Alice Salomon Hochschule in Berlin-Hellersdorf: „Die Hochschule ist im Dauerstress“
Die künftige Rektorin der Alice Salomon Hochschule, Bettina Völter, über ein rasantes Wachstum, die Intransparenz der Berliner Verwaltung und Lehren aus der "avenidas"-Debatte. Ein Interview.
Am 1. Oktober wird Bettina Völter die Leitung der Alice Salomon Hochschule (ASH) in Berlin-Hellersdorf übernehmen. Die 53-jährige Professorin für Theorie und Methoden der Sozialen Arbeit wurde kürzlich mit 17 von 18 Stimmen durch das Konzil der Hochschule zur Nachfolgerin von Uwe Bettig gewählt.
Völter war schon in den vergangenen Monaten wiederholt öffentlich in Erscheinung getreten. Als Prorektorin hatte sie wiederholt die Entscheidung der ASH verteidigt, das Gedicht "avenidas" von Eugen Gomringer, das bisher die Fassade ziert, zu übermalen. Studierende hatte es als Ausdruck einer patriarchalen Kunsttradition kritisiert. Rektor Bettig hätte es gern an der Fassade gelassen. Dass er nach viereinhalb Jahren nicht mehr zur Wahl antrat, erklärte er allerdings mit seinem Wunsch, sich wieder stärker der Forschung zu widmen und auch mehr Zeit für seine Familie zu haben. Im Interview blickt die künftige Rektorin Völter auf den Fassadenstreit zurück – und schildert die neuen Herausforderungen wie das geplante Wachstum der Studierendenzahlen und einen überfälligen Neubau.
Frau Völter, Ihnen steht ein großes Wachstum bevor. Die Zahl der Studierenden soll von 3700 auf 5000 steigen. Was bedeutet das für Ihre Hochschule?
Die Alice-Salomon-Hochschule wird in der Tat zu einem der wichtigsten Partner des Landes Berlin im Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen. In den sozialen Berufen fehlen tausende Fachkräfte. Deshalb sehen die Hochschulverträge aus dem Jahr 2017 vor, dass wir schon in den nächsten zwei, drei Jahren die Zahl der Studierenden um 30 Prozent steigern. Wir reformieren Studiengänge und führen neue ein, wie den Bachelor Pflege oder den Master Soziale Arbeit, dazu bauen wir das Online-Studium aus. Zugleich stellt das hohe Anforderungen an die Qualität: Die Aufgabenstellungen in den Berufen werden immer komplexer, die sozialen Herausforderungen wachsen, neue Technik hält Einzug.
Wie wollen Sie das alles räumlich und organisatorisch bewerkstelligen?
Wir arbeiten schon lange an einem Neubau am Kokoschkaplatz und sind bereit, unmittelbar damit zu beginnen. Im vergangenen Jahr wurde ein Architektenwettbewerb durchgeführt, der Vertrag mit dem Gewinnerbüro aber erst vor kurzem abgeschlossen. Eigentlich hatte das damalige Rektorat schon 2010 freudig den Spatenstich angekündigt. Mittlerweile reden wir über einen Baubeginn im Februar/März 2020. Man kann richtig zusehen, wie der Neubau auf der Prioritätenliste der Landespolitik nach unten rutscht. Die Hochschule ist aber im Dauerstress, weil sie ohne Räume die Lehre nicht ausbauen und die Qualität nicht sichern kann. Das ist ein untragbarer Zustand. Ich werde den Neubau jetzt zur Chefinnensache machen.
Inwiefern?
Der erste Bauabschnitt deckt nur das ab, was seit 2012 an Flächen fehlt, was wir jetzt schon brauchen. Immerhin haben wir durchgesetzt, dass der zweite Abschnitt, die Mensa, dank Siwana-Mitteln gleichzeitig realisiert wird. Aber erst der dritte Bauabschnitt berücksichtigt das, was wir an Aufwuchs bei Studierenden und Personal bekommen – die Finanzierung ist allerdings absolut noch unklar. Das ist eigentlich widersinnig. Warum sorgt man nicht hinreichend für die Rahmenbedingungen unseres Aufwuchses?
Was sagt die Landesregierung dazu?
Letztlich sind drei Senatsverwaltungen beteiligt: Stadtentwicklung, Wissenschaft und Forschung sowie Finanzen – und da gibt es undurchsichtige Verzögerungen, die durch Zuwarten bedingt sind. Es gibt immer wieder Prüfschleifen, neue Ideen, es geht zwischen den Verwaltungen hin und her. Die Gründe sind für mich noch nicht transparent.
Sind die Online-Studiengänge ein Ausweg?
Nur bedingt. Die haben immer auch Präsenzphasen in der Hochschule, den direkten Austausch, praktische Übungen. Der Online-Studiengang Soziale Arbeit wird zum kommenden Wintersemester um 40 Plätze erweitert. Außerdem entwickeln wir gerade den Bachelor Interprofessionelle Gesundheitsversorgung online, den wir berufsbegleitend für die Bereiche Logopädie, Ergo- und Physiotherapie, Kranken- und Kinderkrankenpflege sowie Altenpflege anbieten werden.
Da wir schon über Bauliches sprachen: Wie sieht Ihre Fassade aus?
„avenidas“ steht noch an der Fassade und ist nicht übermalt. Ein Gutachter hat die bauliche Konsistenz geprüft, nachdem ein Stück Fassade auf den Bürgersteig fiel. Ergebnis: Die Fassade weist starke Risse auf, Feuchtigkeit dringt ein. Sie ist zwar erst 2011 beschriftet worden, doch es gibt sie schon seit 1998 und muss dringend renoviert werden. Unser Beschluss lautet ja, dass wir weiterhin Kunst im öffentlichen Raum zeigen, die Poetikpreisträgerinnen und Preisträger diesen Raum bekommen sollen, die Person, die ihn gestaltet, in einen Austausch mit der Hochschule geht und alle fünf Jahre ein Wechsel geplant ist. Zuerst wird unsere aktuelle Preisträgerin Barbara Köhler die Fassade gestalten.
Wie ist der aktuelle Stand?
Wir sind gut dabei, aber wollen nach den Erfahrungen der letzten Monate nicht so viel dazu sagen. Eugen Gomringer hat inzwischen einer Tafel zugestimmt und diese auch selbst gestaltet, die auf den Sockel kommt. Das Gedicht bleibt also. Auch das ein Zeichen, dass es nicht zensiert wird. Die Fassadenrenovierung ist für den Herbst 2018 geplant.
„Es geht nicht im engeren Sinne um das Gedicht“
Die Debatte um „avenidas“ ist sehr heftig geführt worden. Wie schauen Sie mit einigen Monaten Abstand darauf?
Ich habe habe gelernt, dass es nicht im engeren Sinne um das Gedicht geht. Letztlich geht es um ein unterschiedliches Kunst-, Bildungs- und Demokratieverständnis. In der Kunst zeigen sich schon allein zwischen Eugen Gomringer und Barbara Köhler unterschiedliche Auffassungen in Bezug auf Texte und Kunst im öffentlichen Raum, was sehr spannend ist. Wir lassen die Studierenden sprechen und nehmen sie ernst. Der Rektor dekretiert nicht von oben, sondern wir haben einen demokratischen Prozess organisiert. Wir haben auch nicht verschwiegen, was uns an Kritik entgegengeschlagen ist – und haben uns mit den Studierenden damit auseinandergesetzt. Das ist unsere Vorstellung von Bildung und Demokratie.
Hat die Hochschule auch Fehler gemacht?
Es gab zwei: 2011 haben wir keinen Vertrag mit Eugen Gomringer geschlossen, der den Umgang mit dem Gedicht regelt; und wir haben zu spät das persönliche Gespräch mit ihm gesucht. Die Hochschule steht ja zu ihrem Preisträger Gomringer.
Bei einer Podiumsdiskussion im November in der Hochschule fragte die Publizistin Andrea Roedig, ob der Genderdiskurs nicht auch zu bestimmend auftritt. Müssen Sie da nicht noch etwas aufarbeiten?
Andrea Roedig hat im November auch über den Genderdiskurs allgemein gesprochen. Es gibt eine hohe Sensibilität in der Gesellschaft in Bezug auf Sagbares und Nicht-Sagbares, mit der wir uns natürlich auseinandersetzen. Wir tun das laufend in unseren Seminaren, die sich mit Fragen des Selbstverständnisses von Menschen, Macht in Beziehungen, gesellschaftlichen Machtverhältnissen und auch Genderfragen beschäftigen, weil unsere Studierenden in ihren Berufen mit ausgeschlossenen, verletzten und verletzlichen Personen arbeiten.
Natürlich gilt es zu fragen: Was ist Theorie und was ist Realität, was ist Anspruch und was lässt sich verwirklichen, was ist universitärer Diskurs und wie kann ich kommunizieren mit Personen, die das nicht so kennen? Manchmal muss man auch sehr klar Position beziehen, zum Beispiel bei Transpersonen, die Leidtragende eines heteronormativen Geschlechterbildes sind. Was die Fassade angeht, wurde in der Öffentlichkeit ein großes Missverständnis ständig wiederholt. Niemand aus der Hochschule wollte das Gedicht verbieten, niemand hat gesagt, das Gedicht könne man nur genderkritisch lesen, alle anderen Lesarten seien verboten. Im Gegenteil wurde gerade unsererseits für eine Vielfalt der Lesarten plädiert.
Haben Sie das härteste Jahr also schon vor Ihrem Amtsantritt am 1. Oktober hinter sich?
Ach, das weiß ich nicht. Wir sind die bundesweit größte staatliche Hochschule im Sozial- und Gesundheitsbereich, da verstehe ich mein Amt als ein politisches. Ich komme nicht umhin, Dinge zu benennen und mich einzumischen. Die SAGE-Hochschulen, das steht für Soziale Arbeit, Gesundheit und Erziehung, stehen nicht so im Fokus wie die MINT-Fächer. Da werde ich mich engagieren, um zu zeigen, wie wichtig wir für den Zusammenhalt in der Gesellschaft sind. Politisch betrifft das etwa den Umgang mit Armut, mit Ausschluss von Teilhabe, mit Rechtsextremismus und mit den Chancen für Geflüchtete. Auf dem Arbeitsmarkt müssen wir die SAGE-Berufe stärken, die noch nicht lange akademisiert sind. In der Hierarchie stehen sie deshalb oft am Ende: viel Verantwortung, wenig Anerkennung, schlecht bezahlt. Die Herausforderungen werden also eher noch vielfältiger.
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