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Der kleine Unterschied und seine Folgen. Das Unbehagen der Geschlechter ist jedenfalls keine Erfindung der Gender Studies, sagt die Münchener Professorin Paula-Irene Villa.
© imago/Westend61

Streit um die Gender Studies: „Die Frau im Singular gibt es nicht“

Die Gender Studies werden nun auch von Alice Schwarzer angegriffen. Die Geschlechterforscherin Paula-Irene Villa antwortet auf die Kritik.

Frau Villa, schon seit Jahren werden die Gender Studies von rechts angegriffen. Die AfD will sie sogar aus den Hochschulen verbannen. Jetzt kommt auch noch die „Emma“ und bezeichnet Genderforscherinnen als „Sargnägel des Feminismus“. Fragen Sie sich langsam selbst, ob mit Ihrem Forschungsgebiet etwas nicht stimmt?
Das tue ich tatsächlich (lacht). Aber schon lange. Denn das gehört ohnehin zu einer guten Wissenschaft, in allen Disziplinen. Man muss sich immer fragen, ob die Methoden noch passen, ob man etwas Zentrales übersieht oder ob es blinde Flecken gibt, also Vorurteile. In den Gender Studies gibt es eine lange Tradition der selbstreflexiven Wissenschaftskritik, die auch durch unsere multidisziplinäre Arbeitsweise befördert wird. Bei großen Teilen der aktuellen Kritik handelt es sich aber um plumpe Anwürfe mit einer ganz anderen Stoßrichtung. In ihnen artikuliert sich ein befremdlicher Anti-Intellektualismus, ein Elitenbashing, eine Nicht-Anerkennung von Wissenschaft. So werden nicht nur Genderforscher und -forscherinnen feindlich angegangen, sondern auch generell Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, besonders aber auch Kolleginnen und Kollegen in der Klima-, Migrations- oder Konfliktforschung. Wenn sich diese Wissenschaftsfeindlichkeit ausbreitet, ist das besorgniserregend (eine detaillierte Antwort von Paula-Irene Villa auf die Vorwürfe in der "Emma" gibt sie im "Missy Magazine").

Alice Schwarzer wirft den Gender Studies in der „Zeit“ vor, sich kaum noch für Frauen zu interessieren, sich unfeministisch entwickelt zu haben. Schockiert Sie das?

Nein, überhaupt nicht. Denn die Gender Studies sind ja nicht der verlängerte Arm des Feminismus, sondern eine Wissenschaft. Sie haben mit dem Feminismus nicht unmittelbar, nicht zwingend zu tun – außer insofern, als dass der Feminismus ein mögliches Forschungsobjekt der Gender Studies ist. Ich fände es sogar gut, wenn die Gender Studies noch deutlicher zu Politik auf Distanz gingen, als sie es tun. Ich weiß aber, dass das nicht alle in den Gender Studies so sehen. In unserem Feld wird darüber sei jeher produktiv debattiert.

Ist also etwas dran an dem in manchen Kreisen verbreiteten Eindruck, die Genderforschung sei im Geschlechterkampf engagiert, also nicht wissenschaftlich, sondern „ideologisch“ unterwegs?

Forschung unterscheidet sich von Alltagswissen durch die Methoden, mit denen sie Wissen generiert. Die Methoden der Gender Studies sind die, die in anderen Fächern auch angewandt werden, und es wird hier so solide geforscht wie in anderen Gebieten auch – und wie dort gelingt es mal besser, mal schlechter. Es stimmt aber, dass einige sich als Teil eines politischen Emanzipationsprojekts begreifen. Auch das ist in vielen Disziplinen so, in manchen mehr und in manchen weniger, und je nach historischem Moment verschieden.

Kann man Genderforschung auch betreiben, ohne die aktuelle Ordnung der Geschlechter zu hinterfragen?

Absolut! Es gibt sehr viele sehr gute Forschungsarbeiten in den Gender Studies, die selbstverständlich von zwei natürlich gegebenen Geschlechtern ausgehen und die überhaupt nichts mit der Dekonstruktion zu tun haben. Ich selbst habe zum Beispiel zu Frauen und Männern an der Hochschule geforscht, da sind Frauen und Männer als statistische Größen gesetzt, fertig. Klar ist aber, dass man dabei nicht von „der Frau“ und „dem Mann“ sprechen kann. Gute Forschung fragt, welche Männer und welche Frauen machen hier Karriere? Die Frau im Singular gibt es nicht, das wurde schon der ersten Frauenbewegung um 1900 bewusst. Berühmt ist die Rede der schwarzen Bügerrechtlerin Sojourner Truth. Sie fragte bereits 1851 eine weiße bürgerliche Frauenversammlung: „Ain’t I a woman?“, „Bin ich keine Frau?“ Über die Frage, ob es überhaupt eine Essenz der Frau beziehungsweise des Weiblichen gibt, wurde unter dem Einfluss des Poststrukturalismus in den neunziger Jahren heftig in den Gender Studies gestritten. Und das ist keine akademische Glasperlenspielerei, sondern gründet in den empirischen, realen, alltäglichen Vielfaltserfahrungen dessen, was es konkret bedeutet, eine Frau – oder ein Mann – zu sein.

Die Genderforschung spricht immerzu davon, Geschlecht sei „konstruiert“. Das ist für viele kaum nachvollziehbar. Schließlich können Frauen Kinder bekommen, Männer nicht. Da ist doch nichts „konstruiert“?

Das kann man so sagen. Andererseits wirken die Gebärfähigkeit und die Anatomie nicht jenseits der gesellschaftlichen Praxis des Sehens. So haben Anatomen den geöffneten Körper über die Jahrhunderte hinweg ganz anders beschrieben. Der Mensch kann nur über Apparate und Messinstrumente, über Beobachtung und Messung zu den Tatsachen durchdringen. Sehen und Messen sind Praxen, die in komplexer Weise historisch und gesellschaftlich vermittelt sind. Das ist eine einfache erkenntnistheoretische und empirische Einsicht. Die Tatsachen des Geschlechts sind also letztlich sozial vermittelt. Die Geschichte der Naturwissenschaften ist daher sehr wichtig für die Gender Studies. Man muss sich sodann fragen, welche Relevanz anatomische Unterschiede haben. Welche Folgen hat der kleine Unterschied? Machen bestimmte Chromosomen einen guten Vater? Machen Hormone eine bestimmte Berufswahl? Und da es kaum möglich ist, eine allgemeingültige Aussage über „die Frauen“ und „die Männer“ zu treffen, kann man sich auch fragen, ob es wirklich so starke Implikationen für das Leben haben sollte, ob jemand eine Gebärmutter hat oder nicht und ob eine solche Person wirklich immer so aufzutreten hat, wie wir uns stereotyp eine Frau vorstellen.

Ein typischer Vorwurf lautet, die Gender Studies würden biologische Erkenntnisse ignorieren. Stimmt das?

Nein. Seriöse Biologinnen und Biologen würden auch niemals sagen, dass Geschlechterfragen so einfach sind, wie der Alltagsglaube meint. Nach dem Motto: „Wenn ein XY-Chromosom vorliegt, dann …“ Die Zusammenhänge sind viel komplexer, zumal wir inzwischen wissen, dass sich zum Beispiel das Gehirn im Lebensvollzug plastisch entwickelt oder dass die genetische Disposition von Menschen im Sinne der Epigenetik auch maßgeblich von Erfahrungen mitgeprägt wird. Die Biologie unterscheidet in biologisches Geschlecht (sex) und soziales Geschlecht (gender). Das biologische Geschlecht erschließt sich uns aber nicht jenseits des Sozialen. Insofern ist sex eben auch ein Stück weit konstruiert. Was aber gerade nicht bedeutet, die Biologie zu negieren.

Tauschen sich Genderforscherinnen mit Biologinnen und Biologen aus?

Ich finde, nicht genug. Aber mehr, als die meisten denken. Und bestimmt ist der Austausch mit den Gender Studies intensiver als mit anderen Disziplinen. Es gibt ja auch viele Biologinnen und Biologen, die Gender Studies machen. Die Naturwissenschaften sind übrigens gar nicht so primitiv-positivistisch, wie in den Geistes- und Sozialwissenschaften oft mit ziemlicher Borniertheit angenommen wird. Die meisten Biologinnen und Biologen wissen sehr wohl um die Komplexität der Fragen, um die Problematik von „Tatsachen“. Sie sind üblicherweise recht zurückhaltend bei der allzu eindeutigen Beantwortung von Fragen. Ich selber versuche, mit Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern zusammenzuarbeiten und mit ihnen zu lernen. Derzeit etwa zu Epigenetik oder in einem anderen Projekt zu Adipositas und Ernährung. Das ist sehr spannend.

Sind die Gender Studies dafür mitverantwortlich, dass man bei Facebook aus über sechzig Geschlechtern auswählen kann?

Nein, da soll man die Gender Studies nicht überschätzen. Eher wirken hier populäre kulturelle Dynamiken und politischer Aktivismus. Überall wird mit Gender gespielt, auch mit vermeintlichen Tabubrüchen, die Überschreitungen von Geschlechtergrenzen darstellen. Gender ist eben auch ein Hype. Wenn Facebook inzwischen 60 Geschlechter zulässt, zeigt das jedenfalls, dass dem nichts Geheimnisvolles oder gar Obszönes mehr anhaftet, sondern Vielfalt der Geschlechter als Teil von Diversity und ihrer Wertschöpfung betrachtet wird.

In der „Emma“ wird der Genderforschung vorgeworfen, sie relativiere frauenfeindliche Praktiken im nicht westlichen Ausland und verdamme Kritik daran als „Femonationalismus“. So habe keine Geringere als Judith Butler geschrieben, die Burka sei eine „Übung in Bescheidenheit und Stolz“. Eine andere Genderforscherin habe sich dafür ausgesprochen, nicht wertend von „Genitalverstümmelung“ zu sprechen, sondern neutral von „Genitalbeschneidung“. Sind solche Äußerungen verbreitet?

Judith Butler hat zum Teil tatsächlich sehr problematische politische Sätze gesagt, denen ich widersprechen würde. Dazu gibt es schon lange eine intensive Debatte. Aber diese Sätze bilden weder Butlers gesamtes politisches Verständnis ab, noch stellen sie ihr gesamtes Werk infrage – auch Heidegger, Sartre oder Carl Schmitt bleiben interessante und wichtige, wenn auch politisch äußerst problematische beziehungsweise nicht akzeptable Autoren. In der Forschung ist es gleichermaßen wichtig, politische von wissenschaftlichen Argumenten zu unterscheiden wie über ihren möglichen inneren Zusammenhang nachzudenken.

Ist es richtig, dass in den Gender Studies vermieden wird, Anti-Feminismus außerhalb der westlichen Welt zu kritisieren?

In den Gender Studies ist die Sorge schon recht verbreitet, rassistisch zu sprechen. Darum weichen manche womöglich vor bestimmten Fragestellungen zurück, etwa davor, Formen von muslimischem Anti-Feminismus zu untersuchen. So wie man nicht über „die Frau“ sprechen will, will man auch nicht über „den Muslim“ sprechen – und dafür gibt es tatsächlich gute Gründe. Aber: So groß ist das Problem auch wieder nicht. Zu diesen Fragen wird ja durchaus auch schon lange geforscht, vielleicht aber nicht genug. Ich habe den Eindruck, dass jetzt noch mehr Forschung zu Migration, Religion, Geschlecht und Sexualität angeschoben wird. Einer meiner Doktoranden forscht zum Beispiel über die Einstellung syrischer Flüchtlinge zur Sexualität.

Wiegeln die Gender Studies Studierende auf?

Die Gender Studies werden in rechten Zirkeln oft als Teil von „Gendermainstreaming“ kritisiert. Ziel der Bürokratie auf Bundesebene, der EU und der Vereinten Nationen sei es, die Geschlechterunterschiede zu nivellieren und über eine „politische Geschlechtsumwandlung“ einen „neuen Menschen“ zu erschaffen. Was geht hier vor?

Die Gender Studies haben überhaupt nichts mit Gendermainstreaming zu tun – außer, dass sie über Sinn und Unsinn des Gendermainstreaming forschen können. Beim Gendermainstreaming fragt die Politik: Welche Folgen hat es auf die Lebensweise von Frauen und Männern, wenn wir eine Landstraße bauen oder einen neuen Park anlegen. Dabei wird in der Tat nicht angenommen, dass Frauen und Männer „nun mal so sind“. Das Verständnis ist also wie bei den Gender Studies post-naturalistisch, d.h. offen und empirisch. Damit enden die Gemeinsamkeiten dann aber auch schon. Was genau mit „politischer Geschlechtsumwandlung“ gemeint sein soll und worauf in der Forschung sich das bezieht, das hat mir noch niemand schlüssig darlegen können.

Womit befassen sich Genderforscherinnen denn typischerweise? Und wie einflussreich ist das Gebiet an den Hochschulen?

Die Gender Studies sind kein Fach, sondern ein multidisziplinäres Feld. Zwar gibt es einzelne Professuren, Studiengänge und Zentren dafür, aber alle forschen letztlich wesentlich aus ihrer jeweiligen Disziplin heraus. In der Biologie kann es hier um Epigenetik gehen, in den Medienwissenschaften um Kriegsfotografie in Abu Ghraib oder TV-Serien, in den Sozialwissenschaften um die Untersuchung von Arbeit oder Armut. Besonders einflussreich ist das Gebiet trotz der großen Aufmerksamkeit, die es auf sich zieht, an den Hochschulen nicht. Nur circa 0,4 Prozent aller Professuren sind explizit auch für Gender Studies zuständig.

In der „Emma“ und in dem viel diskutierten Sammelband „Beißreflexe“ werden Exzesse in der linken queer-feministischen Szene kritisiert. Auch an der Universität würden in Gender Studies geschulte Studierende andere niedermachen und ihnen Sprechverbote erteilen, etwa, wenn diese „weiße Cis-Männer“ nicht kritisch sehen oder sich ihrer eigenen „Privilegien“ nicht bewusst sind. Herrscht in den Gender Studies Scharfmacherei?

Es gibt sicherlich eine politische Szene, die sich von diesem Bereich besonders angezogen fühlt. Wenn andere im Seminar diffamiert werden, müssen wir Lehrende intervenieren. Das ist aber in meiner Erfahrung nur ausnahmsweise nötig. Meistens ist es anregend, wenn Studierende ihre politischen Anliegen ins Seminar einbringen. Diese müssen dann in eine wissenschaftliche Logik überführt werden – statt Vor-Urteile methodisch kontrollierte Fragen, statt politischer Programme solide Theoriearbeit, statt Vor-Annahmen gute Empirie, statt Rechthaben gute Argumente in der pluralistischen Debatte. Das heißt nicht, alle politischen Anliegen aus dem Seminar zu verbannen, sondern den Unterschied zwischen Politik und Wissenschaft kritisch zu erfassen. Das einzuüben ist der normale Lauf eines Studiums, übrigens in vielen Disziplinen. Studierende, die in Chiffren sprechen, müssen diese erklären. Sowieso. Auch das ist ein normaler Teil unserer Ausbildung. Generell sollte sich die Hochschule mit allen möglichen politischen Positionen auseinandersetzen und sie nicht zensieren. Genau das geschieht auch.

Was müsste geschehen, damit die Gender Studies nicht länger so heftig öffentlich kritisiert werden?

Die Gender Studies müssen klarmachen, dass sie völlig geerdet forschen. Sie erfinden nichts, sondern die Geschlechter und ihre Vielfalt, der gender trouble und die Verwobenheit von Natur und Kultur sind eine gesellschaftliche Wirklichkeit, die wir untersuchen. Dabei können wir uns als Feld durchaus noch stärker professionalisieren – wir sind hoffentlich auf gutem Wege dazu. Generell muss aber auch klar sein, dass Wissenschaft – egal welche – eine Eigenlogik hat. Sie muss sich nicht ständig erklären und rechtfertigen. Der anti-intellektuelle Druck führt derzeit zunehmend dazu, dass erwartet wird, die Wissenschaft müsse immer für wirklich alle verständlich kommunizieren. Das ist eine Falle. - Paula-Irene Villa, 49, ist Professorin für Soziologie und Gender Studies an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die Fragen stellte Anja Kühne.

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