Das universale Werk des großen Forschers: Der bewegte Alexander von Humboldt
Altamerikanistik bis Zoologie: Der „Nomade“ Alexander von Humboldt hat mit seinen Reisen viel bewegt. Er ist erste Repräsentant einer transdisziplinären Wissenschaft, die bis heute zukunftsweisend wirkt.
Alexander von Humboldt war nicht das letzte Universalgenie, für das er so lange gehalten wurde. Vielmehr verstand er es, wie schon sein Bruder Wilhelm bereits 1793 erkannte, „Ketten von Dingen zu erblicken, die Menschenalter hindurch, ohne ihn, unentdeckt geblieben wären“. Alexander (1769–1859) selbst sprach, wie etwa im ersten Band seines „Kosmos“, von einem „netzartig verschlungenen Gewebe“, mit dessen Fäden er sich auf intensive Weise beschäftigte. So darf man die Humboldt’sche Wissenschaft wohl am zutreffendsten als eine Vernetzungswissenschaft begreifen, in der die verschiedenartigsten Bereiche des Wissens und die unterschiedlichsten Disziplinen relational miteinander verknüpft werden.
Humboldt dachte die verschiedenen Fächer zusammen
Seit dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts bis zu seinem Tod im Jahre 1859 entfaltete der Verfasser der „Ansichten der Natur“ eine Epistemologie, welche die Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Fachrichtungen zusammendachte. Dadurch ist Humboldt der erste Repräsentant einer transdisziplinären Wissenschaft, die gerade auch für das 21. Jahrhundert zukunftsweisend wirkt. Der Jüngere der beiden Humboldt-Brüder hatte, um es mit einem auf die Naturwissenschaften gemünzten Ausdruck von Charles Percy Snow zu sagen, schon früh „the future in his bones“.
Und dies nicht, weil er sich etwa „nur“ mit naturwissenschaftlichen Problemen und Fragestellungen auseinandergesetzt hätte. Wilhelm und Alexander teilten sich keineswegs gleichsam innerfamiliär die Wissenschaften in den „beiden Kulturen“ brüderlich auf. Alexander von Humboldts wissenschaftliche Betätigungsfelder umschließen Altamerikanistik, Anatomie und Anthropologie, Geschichte, Geografie und Geoökologie, Physik, Philologie und Philosophie, aber auch Astronomie, Kulturgeschichte, Pflanzengeografie oder Zoologie.
Humboldt als großer Schriftsteller
Mehr noch: Die transdisziplinäre Humboldtian Science ist ohne die literarische Qualität des Humboldtian Writing schlechterdings nicht zu verstehen: Alexander ging es, wie er im Vorwort zu seinen „Ansichten der Natur“ betonte, stets um die „Verbindung eines litterarischen und eines rein scientifischen Zweckes“. Ästhetik ist für Humboldt keine bloße Zierde oder schöne Dreingabe, sondern ein eigenes, spezifisches Verknüpfungswissen, das alles mit allem zu verbinden vermag. Wir haben gelernt, den Verfasser der experimentellen „Vues des Cordillères et Monumens des Peuples Indigènes de l’Amérique“ als großen Schriftsteller zu lesen und neu zu sehen.
Ausgehend von der Überzeugung, dass es unmöglich ist, die Welt aus der Perspektive einer einzigen Sprache zu begreifen, bediente sich Alexander von Humboldt überdies verschiedener Sprachen, verschiedener literarischer Ausdrucksformen und literarästhetischer Traditionen. Der in der Hauptstadt Preußens geborene Schriftsteller verfasste den größeren Teil seiner veröffentlichten Werke auf Französisch, entfaltete aber zwischen dem Französischen und dem Deutschen ein komplexes translinguales Spiel, in dem sich die unterschiedlichen von ihm verwendeten Begrifflichkeiten – wie etwa die Einzahl des deutschen Wortes „Kultur“ und die Mehrzahl der französischen „civilisations“ – wechselseitig beleuchten.
Latein und Spanisch, Portugiesisch und Italienisch
In seinen Bänden, aber auch bereits in seinen Reisemanuskripten finden sich selbstverständlich das Lateinische wie das Spanische, das Portugiesische wie das Italienische, das Griechische wie das Englische, aber auch die verschiedensten amerikanischen Sprachen vom Náhuatl bis zum Quechua wie auch das Persische oder Chinesische. Bei Humboldt geht es nicht um einen Dialog der Kulturen, sondern um einen Polylog mit vielen Stimmen, vielen Perspektiven, vielen Bewegungs-Räumen.
Das im Januar 2015 angelaufene Akademienvorhaben „Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften beschäftigt sich folglich mit einem Gelehrten und Schriftsteller, der in seinem „vielbewegten Leben“ nicht nur in einem physischen Sinne stets auf der Reise war. Der Begriff des Nomaden taucht nicht zufällig schon unter der Feder des jungen Humboldt auf. Denken und Schreiben Alexander von Humboldts sind stets auf dem Sprung, keinen Endpunkt akzeptierend.
Die Frage: Wie lässt sich Leben begreifen?
In seinen auf den Reisen verfassten Schriften, in seinen mobilen Notaten, die im Fokus des Akademienvorhabens stehen, zeigt sich, wie in Humboldts Aufzeichnungen oft an einem einzigen Tage Gegenstände aus dem Bereich der Geologie oder Geschichte, der Kulturanthropologie oder der Klimatologie, der Wirtschaft oder der Wissenschaftsgeschichte auftauchen und abgehandelt werden. Ob auf dem Gebiet der Pflanzenmigration oder der transatlantischen Sklaverei, die Humboldt als das schlimmste Übel der Menschheit ansah: Alles erscheint in seiner Dynamik und Bewegung, nicht selten auch in seiner geologischen oder geschichtlichen Gewalt, die der Reisende immer wieder geduldig untersuchte und nach ihren Ursachen befragte.
Die eigentliche Frage unter all diesen lebenslangen Bemühungen: Wie lässt sich das Leben begreifen? Und wie kann ein friedliches Zusammenleben aller Lebewesen auf diesem Planeten befördert werden? Aspekte dessen, was wir heute als Nachhaltigkeit bezeichnen und einem geoökologischen Denken zuordnen, sind inbegriffen.
Seine Amerikanischen Reisetagebücher
Die „Amerikanischen Reisetagebücher“ wie die Aufzeichnungen von der russisch-sibirischen Forschungsreise belegen: Als Voraussetzung jedweder Konvivenz galt dem Weltbürger ein dynamisches, unablässig zu erweiterndes Weltbewusstsein. Dabei blieb dieser Kosmopolit immer auch ein Preuße. Und ein Staatsbürger in jenem Mobile Preußen, das sich nicht nur aus seiner (sich im Übrigen stets wandelnden) Territorialität heraus verstehen lässt, sondern die Entwicklung eines neuen, dynamischen Verständnisses von Preußen erforderlich macht. Alexander von Humboldt lenkt unseren Blick in seinen Reiseschriften gerade auf ein Preußen nicht der Grenzziehungen, sondern der Grenzüberschreitungen, einer weltweiten Verflechtung und Vernetzung. Ein Preußen, für das auch die Namen von Adelbert von Chamisso, Anton Wilhelm Amo, Cornelius de Pauw und vieler mehr stehen können.
Der weltgewandte Kammerherr steht für ein neues Preußen-Bild
Der weltgewandte Kammerherr am preußischen Hofe kann damit für ein neues Preußen-Bild einstehen, aber auch für eine neue Vision von Wissenschaft. Ob Alexander von Humboldt im Altai auf seiner russisch-sibirischen Forschungsreise Pflanzen bestimmt oder klimatologische Untersuchungen durchführt; ob er auf seiner Reise in die amerikanischen Tropen auf Tenerife die Argumente von Neptunisten oder Plutonisten erörtert oder in den Archiven Neu-Spaniens die Geschichte der spanischen Conquista oder der amerikanischen Kulturen nachzuvollziehen sucht: Stets ist er dem Leben auf der Spur.
Seine Forschungen verweisen auf eine lebenswissenschaftliche Konzeption von Wissen und Wissenschaft, in der das Leben ganz im Sinne des griechischen bíos ebenso die Aspekte der Natur wie der Kultur umfasst. Die Faszinationskraft Alexander von Humboldts ist weltweit ungebrochen. Humboldts Welt hält der Welt des 21. Jahrhunderts nicht nur den fernen Spiegel vor, sondern weist ihr neue Wege.
- Ottmar Ette lehrt französisch- und spanischsprachige Literaturen an der Universität Potsdam. An der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften leitet er das Vorhaben „Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung“. Eine ausführliche Fassung dieses Artikels erscheint Mitte Oktober in der Publikation „Die Akademie am Gendarmenmarkt 2015/16“.
Ottmar Ette
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