Festakt für Humboldts Reisetagebücher: Der Jahrhundert-Fang
Festakt für einen Berliner Universalgelehrten: Alexander von Humboldts amerikanische Reisetagebücher werden jetzt erforscht und digitalisiert. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hatte sie im Dezember 2013 für die Staatsbibliothek erworben.
Fünf Jahre reiste Alexander von Humboldt durch Südamerika. Unterwegs von 1799 bis 1804, auf der wohl ersten Expedition überhaupt, die allein der Forschung gewidmet war, führte der jüngere Bruder Wilhelm von Humboldts Tagebuch. Als Alexander von Humboldt (1769–1859) in seine Wahlheimat Paris zurückkehrte, hatte er neun Bände mit winziger, schwer zu entziffernder Handschrift gefüllt. Diese Tagebücher hat im vergangenen Dezember die Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) für die „alte“ Berliner Staatsbibliothek Unter den Linden erworben, um sie erstmals in ihrer Gänze der Forschung zugänglich zu machen.
Es erstaunt, dass es von dem Jahrhundertschatz bislang keine vollständige Edition gibt. Der Naturforscher veröffentlichte zwischen 1805 und 1839 in Paris, damals der geistige Mittelpunkt der Welt, den Reisebericht „Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent“ in 30 Bänden, der gleichwohl nur ein Drittel seiner Aufzeichnungen berücksichtigt. Anlässlich der Berliner Erwerbung der Tagebücher soll nun das Forschungsprojekt „Alexander von Humboldts Amerikanische Reisetagebücher“ die überfällige Edition nachholen, mitsamt einer Digitalisierung der in Transkription 4500 Seiten beanspruchenden Aufzeichnungen. Gemeinsam getragen wird das Projekt von der Universität Potsdam und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, finanziert vom Bundesforschungsministerium (BMBF) und geleitet von dem Potsdamer Romanisten Ottmar Ette, der soeben zum Akademiemitglied erkoren wurde.
Als „Jahrhunderterwerbung“ bezeichnete SPK-Präsident Hermann Parzinger seinen neuen Schatz bei einem Festakt am gestrigen Dienstag im neuen zentralen Lesesaal der Staatsbibliothek Unter den Linden. Denn Alexanders Aufzeichnungen „stehen für den Beginn der modernen Wissenschaft“, erklärte der renommierte Archäologe Parzinger.
Seit jeher wurde Alexanders Zwei-Mann-Expedition, gemeinsam mit dem französischen Botaniker Aimé Bonpland, als „zweite Entdeckung Südamerikas“ gewürdigt. „Kein Mensch hätte verstanden“, schlug Parzinger den Bogen zur Gegenwart, „dass wir ein Humboldt-Forum bauen für 600 Millionen Euro“ – interessante Zahl! – „und dann die Tagebücher Humboldts ziehen lassen.“ Bekanntlich hatten Nationalbibliotheken aus Paris und vor allem aus Südamerika großes Interesse an den Tagebüchern bekundet. Der illustre Reigen der Festredner – von der neuen Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) über den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) bis zur Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) – unterstreicht den Rang, der der Erwerbung beigemessen wird.
Humboldt ergänzte seine Tagebücher über Jahrzehnte
„Man kann in acht Tagen in Büchern nicht lesen, was er in einer Stunde zu berichten weiß“, äußerte Goethe, der Weimarer Weltgeist, bewundernd über eine Begegnung mit dem Naturforscher. Ottmar Ette wies in seinem Festvortrag auf das Transitorische und Veränderliche der Tagebücher hin, die der im Alter von fast 90 Jahren gestorbene Alexander bis zum Tod unablässig ergänzte und um neue Erkenntnisse der Forschung bereicherte. Die Tagebücher enthalten zudem Berichte früherer und späterer Reisen: „Nach der Reise war für Humboldt bis ins hohe Alter stets vor der Reise. Unzählige Anmerkungen, Notizen, Kollektaneen und eingeklebte Zettel zeugen davon, dass Humboldt ein Leben lang nicht nur mit, sondern auch an seinen Reisetagebüchern arbeitete und weiterschrieb“, sagte Ette.
Die „Kollektaneen“ sind Sammelstücke unterschiedlichster Art und materieller Beschaffenheit, mit denen Humboldt gleichberechtigt diesen seinen Wissenskosmos bereicherte. Was als „Humboldtsche Wissenschaft“ bezeichnet werde, ist Ette zufolge „eine sich vernetzende, transdisziplinäre, interkulturelle, transmediale und demokratisierende Lebenswissenschaft“. Auf die zahlreichen Skizzen und künstlerischen Darstellungen anspielend, bezeichnet der ausgewiesene Humboldt-Forscher Ette („Alexander von Humboldt und die Globalisierung“, 2009) den Tagebuchschreiber als „Naturwissenschaftler und Kulturwissenschaftler in einer Person“.
Noch in diesem Jahr soll eine Ausstellung eröffnen
Gestern waren die Tagebücher im Rara-Lesesaal der „Stabi“ für die Festgäste zu bewundern, im Laufe des Jahres soll eine Ausstellung sie der Öffentlichkeit sichtbar machen. „Der Aura dieses weit gereisten Manuskripts“, schwärmte Ette, „vermag sich niemand zu entziehen.“ Womöglich ist diese Aura größer noch, als sie bereits zu Zeiten Humboldts gewesen sein mag, als der Forscher beinahe schon kultische Verehrung genoss. Nicht für die privaten Tagebücher, sondern für seine zahlreichen Bücher, voran den „Kosmos“, den zwischen 1845 und (postum) 1862 erschienenen „Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“.
Den heutigen Betrachter befällt eher eine gewisse Melancholie angesichts der Schönheit der handschriftlichen Aufzeichnungen und der zahllosen, eingestreuten bildlichen Darstellungen und Kartenskizzen, etwa von den Fischen des Orinoco und vom Verlauf des Rio Grande de la Magdalena mit allen Flussinselchen, aber auch einer akkuraten Tabelle barometrischer Messungen. Was ist uns durch Computer und Digitalisierung verloren gegangen! Und doch wird es diese Technik ermöglichen, die Tagebücher weltweit zugänglich zu machen.
Das andere, ebenfalls vom BMBF finanzierte Projekt dient der eigentlichen Erschließung der Tagebücher, der Hebung ihres Schatzes an Informationen und Erkenntnissen aus fast allen, zu Humboldts Zeiten betriebenen Disziplinen der Naturwissenschaften. Den hohen ästhetischen Reiz, den Ette wieder und wieder betonte, empfinden Heutige vielleicht stärker als Humboldts Zeitgenossen, denen das Zusammenspiel von wissenschaftlicher und künstlerischer Erkenntnisweise noch geläufig, ja selbstverständlich war.
Die polnischen Bestände werden in die Digitalisierung einbezogen
„Die Hauptgebrechen meines Stils sind eine unglückliche Neigung zur dichterischen Formel“, schrieb Humboldt, der seine Aufzeichnungen abwechselnd in verschiedenen Sprachen, darunter Latein, verfasste, in einem seiner rund 30 000 Briefe. 50 000 Blatt enthält der Nachlassteil allein in Berlin. Das Übrige, ebenfalls aus der früheren Preußischen Staatsbibliothek und im Krieg nach Schlesien ausgelagert, befindet sich in Krakau. Diese auf unabsehbare Zeit verlagerten Bestände sollen zumindest in die Digitalisierung einbezogen werden und so einen virtuellen Gesamtüberblick ermöglichen.
Vom Kaufpreis sanieren die Nachkommen das Tegeler Schlösschen
Vom Kaufpreis für die Tagebücher war beim Festakt ebenso wenig die Rede wie im Dezember bei der Verkündung der glücklichen Erwerbung. Er soll dem Vernehmen nach zehn Millionen Euro betragen haben, die die Vorbesitzer, die Familie von Heintz, überwiegend in eine Stiftung zur Pflege des von ihren Vorfahren ererbten Humboldt-Schlösschens in Tegel einbringen will. Hinter den Kulissen hat jedenfalls die Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder, Isabel Pfeiffer-Poensgen, die Fäden zu zahlreichen Mit-Finanziers aus dem privaten Stiftungssektor geknüpft.
Drohte womöglich die Abwanderung der Tagebücher ins Ausland? Dazu äußerte sich Kulturstaatsministerin Grütters en passant: Es werde noch in dieser Legislatur eine Novellierung des „Gesetzes zum Schutz national wertvollen Kulturguts“ geben, um „Glanzstücke für unsere Kulturnation zu erhalten“. Ein Glück, dass der Rückgriff auf die Gesetzeslage im Falle der Humboldtschen Tagebücher nicht vonnöten war.
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