mal pro Jahr, sehen wir schließlich die Spur eines hochenergetischen, kosmischen Neutrinos – den Teilchen, die wir eigentlich sehen wollen“, sagt Kowalski. „Für jedes Neutrino, das wir sehen, fliegen zwar zehntausend Neutrinos nebendran, die wir nicht nachweisen können.“ Aber das ist es den Forschern wert.
Mit der "Neutrinobrille" ins Innere von Sternen schauen
Denn von Neutrinos erhoffen sich die Forscher tiefe Einblicke in all die kosmischen Prozesse, die ihnen bislang verborgen geblieben sind. „Neutrinos erlauben im Grunde den ultimativen Röntgenblick“, sagt Kowalski. „Gäbe es eine Neutrinobrille, könnte man durch alles hindurchgucken und alles sehen, was man mit elektromagnetischer Strahlung nicht sieht.“ Etwa das Innere von Sternen, vor allem aber hochenergetische Prozesse in anderen Galaxien. Diesbezüglich sind Astrophysiker nämlich bislang völlig blind. Zwar gelangt Strahlung niederer Energie, etwa Gammastrahlung, aus anderen Galaxien bis zur Erde, so dass sich Forscher ein Bild der Vorgänge dort machen können. Doch das Bild ist unvollständig, weil die hochenergetische Strahlung absorbiert wird, bevor sie die fremde Galaxie verlassen kann. „Die hochenergetischen Neutrinos hingegen erreichen uns“, sagt Kowalski. Und mit Hilfe des IceCube-Detektors können sie endlich aufgefangen werden. „Neutrinos sind unser Fenster zum Hochenergiekosmos“, sagt Kowalski. Das könnte erklären helfen, wie es die Natur schafft, Teilchen um ein Vielfaches stärker zu beschleunigen, als das die besten Teilchenbeschleuniger-Apparaturen auf der Erde vermögen, etwa das Cern bei Genf. „Im Cern schaffen wir eine Beschleunigung von sieben Tera-Elektronen-Volt“, sagt Kowalski. Das Neutrino, das IceCube an jenem Septemberabend detektierte, hatte eine Energie von 300 Tera-Elektronen-Volt. „Aber wir haben auch schon 10000 Terra-Elektronen-Volt-Neutrinos nachgewiesen. Um solche Beschleunigungen zu erreichen, sind Mechanismen nötig, die wir noch nicht verstanden haben.“
Kowalskis „September-Neutrino“ und dessen höchstwahrscheinliche Entstehung im Blazar „TXS 0506+056“ im Sternbild Orion ist immerhin ein guter Hinweis, dass die Theorie stimmen könnte, dass Neutrinos im „Jet“ supermassiver Schwarzer Löcher entstehen könnten. „Ein Schwarzes Loch allein strahlt keine Neutrinos ab“, sagt Anna Franckowiak. Wie Kowalski arbeitet die Physikerin im 20köpfigen IceCube-Team des Zeuthener DESY und hat sogar eigenhändig am Südpol geholfen, die Sensoren in den mit Heißwasserbohrern gefrästen Löchern zu versenken und zu kalibrieren. „Man braucht ein Schwarzes Loch plus gigantische Ansammlungen von Materie, also ein fressendes Schwarzes Loch, das Teilchenbrei macht und wieder ausspuckt in Form eines Jets.“ Die Idee ist, dass dort Protonen, etwa durch massive Magnetfelder, so stark beschleunigt werden, dass sie auf andere Protonen oder Photonen stoßen, wobei dann Neutrinos produziert werden, die einen Teil der Energie des Protons übernehmen. „Das heißt, wenn wir Neutrinos von so einer Quelle sehen, dann sind wir uns ziemlich sicher, dass dort Protonen mit etwa zwanzig Mal höher Energie existiert haben müssen.“
Forscher, die ins Eis starren
Ziemlich sicher heißt: Die Wahrscheinlichkeit, dass das extragalaktische Neutrino nur zufällig aus der gleichen Ecke des Kosmos kommt, in der die Gammastrahlen-Teleskope (etwa „Fermi“ im All oder „Magic“ auf der Insel La Palma) zur gleichen Zeit den Blazar aufblitzen sehen konnten, liege bei 1 zu 1000, vielleicht 1 zu 5000. Unklar sei auch noch, ob die Neutrinos nur dann produziert werden, wenn die Gammastrahlung besonders intensiv ist, sagt Frankowiak. Zwar sei der Blazar zum Zeitpunkt der Ankunft des "September-Neutrinos" sechs Mal heller, also intensiver in hochenergetischer Gammastrahlung gewesen, als üblicherweise. Die Analyse von älteren Daten spricht aber nicht für einen Zusammenhang von Gammastrahlenaktivität und Neutrinoproduktion: Vor fünf Jahren hatten die IceCube-Forscher schon einmal kosmische Neutrinos nachgewiesen. „Wir wussten, dass es kosmische Neutrinos sind, aber nicht, woher sie gekommen waren. außer, dass sie von außerhalb unserer Galaxie stammen mussten“, sagt Kowalski. „Das war einerseits eine tolle Entdeckung, andererseits waren wir genauso blöd wie vorher.“ Erst im September 2017 konnten die IceCube-Forscher hingegen binnen einer halben Minute 18 Teleskope mobilisieren, um in Richtung der Neutrino-Herkunft zu schauen und den Blazar als Quelle identifizieren. Mit diesem Wissen analysierten die Forscher die älteren Daten noch einmal und fanden tatsächlich heraus, das in einem Zeitraum von 150 Tagen zwischen September 2014 und März 2015 ein Überschuss an Neutrinos aus der Richtung des Blazars auf der Erde ankam. Gammastrahlen-Ausbrüche des Blazars haben Teleskope wie Fermi in dieser aber nicht registriert. „Wir gehen deshalb davon aus, dass es keine gleichmäßig Neutrinos emittierende Quelle ist, sondern eine, die gelegentliche Neutrino-Eruptionen hat“, sagt Franckowiak.
Die Forscher werden weiter nach Neutrinos Ausschau halten müssen, um zu verstehen, was dort und in anderen hochenergetischen Phänomen im Kosmos passiert. Seit dem Septemberabend 2017 hat IceCube allerdings kein weiteres, vergleichbar hochenergetisches Neutrino aus der Richtung des Blazars gemessen. Die IceCube-Forscher werden weiter ins Eis starren müssen.