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Teilen fällt Kindern manchmal schwer - auch wenn sie wissen, dass es unfair ist.
© dapd

Verhaltensforschung: Kinder sind geborene Diktatoren

Grundschulkinder wissen genau, was unfair ist und sind trotzdem egoistisch. Grund dafür ist der dorsolateraler präfrontaler Kortex. Unsoziales Verhalten ist vor allem mit der Entwicklung der Gehirne zu erklären.

Dem kleinen Jungen war klar, dass er übers Ohr gehauen werden sollte. Statt die sechs Spielmünzen einigermaßen gerecht aufzuteilen, hatte ihm sein Gegenüber nur eine angeboten. Eine einzige! Dafür bekam er höchstens einen Aufkleber, während der andere mit einem Buch oder einem Spiel nach Hause gehen würde. Was also tun? Einfach ablehnen? Dann würden sie beide nichts bekommen. Für ihn war das kein großer Verlust. Seinem gemeinen Mitspieler hätte er es dann zumindest heimgezahlt. Oder sollte er doch den Aufkleber nehmen? Er knickte ein, Fairness hin oder her.

Auf der Seite der Anbieter sah es ähnlich aus. Vor die Alternative gestellt, die sechs Münzen fair aufzuteilen oder den größten Batzen für sich beanspruchen, entschied sich das kleine Mädchen für den größtmöglichen Gewinn – auch wenn sie mit dieser Wahl Gefahr lief, den anderen zu verärgern und alles zu verlieren. Die Verlockung war einfach zu groß.

Strategisches Handeln ist keine Stärke von kleinen Kindern. Wie Forscher um Tania Singer vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig nun zeigen konnte, hat das mit der Entwicklung ihrer Gehirne zu tun. Ihr dorsolateraler präfrontaler Kortex, eine Region im Stirnhirn, die für Impulskontrolle zuständig ist, reift erst nach und nach, schreiben die Forscher in der Fachzeitschrift „Neuron“. „Auch relativ kleine Kinder wissen, was richtig und falsch ist“, sagt Nikolaus Steinbeis, der Erstautor der Studie. „Doch sie haben erstaunliche Probleme dabei, dieses abstrakte Wissen in die Tat umzusetzen.“

Die Studie von Steinbeis und seinen Kollegen bestand aus zwei Teilen. Zum einen ließen die Forscher 146 Schulkinder zwischen sechs und 13 Jahren zwei klassische Spiele aus der Verhaltensforschung spielen: das Ultimatum- und das Diktator-Spiel. Für einen Diktator spielt es keine Rolle, was sein Gegenüber denkt oder fühlt – er macht ein Angebot, der andere muss es hinnehmen. Hier mehr zu geben als unbedingt nötig, ist reine Großzügigkeit. Im Ultimatum-Spiel dagegen sind die Teilnehmer gezwungen, die Reaktion des anderen einzukalkulieren. Wird man zu unverschämt, kann der andere dieses Verhalten bestrafen und beide gehen leer aus. Wer mehr gibt, handelt also nicht nur altruistisch, sondern versucht, die eigenen Risiken zu minimieren.

Wie erwartet waren die Angebote der Kinder, die Diktator spielen durften, fast durch die Bank lausig. Im Ultimatum-Spiel dagegen waren sie umso höher je älter ein Kind war. „Uns hat vor allem überrascht, dass jüngere Kinder zwischen sechs und neun Jahren im Spiel viel eher bereit waren, unfaire Angebote zu akzeptierten“, sagt Steinbeis. Befragte man sie ganz theoretisch – ohne dass ein konkretes Geschenk winkte – wollten sie dem anderen solch eine Frechheit natürlich nicht durchgehen lassen.

Für das Verhalten im Ultimatum-Spiel war es gleichgültig, wie intelligent oder empathisch ein Kind war, wie gut es sich in andere hineinversetzen konnte oder ob es zu risikoreichem Verhalten neigte. Entscheidend war die Willensstärke.

Dies wurde durch den zweiten Teil der Studie unterstrichen, in dem 28 Kinder beide Spiele am Bildschirm absolvierten, während ihre Hirnaktivität in einem funktionellen Magnetresonanztomografen („Hirnscanner“) gemessen wurde. Je älter die Kinder waren, desto aktiver waren ihre Zentren für Impulskontrolle im Stirnhirn und desto erfolgreicher und abwägender konnten sie das Ultimatum-Game spielen. Eine Strukturanalyse verriet außerdem, dass die Strategen unter den Kindern eine dickere Hirnrinde in den Regionen für Impulskontrolle hatten.

Unsoziales Verhalten von Kindern sei somit vor allem mit der Entwicklung ihrer Gehirne zu erklären. Das müsse auch in der Bildungsforschung und in den Schulen berücksichtigt werden, meinen die Leipziger Forscher. „Es reicht eben nicht, Kindern etwas abstrakt zu erklären“, sagt Steinbeis. „Wir müssen mit ihnen Strategien einüben, wie sie ihre Impulse kontrollieren können und somit später auch als Erwachsene erfolgreich sein können.“

Dass es einen Zusammenhang zwischen Impulskontrolle in der Kindheit und dem Erfolg im späteren Leben gibt, konnte bereits Walter Mischel von der Columbia-Universität in New York nachweisen. In den 1960-er Jahren stellte er vierjährigen Kindern einen Marshmallow vor die Nase. Wenn sie ihn nicht anrührten, bis wieder ein Erwachsener ins Zimmer kommt, würden sie zwei bekommen, wurde ihnen gesagt. Manche hielten das keine halbe Minute aus, sie machten sich sofort über das Zuckerwerk her. Manche Kinder aber fingen an zu singen, drehten sich um oder lenkten sich sonst irgendwie ab und konnten der süßen Versuchung so teilweise bis zu 20 Minuten widerstehen.

Mischel verfolgte über 40 Jahre lang, was aus diesen Kindern wurde. Das Ergebnis: Die, die sich von der unmittelbaren Belohnung ablenken konnten, waren Jahrzehnte später im Beruf und Privatleben erfolgreicher. Sparen, Diät halten, das Rauchen aufgeben, eine langwierige Ausbildung absolvieren – all das fiel ihnen leichter.

„Wir würden unsere Kinder auch gern über längere Zeit begleiten“, sagt Steinbeis. Als die Forscher das Gehirn von Erwachsenen scannten, konnten sie bereits sehen, dass auch hier ein Zusammenhang zwischen der Aktivität der Hirnzentren zur Impulskontrolle und der Fähigkeit, strategisch zu handeln, besteht.

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