Marshmallow-Psychologie: Die Geduld von Kindern heute und vor 50 Jahren unterscheidet sich deutlich
Süßen Verlockungen widerstehen? Forscher haben verglichen, wie geduldig Kinder heute und früher waren - mit einem überraschenden Ergebnis (mit Video).
Heutzutage wollen Kinder alles und zwar sofort. Sie können keiner Verlockung widerstehen, sind zu kleinen Tyrannen geworden, die sich brüllend auf den Boden legen, wenn ihre Wünsche nicht umgehend erfüllt werden. So denkt die Mehrheit der Erwachsenen über den Nachwuchs. Das hat zumindest eine Umfrage der Psychologin Stephanie Carlson von der Universität Minnesota unter 358 Personen aus unterschiedlichen Altersgruppen bestätigt. Vor allem diejenigen unter ihnen, die selbst Nachwuchs haben, gaben zu Protokoll: Meine Kinder schaffen es längst nicht so gut, eine Belohnung aufzuschieben, wie ich das selber früher konnte.
Früher war nicht alles besser - jedenfalls nicht die Geduld der Kinder
Doch das ist ein Irrtum. Das legt die zweite Studie von Carlson und ihrer Arbeitsgruppe nahe, deren Ergebnisse jetzt von der American Psychological Association (Studie hier: pdf) veröffentlicht wurden. Sie zeigt, dass kleine Kinder sich heute etwas besser beherrschen können als noch vor fünfzig Jahren, wenn sie einen persönlichen Vorteil darin erkennen – jedenfalls wenn es um Süßigkeiten geht.
Die Forscher nahmen sich für diese zweite Untersuchung Daten aus dem berühmten „Marshmallows“-Experiment vor (siehe Video). Der Psychologe Walter Mischel hatte in den 1960er Jahren drei- bis fünfjährige Kita-Kinder auf die Probe gestellt. Er baute vor ihnen jeweils Süßigkeiten oder Salzgebäck auf, das sie persönlich besonders gern mochten. In der einen Schale befand sich zum Beispiel ein Schokokeks, in der anderen deren zwei. Sie dürften sich den einen Keks gleich nehmen, teilte ihnen der Versuchsleiter mit. Wenn sie allerdings warten würden, bis er wiederkomme, dann stünden ihnen die zwei Kekse zu.
Den Psychologen (die die Kinder durch ein einseitig verspiegeltes Fenster beobachteten) ging es vor allem darum herauszufinden, wie das Verhalten im „Marshmallows“-Experiment und der spätere Lebensweg der Kinder in Beziehung stehen. In zahlreichen Langzeitstudien konnte danach belegt werden, dass die Versuchsteilnehmer, die sich schon als Kita-Kinder den Genuss für später aufhoben und damit verdoppelten, als Erwachsene nicht nur gesünder waren, sondern auch beruflich und sozial erfolgreicher: Die Fähigkeit zum „Gratifikations-Aufschub“ macht sich offensichtlich für den Einzelnen auf lange Sicht bezahlt.
Heute widerstehen Kinder der Süßigkeit durchschnittlich zwei Minuten länger
Weil das Experiment in den 80er Jahren von Laurence Aber mit Kita-Kindern aus New York und zu Beginn des neuen Jahrtausend von Carlson selbst in Washington und in Minnesota wiederholt wurde, lässt sich nun im Vergleich auch die Frage beantworten, ob Kinder das heute besser oder schlechter können als früher. Und die Antwort ist eindeutig: Die kleinen Probanden aus dem 21. Jahrhundert haben im Schnitt zwei Minuten länger durchgehalten, als das die Versuchsteilnehmer fünfzig Jahre zuvor taten. Die Kita-Kinder der 80er Jahre liegen in Sachen „Gratifikationsaufschub“ genau in der Mitte zwischen den beiden anderen Gruppen.
„Dieser Befund steht in starkem Kontrast zu der Meinung Erwachsener, dass Kinder heute weniger Selbstkontrolle haben als frühere Generationen“, sagt Erstautorin Carlson. Sie betont ausdrücklich, dass in die neueste Studie der Serie nur Kinder aufgenommen wurden, die keine Medikamente gegen das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom ADHS einnahmen. Solche Mittel wurden in den letzten Jahrzehnten vermehrt verschrieben, und das hätte das Bild verfälschen können (siehe Kasten).
Heute sind Kinder früher zu abstraktem Denken fähig
Eine mögliche Erklärung dafür, dass drei- bis fünfjährige Kinder in Tests zur Selbstbeherrschung heute besser abschneiden als ihre Altersgenossen fünfzig Jahre zuvor, sehen die Forscher darin, dass sie heute früher in Kitas gehen, die sich zudem stärker als früher als Bildungseinrichtungen verstehen. Tests zeigten auf jeden Fall, dass Kinder heute schon früher zu abstraktem Denken in der Lage sind. Die Forscher nennen dafür einen weiteren möglichen Grund, der mit landläufigen Vorstellungen kollidiert: Der frühe Umgang mit Tablets und Smartphones fördere bestimmte kognitive Fähigkeiten der Kinder.
Das jedoch sei ein zweischneidiges Schwert: „Apps könnten es für einige Kinder schwieriger machen, sich längerfristig auf Aufgaben zu konzentrieren, die keine unmittelbare Belohnung nach sich ziehen, etwa Hausaufgaben. Ironischerweise erfordert der Umgang mit den Geräten aber ein abstraktes Denken und eine Kontrolle der Aufmerksamkeit, die es ihnen erleichtern könnten, Belohnungen aufzuschieben.“
Möglicherweise ist es auch nicht ganz unwichtig, welche Art von Belohnung dabei in Aussicht steht. Marshmallows, Schokokekse und Salzbrezeln sind heute vielleicht auch deshalb nicht mehr ganz so unwiderstehlich, weil Kinder sie außerhalb des „Labors“ der Psychologen weit häufiger ergattern können als Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Altmeister Mischel, der die Tests schon in den 60ern machte, kommentiert die Nachfolger-Studien jedenfalls recht nüchtern: „Die Befunde sagen nichts über die Bereitschaft aus, Belohnungen aufzuschieben, wenn man es mit den Versuchungen zu tun hat, die es heute so vielfältig im Alltag gibt.“