Kinder mit Trisomie 13 und 18: Für tot erklärt
Das Urteil der Lehrbücher über die genetischen Störungen Trisomie 13 und 18 ist hart und kategorisch: mit dem Leben nicht vereinbar. Renesmee aber beweist jeden Tag das Gegenteil. Und sie ist kein Einzelfall.
Ihre Tochter ist zu klein“, sagen die Ärzte, als Renesmee am 23. April 2013 zur Welt kommt. Danach vergeht kaum ein Tag ohne schlechte Nachrichten. „Das Kleinhirn sollte größer sein“, erklären sie der Mutter Jenny Schläfer. Es steuert viele Bewegungen und ist für Gleichgewicht, Wahrnehmungen, Schmerz oder Hunger wichtig. „Das Mädchen hat einen Herzfehler.“ Seine Fingerstellung deute auf eine schwere genetische Störung hin, eine Trisomie 18. Zwei Wochen später bringt ein Karyogramm, eine bildliche Darstellung aller Chromosomen, Gewissheit.
Die Diagnose ist ein Schock für die 33-Jährige aus Rheinland-Pfalz. Ihr Mann verdrängt die Wahrheit, er will nicht darüber reden. Es ist Schläfers siebtes Kind. Nur eines, ihr sechstes, hatte bei der Geburt eine Darmfehlbildung. Das konnte in einer Operation korrigiert werden. Seither geht es allen gut.
Renesmee dagegen kann nicht atmen und nicht schlucken. Auf der Intensivstation des Westpfalz-Klinikums in Kaiserslautern schließen die Schwestern das kleine Mädchen an Sonden und Kabel an. Immer wieder hört die Mutter: „Das Kind stirbt. Das kriegen sie nicht heim.“ Niemand macht ihr Mut.
Bei der Trisomie 18 liegt ein Chromosom im Erbgut nicht doppelt, sondern dreifach vor. Die Krankheit tritt bei einer von 6500 Geburten auf. Die Ursache ist ein Unfall: Während der Reifeteilung der Eizelle wird das Chromosom 18 nicht wie sonst üblich getrennt. Wird sie später von einer normalen Samenzelle befruchtet, ist fortan dieses Chromosom dreifach vorhanden. Der Fehler wird bei jeder weiteren Zellteilung weitergegeben (freie Trisomie). Je älter die Mutter ist, desto öfter kommt so etwas vor.
Manchmal heftet sich ein Teil des dritten Chromosoms an ein anderes an (Translokationstrisomie). Und manchmal passiert der Fehler erst nach der Befruchtung der Eizelle. Dann haben einige Zellen einen normalen Chromosomensatz, andere eine Trisomie (Mosaiktrisomie). Auch das Chromosom 13 kann betroffen sein. Viel bekannter und häufiger ist die Verdreifachung des Chromosoms 21, das Down-Syndrom. Aber ganz anders als bei der Trisomie 21 geben Ärzte und Schwestern Kindern mit den Trisomien 13 und 18 keine Chance.
Nur wer alle Fakten kennt, kann eine informierte Entscheidung treffen
Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Zwar überleben die Kinder im Durchschnitt gerade einmal 2,5 bis 14,5 Tage, die meisten erblicken nie das Licht der Welt. Doch eines von zwölf lebend geborenen Kindern mit Trisomie 18 oder 13 wird älter als ein Jahr. „Das muss man den Eltern sagen“, fordert Anna Springett von der Queen-Mary-Universität von London. Nur so können sie eine informierte Entscheidung treffen. Springett hat 2013 die bisher größte Studie zu dem Thema im Fachblatt „American Journal of Medical Genetics“ veröffentlicht. Sie berücksichtigte 326 Kinder mit Trisomie 18 und 142 mit Trisomie 13.
Nansi Boghossian von den Nationalen Gesundheitsinstituten der USA in Bethesda bestätigt das: „Einige leben, sie werden 12, 13, 18 Jahre alt.“ Der amerikanische Trisomie-18-Spezialist John Carey von der Universität von Utah kennt fünfzehn Kinder mit Trisomie 18 über zehn Jahren. Vierzehn sind Mädchen.
Es könnten noch mehr sein. Denn nahezu alle Ärzte raten zurzeit bei einer Trisomie 18 oder 13 aufgrund der Lehrbuch-Prognose eindringlich von lebensverlängernden Maßnahmen ab. Viele Eltern folgen dieser Empfehlung. „Sie entscheiden sich gegen medizinische Hilfe, um nicht in das Schicksal einzugreifen“, sagt Bernt Schulze vom Zentrum für Pränatalmedizin und Humangenetik Hannover. „Die Kinder schlafen dann meist nach einigen Stunden oder Tagen ein.“
Jenny Schläfer will der Natur nicht ihren Lauf lassen. Sie kämpft gegen den Tod, der Renesmee ständig bedrängt. Sieben Monate liegt ihre Tochter verkabelt auf der Intensivstation. Schläfer erträgt den Anblick kaum und möchte die Kleine so schnell wie möglich nach Hause holen. Deshalb setzt sie sich dafür ein, dass ihr Kind eine Magensonde und einen Luftröhrenschnitt bekommt, damit sie ohne Geräte atmen und ernährt werden kann. „Die Ärzte waren vehement gegen diese Operation“, erinnert sie sich. „Sie haben versucht, uns das bis zum Schluss auszureden. Bei einem gesunden Kind würde man das ja machen. Aber Renesmee sollte man nicht unnötig quälen.“
Über Facebook stößt die Mutter auf immer mehr Überlebende
Trisomie-18-Spezialist Carey kennt diese Argumente. Medizinische Hilfe wird bei vermeintlich tödlichen Krankheiten versagt. Bestehen die Eltern darauf, dass für ihr Kind alles getan werden soll, schnellen die Lebenszeiten in die Höhe. Er fordert, dass die Eltern und nicht die Ärzte nach gründlicher Aufklärung entscheiden sollten. Die „unnötigen Qualen“ hält er für eine Schutzbehauptung: „Kinder mit Trisomie 18 leiden nicht mehr oder weniger als andere.“
Renesmee lebt und lebt, inzwischen ist sie über ein Jahr alt. Schläfer gründet eine Facebookgruppe für Trisomie-18-Kinder und stößt auf immer mehr, auf Dutzende Überlebende. Über den Kontakt mit anderen Eltern bemerkt Schläfer: „Jedes Kind ist anders.“ Lediglich klein sind sie alle, sie entwickeln sich verzögert. Etliche glucksen und lachen zwar spontan, reagieren aber nicht auf ein Lächeln oder Ansprache. Einige lernen, sich aufzusetzen. Laufen und sprechen können die allerwenigsten. Eines hat kein Zwerchfell, ein anderes nur eine Niere. Am schwersten sind die Behinderungen bei einer freien Trisomie, denn dann produziert jede Zelle überflüssige Eiweiße, die alles durcheinanderbringen können – wie bei Renesmee.
Das Mädchen hat einen fehlgebildeten Kiefer- und Gesichtsknochen. Deshalb kann sie nicht selbstständig durch die Nase atmen und kaum schlucken. Der Herzfehler, den bis zu 90 Prozent der Trisomie-18-Kinder haben, wächst sich bei Schläfers Tochter bald aus. Während andere Kinder oft Nierenanomalien haben, funktionieren ihre Organe normal. Ein Arzt überprüft das jede Woche.
Die meisten Eltern entscheiden sich für einen Abbruch der Schwangerschaft
Wie lange dieses Leben währen kann, weiß keiner. Das Geburtsgewicht, das Geschlecht, das Ausmaß der Organfehlbildungen, aber auch ob ein Kind künstlich ernährt wird oder nicht, ob es zu Hause aufwächst oder in einer Klinik, entscheiden darüber, wie seine Chancen stehen. Je schwerer das Baby bei Geburt, desto besser. Mädchen überleben eher als Jungen. Je weniger Herz und Nieren angegriffen sind, desto günstiger ist das für den zarten Körper. Eine verlässliche Vorhersage gibt es nicht. Die Kapriolen der Statistik verblüffen Trisomie-18-Experten immer wieder. Fest steht nur: Die Kinder sind sehr schwer behindert.
In den vorgeburtlichen Ultraschallbildern fällt oft eine charakteristische Fingerstellung auf. Der Zeigefinger liegt über dem Mittelfinger und der kleine Finger über dem Ringfinger. Das Fußgewölbe ist flach und die Ferse steht vor – Experten beschreiben das als Wiegenkufenfüße. „Den Eltern sagt man dann fast immer, dass die Trisomie 18 für das ungeborene Baby tödlich ist“, sagt Boghossian, die sich auf angeborene Gendefekte spezialisiert hat. Das bestätigt eine Befragung von 332 Eltern der kanadischen Geburtsmedizinerin Annie Janvier von der Universität Montreal. 87 Prozent der Eltern von Kindern mit Trisomie 13 oder 18 bekamen zu hören, dass die Fehlbildung „mit dem Leben unvereinbar“ sei.
In Deutschland sei das nicht anders, sagt Schulze, der als Humangenetiker seit Jahrzehnten in der Pränataldiagnostik tätig ist. „Die Eltern wissen dann, dass ihr Kind sowieso sterben wird. Das ist anfangs schwer zu verkraften. Dann wird es leichter, weil ihnen die Entscheidung gewissermaßen aus der Hand genommen wird.“ Die meisten brechen die Schwangerschaft ab, berichtet er. Eine amtliche Statistik gibt es dazu nicht.
Die Beratung der Schwangeren ist ein Balanceakt
Auch die Hälfte von mehr als Tausend Geburtshelferinnen aus England, Neuseeland und Australien stufen die Trisomie 18 als tödlich ein. 95 Prozent weisen auf die Möglichkeit eines Abbruchs hin, schreibt der Geburtsmediziner Dominic Wilkinson von der Universität von Adelaide im „Journal Prenatal Diagnosis“.
Etliche Fehlbildungen verändern das Leben der Eltern, der Geschwister und des betroffenen Kindes grundlegend. „Aber die wenigsten sind unmittelbar tödlich, etwa wenn ein Kind gar keine Nieren hat“, sagt Andreas Hagen, der in einem Berliner Pränatalzentrum auf hochauflösende Ultraschalldiagnostik spezialisiert ist. Mit einem „offenen Rücken“ zum Beispiel haben die meisten Kinder eine normale Lebenserwartung, sitzen aber im Rollstuhl. Menschen mit Down-Syndrom können ebenfalls ein erfülltes Leben haben, nicht zuletzt weil die Herzchirurgie enorme Fortschritte gemacht hat. Noch vor einigen Jahrzehnten galt, dass die Kinder vor der Einschulung sterben. Heute hilft man ihnen umfassend, wenn die Mutter das Kind austrägt.
Die Beratung der Schwangeren ist ein Balanceakt. „Ganz schwierig“, sagt Hagen. „Man weiß, dass man dieser Frau in freudiger Erwartung gleich die Wahrheit sagen muss. Dann fließen viele Tränen. Das tut einem selbst leid.“ Natürlich müsse man den Eltern die Spanne des Möglichen erläutern. Aber im Moment der Diagnose seien sie oft nicht in der Lage, das Gehörte zu verarbeiten. „Sie sitzen vor einem, starr und entgeistert, und man merkt, sie möchten nur noch raus. Einige sind einem richtig böse.“ Hagen lädt sie dann zum erneuten Gespräch ein und knüpft für sie Kontakte zu Selbsthilfegruppen und spezialisierten Ärzten. Und er empfiehlt eine psychosoziale Beratung, die ihnen gesetzlich zusteht, um eine tragbare Entscheidung zu fällen.
Ein Kind als Fall für die Haftpflichtversicherung
Schulze nennt einen weiteren Grund, weshalb er den Eltern lieber keine Hoffnung macht: „Es besteht die Gefahr, dass die Krankenkassen uns das, wenn das behinderte Kind lebt, als Behandlungsfehler auslegen und sie sich das Geld von unserer Haftpflichtversicherung holen.“ Die Versicherung argumentiert dann, der Arzt hätte nicht ausreichend über die Folgen einer solchen Trisomie aufgeklärt. Deshalb hätten die Eltern das kranke Baby nicht abgetrieben.
Die Folge ist, dass die Prämien für Haftpflichtversicherungen für Frauenärzte, Geburtsmediziner und Pränataldiagnostiker ständig steigen. So hat beispielsweise die R+V-Versicherung den Vertrag für ein Medizinisches Versorgungszentrum gekündigt, weil sie die Pränataldiagnostik als besonders riskant einstuft. Andere deutsche Versicherer fordern das Siebenfache der bisherigen Prämie, schreibt das „Deutsche Ärzteblatt“. Hagen ergänzt, dass einige seiner Kollegen gar keine Versicherung mehr finden können. Das neue Patientenrechtegesetz ermuntere Eltern regelrecht dazu, mithilfe ihrer Krankenkasse gegen Ärzte zu klagen, um die hohen Kosten für den Unterhalt des behinderten Kindes zu finanzieren. Schulze formuliert es drastisch: „Jedes erbkranke Kind, das nicht geboren wird, ist ein möglicher Haftpflichtfall weniger. Das bekümmert uns und nimmt uns die Freiheit einer neutralen Beratung.“
Jenny Schläfer musste nie über einen Abbruch nachdenken. Zwar fanden ihre Ärzte vor der Geburt die Herztöne und das Wachstum des Fötus auffällig. Von einer schweren Fehlbildung oder einer Trisomie war aber nie die Rede. „Selbst wenn ich es vorher gewusst hätte, hätte ich sie niemals abtreiben lassen“, sagt sie heute. Obwohl der Alltag nicht leicht ist.
Die Pflege ist schwerer als gedacht
Renesmee liegt mit mehr als einem Jahr wie ein sechs Monate alter Säugling in ihrem Bettchen. Sie kann den Kopf nicht heben. Manchmal lacht sie plötzlich, dann ist ihr Gesicht wieder reglos. Sie kann zwei, drei Löffel Brei schlucken, aber das meiste flößt ihr Schläfer über die Magensonde ein. Die halbe Nacht liegt sie wach, neben ihrer Jüngsten. „Es ist so schwer zu wissen, was das Beste für sie ist. Sie kann es nicht zeigen“, sagt die Mutter. Ständig sorgt sie sich, ihre Tochter könnte sterben. Und es gibt sie, die Tage, an denen sie mit ihrer Situation hadert. Zu Ostern bekam Renesmee hohes Fieber. Abermals musste sie ins Krankenhaus. Schläfer ist trotzdem froh um jeden Tag mit der Kleinen.
Sie ist mit diesen gemischten Gefühlen nicht allein. In Janviers Befragungen gab die Hälfte der mehr als 300 Eltern an, dass die Pflege schwerer sei als gedacht. Aber fast alle – 97 Prozent – sagen von sich, sie seien glücklich und dankbar für das kranke Kind. Allerdings haben sich diese Befragten wahrscheinlich bewusst für ihr Baby entschieden.
Jenny Schläfer ist zornig über die Ärzte. Zugleich steckt sie in einem ähnlichen Zwiespalt. Wenn sie Schwangeren in der Facebookgruppe schreibt, dass Jungen meist rasch sterben, brechen die betroffenen Frauen den Kontakt ab: „Keine Mutter will hören, dass ihr Kind nur drei Mal schnaufen wird.“ Schläfer sagt nun nicht mehr, was sie weiß. Sie will keine traurigen Nachrichten überbringen.
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