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Abtreiben oder nicht. Eltern, besonders Mütter, stehen vor einer existenziellen Frage, wenn Sie von einer möglichen Krankheit ihres Ungeborenen erfahren.
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Abtreiben? Oder doch nicht abtreiben?: Die Entscheidung

Alle Ärzte sagten ihr, dass ihr Kind die Schwangerschaft nicht überleben würde. Jeden Tag ihrer Schwangerschaft rechnete die Mutter mit dem Tod ihrer ungeborenen Tochter - und entschied sich doch gegen eine Abtreibung.

Dass Nela auf der Welt ist, ist für ihre Mutter ein Wunder. „Ich war sicher, dass sie vor der Geburt stirbt“, sagt Julia Allers (Name geändert). Sie schaut bewundernd und glücklich das blasse, fast einjährige Mädchen an, das auf ihrem Arm sitzt und mit wachen Augen um sich blickt.

In der 10. Schwangerschaftswoche stellte eine Ärztin fest, dass das Kind das Turner-Syndrom hat, es also nur ein weibliches Geschlechtschromosom besitzt. Mehr als 98 Prozent der betroffenen Babys sterben im Mutterleib. Wer überlebt, kann mit Hormonbehandlung ein fast normales Leben führen. In der 23. Woche diagnostizierte ein Arzt mehrere Fehlbildungen des Herzens, das hypoplastische Linksherzsyndrom, an dem die meisten Kinder während der Schwangerschaft sterben – oder kurz nach der Geburt.

Wäre Allers dem Rat der Ärzte gefolgt, dann gäbe es Nela nicht. Insgesamt sechs Mal haben ihr drei Ärzte nahegelegt, das Mädchen nicht auszutragen. Aber die zierliche 34-jährige Kinderkrankenschwester wollte, dass ihr Mädchen selbst beschließt, wann es sterben will.

90 Prozent werden abgetrieben

Allein 90 Prozent der Embryos, bei denen das Downsyndrom vorhergesagt wird, werden abgetrieben. Behinderungen werden heute sehr häufig schon im Mutterleib festgestellt. Frauenärzte raten allen Erstgebärenden über 35, ihr Ungeborenes beim Pränataldiagnostiker testen zu lassen. Jede vierte Frau ist bei ihrer ersten Schwangerschaft über 35.

Julia Allers sagt, sie verstehe Frauen, die sich gegen ein behindertes Kind entscheiden. Ihr Bauchgefühl habe ihr aber keine Wahl gelassen. Während sie in der Küche ihrer Berliner Neubauwohnung erzählt, gibt sie ihrer Tochter über eine Sonde zu essen, zwei Stunden lang. Das macht sie fünfmal am Tag. Nela kann noch nicht allein essen.

Schon beim ersten Besuch bei der Frauenärztin im April 2013, Julia Allers ist in der 7. Woche schwanger, ist ihr klar, dass mit ihrem Baby etwas nicht stimmt. Die Ärztin will, dass sie zwei Wochen später wieder kommt, einen Mutterpass füllt sie nicht aus. Allers hat schon zwei Söhne, sie weiß: Normalerweise muss man so früh in der Schwangerschaft nicht so häufig zum Arzt und man bekommt sofort den Mutterpass. Zwei Wochen später zoomt die Ärztin im Ultraschallbild auf den Nacken des Kindes. Er ist nach außen gewölbt. „Sehen Sie die Nackentransparenz?“ fragt die Ärztin. „Nackentransparenz“ ist der Fachbegriff für Wassereinlagerungen im Nacken eines ungeborenen Babys, ein Hinweis auf Behinderungen. „Sieht nach dem Turner-Syndrom aus“, sagt die Ärztin. Bei Babys mit diesem Syndrom ist besonders viel Wasser eingelagert. „Wollen Sie das Kind?“ Allers beruhigt sich, Fehldiagnosen seien normal. Sie verlässt die Praxis mit den Nummern von drei Pränataldiagnostikern. Am Abend erzählt Julia Allers ihrem Partner, dem Vater ihrer Tochter, von dem Verdacht. Der sagt, er wolle eigentlich gar kein Kind, erst recht keines, das behindert ist. Dann geht er und kommt erst mal nicht wieder.

Warum fragt der Arzt nicht, ob ich das Kind austragen will?

Der erste Pränataldiagnostiker, bei dem sie am nächsten Tag anruft, hat erst vier Wochen später einen Termin frei. „Dann ist mein Kind vielleicht schon tot“, denkt sie und erschrickt. Sie fühlt sich jetzt unendlich alleine. „Turner-Syndrom, ziemlich eindeutig“, sagt eine Woche später ein anderer Pränataldiagnostiker, vor sich ein Ultraschallbild ihres Kindes. „Wenn das Kind im Mutterleib stirbt, könnte das Ihre Gesundheit gefährden. Wollen Sie trotzdem die Diagnose?“ Sie nickt, fragt sich: „Wieso will der Arzt nicht wissen, ob ich mir zutraue, das Kind auszutragen?“ Eineinhalb Jahre später wird der Pränataldiagnostiker erklären: „Alle Kinder, die ich zuvor mit einer so großen Nackentransparenz gesehen habe, haben nicht überlebt.“

Drei Tage später bestätigt die Genetikerin die Diagnose Turner-Syndrom. Das Kind werde mit größter Wahrscheinlichkeit bald sterben. Sie rät zur Abtreibung. Julia Allers wird wütend. „Wenn mein Kind sowieso stirbt, wieso sollte ich es abtreiben?“ Es sei eine große Belastung, ein Kind auszutragen in dem Wissen, dass es sterben wird, erwidert die Genetikerin. Julia Allers sagt: „Eine Abtreibung wäre für mich eine noch viel größere Belastung.“

Als sie am Abend mit den beiden Söhnen zu Hause sitzt, freut sie sich zum ersten Mal auf ihre Tochter. Die Jungs haben sich immer eine Schwester gewünscht. In den nächsten Tagen versucht sie den Gedanken an die Tochter zu verdrängen, die ja wahrscheinlich niemals leben wird. Es klappt nicht. Sie spürt jetzt oft ein starkes Ziehen im Bauch, ganz anders als bei ihren ersten Schwangerschaften. Jedes Mal denkt sie: „Jetzt stirbt mein Kind.“ In der 15. Woche hat sie so heftige Bauchschmerzen, dass sie sich hinlegen muss.

Babys können auch sterben

Mediziner können heute viele Krankheiten und Fehlentwicklungen schon vor der Geburt erkennen. Mit Sicherheit vorhersagen, ob das Kind geboren und wie krank es sein wird, können sie trotz aller Erfahrung nicht immer.
Mediziner können heute viele Krankheiten und Fehlentwicklungen schon vor der Geburt erkennen. Mit Sicherheit vorhersagen, ob das Kind geboren und wie krank es sein wird, können sie trotz aller Erfahrung nicht immer.
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Am folgenden Nachmittag blickt Julia Allers im Sprechzimmer des Pränataldiagnostikers auf ein Ultraschallbild ihres Babys. Sie ist sicher, dass ihr Mädchen tot ist, fühlt sich elend. Da bewegt sich etwas auf dem Bildschirm. Julia Allers beginnt zu weinen. Als sie sich wieder beruhigt hat, holt sie ihren siebenjährigen Sohn. Der sitzt draußen im Wartezimmer neben strahlenden Müttern und nervösen Vätern, sie hat so kurzfristig keinen Babysitter bekommen. Sie zeigt ihm das Ultraschallbild, „du bekommst eine Schwester.“ Und: „Wir müssen die Daumen drücken, damit alles gut geht. Babys können auch sterben.“

Niemand soll sehen, dass sie schwanger ist

Sie trägt jetzt nur noch weite Pullis und Hosen. Niemand, auch nicht ihre Mutter, soll sehen, dass sie schwanger ist. In der 18. Woche spürt sie ihre Tochter zum ersten Mal. In ihrem Tagebuch notiert sie: „Sie tanzt!“ Als sie sich abends ins Bett legt, denkt Julia Allers, morgen früh könnte das Kind tot sein. So geht das die nächsten Wochen.

In der 23. Woche sieht Julia Allers von der Liege des Pränataldiagnostikers aus, dass die linke Herzhälfte ihrer Tochter nicht schlägt. „Hypoplastisches Linksherzsyndrom“, sagt der Arzt nach einer Ewigkeit. Und: „Extrem geringe Überlebenschancen, vor allem in Verbindung mit dem Turner-Syndrom.“ Er blickt sie fragend an. Allers sagt: „Ich mache weiter.“ Sie denkt: „Wenn mein Kind kein Gehirn hätte, wenn ich zu hundert Prozent sicher wäre, dass es stirbt, würde ich vielleicht abtreiben.“ Die Genetikerin, die später eine Blutprobe auswertet, fragt, ob sie das wirklich durchstehen wolle, genau wie die Frauenärztin, der sie am nächsten Tag die Ergebnisse zeigt.

Allers Bauch ist jetzt nicht mehr zu übersehen. Bekannte sprechen sie auf die Schwangerschaft an, sie tut so, als freue sie sich, stellt sich zum Bauchvergleich neben andere Schwangere. Und fühlt sich schrecklich.

"Sie lebt, sie lebt, sie lebt"

In der 32. Woche schreibt sie ihren Eltern und den Brüdern eine Mail. „Ich bin schwanger. Meine Tochter ist krank. Ich weiß nicht, ob sie jemals leben wird. Wenn ihr mir zur Seite stehen wollt, bin ich euch dankbar. Aber versteht, dass ich jetzt keine Fragen beantworten kann.“ Sie handelt instinktiv.

Am 4. Dezember 2013, liegt Nela auf ihrer Brust. „Sie lebt“, sagt Julia Allers, fassungslos, überglücklich. „Sie lebt, sie lebt, sie lebt.“ Keine Minute nach der Geburt nimmt eine Krankenschwester das Baby weg. Der Herzfehler muss sofort operiert werden.

Im Januar, als die nächste Herzoperation ansteht, sagt der Chirurg zu Allers: „Ich kann das wahrscheinlich nicht zu Ende bringen.“ Das Turner-Syndrom macht das Gewebe oft zu weich, um es zu nähen.

Die Operation klappt. Im August wird Nela ein drittes Mal operiert. Sie übersteht auch das. Kurz danach besucht Julia Allers ihren Pränataldiagnostiker, sie will ihm die Tochter zeigen, die Überlebende. Als er Nela sieht, sagt er: „Nie im Leben hätte ich geglaubt, dass alles so gut gehen wird.“ Julia Allers denkt: Eigentlich ist alles schlimmer gekommen als gedacht.

Morgen, am 4. Dezember, wird Nela ein Jahr alt. Sie hat schon die Windpocken gehabt und eine Erkältung. Der erste Backenzahn bricht gerade durch. Wenn sie in zwei Jahren die vierte Operation hinter sich hat, kann sie ein fast normales Leben führen.

Veronica Frenzel

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