20 Jahre Sorbonne-Erklärung: Der Bachelor-Check
Vor 20 Jahren begann mit der Sorbonne-Erklärung die große europäische Hochschulreform. An Bachelor und Master scheiden sich bis heute die Geister. Wurden die Ziele der Reform erreicht?
Für Europas Hochschulen war die Sorbonne-Erklärung ein Urknall. Mit einer Skizze auf zwei Din-A4-Seiten setzten Frankreich, Großbritannien, Italien und Deutschland am 25. Mai 1998 die große europäische Hochschulreform in Gang: mit Bachelor und Master und dem Ziel studentischer Mobilität. Ein europäischer Hochschulraum begann zu entstehen. Zur ein Jahr später gefassten Bologna-Erklärung bekennen sich heute 49 Staaten.
Bulimie-Learning statt Bildung? Der Bachelor als berufliche Sackgasse? Bis heute scheiden sich die Geister an den Studiengängen Bachelor und Master, die die herkömmlichen Diplom- und Magisterstudiengänge inzwischen ersetzt haben. Ist die Reform 20 Jahre nach ihrem Beginn ihren Zielen nähergekommen?
„Schneller in den Beruf“
Die deutschen Kultusminister wollten die Reform nutzen, um überlange Studienzeiten zu bekämpfen. Darum definierten sie den sechs- bis achtsemestrigen Bachelor als berufsqualifizierenden Abschluss. Mit ihm sollte die Mehrheit der Studierenden die Hochschule verlassen. Den weiterführenden zwei- bis viersemestrigen Master sollte nur eine Minderheit machen.
Das Gegenteil ist eingetreten. 64 Prozent wechseln nach dem Bachelor in den Master. „An den Universitäten wird der Master offenbar zum Regelabschluss und der Bachelor für die große Mehrzahl der Studierenden zu einer Art Zwischenexamen“, heißt es im Nationalen Bildungsbericht 2016 von Bund und Ländern. „Offensichtlich ist das Vertrauen in die Arbeitsmarktakzeptanz des Bachelors gering.“
Dazu haben vielleicht auch Bund und Länder selbst beigetragen: Für eine Laufbahn im höheren Dienst verlangen sie bis heute einen Masterabschluss. Wie Unternehmen Bachelors einstufen, ist nicht klar zu erkennen. Manchen Studien zufolge bezahlen sie sie oft schlechter als Masterabsolventen. Nach anderen Untersuchungen gibt es zwischen den Gehältern von Bachelor- und Masterabsolventen in vielen Unternehmen keinen Unterschied. Jedenfalls ist davon auszugehen, dass die Bachelors auf dem Arbeitsmarkt im Allgemeinen akzeptiert werden.
Allerdings machen die berufsorientierten Anteile des reformierten Studiums die Unternehmen noch nicht glücklich. So gaben Fach- und Führungskräfte bei einer Studie von VDI und VDMA an, 43 Prozent der Bachelorabsolventen in den Ingenieurwissenschaften ließen Praxiskenntnisse stark oder sehr stark vermissen.
„Kürzere Studienzeiten“
In den alten Studiengängen studierten viele 12 bis 15 Semester bis zum Abschluss. Der Nationale Bildungsbericht von Bund und Ländern stellt fest, die Gesamtstudiendauer von Bachelor- und Masterstudium sei „derzeit noch“ um etwa ein Semester kürzer als in den alten Studiengängen, bei steigender Tendenz. Demnach schaffen 40 Prozent der Absolventinnen und Absolventen das Studium in der Regelstudienzeit, ein etwa gleich hoher Anteil benötigt bis zu zwei Semester mehr. Das Ziel „kürzere Studienzeiten“ scheint damit kaum erreicht.
„Entlastung durch Verschulung“
„Ich musste 800 Folien auswendig lernen und auf Kommando ausspucken“, sagt Anna Wagner (Name geändert), die 2015 an der Humboldt-Universität ihren Bachelor in VWL gemacht hat. Auch die Prüfungslast sei hoch gewesen. Am Semesterende seien durchaus sieben Klausuren zu schreiben gewesen. Vom wissenschaftlichen Arbeiten habe sie dabei nicht viel mitbekommen.
Die Erfahrungen von Anna Wagner passen zu einer verbreiteten Kritik am Bachelor: Er habe das Studium „verschult“, Freiräume vernichtet und den Erwerb von Noten ins Zentrum gerückt. „Viele Studierende wollen heute Wissenshäppchen mit nach Hause nehmen“, sagt Tassilo Schmitt, Alt-Historiker an der Universität Bremen und Vorsitzender des Philosophischen Fakultätentags. „Und fast alle fragen, wie man die Noten optimieren kann.“ Unter den Lehrenden habe der Zynismus zugenommen.
In der Tat wird seit der Einführung des Bachelors studienbegleitend geprüft und nicht erst ganz am Schluss. Damit wollten die Kultusminister die Studierenden entlasten. Jedes Modul – zwei bis drei zueinander gehörende Lehrveranstaltungen – muss geprüft werden. Manchen Professorinnen und Professoren ist das aber nicht genug. Sie machen zusätzlich Vorprüfungen, mit denen man erst zur Modulprüfung zugelassen wird. Oder sie prüfen einzelne Modulteile, wodurch die Zahl der Prüfungen weiter wächst.
Oft ist auch zu viel Stoff in den Bachelor gepresst worden, weil Professorinnen und Professoren alle Inhalte des früheren Studiums für unverzichtbar hielten, besonders, wenn es sich um ihr eigenes Fachgebiet handelte. Nach dem großen Bildungsstreik 2009 haben die Kultusminister die Hochschulen dazu angehalten, die Studiengänge zu entschlacken und Freiräume einzubauen. Nicht alle Noten müssen in die Abschlussnote einfließen. Die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) hat im Jahr 2013 empfohlen, Prüfungsleistungen in den ersten Semestern zu vermeiden oder die Noten zumindest nicht in die Endnote einzubeziehen.
Offenbar haben viele Fachbereiche ihre Studiengänge inzwischen reformiert. Doch noch ein Drittel der Studierenden beklagt fehlende Flexibilität bei der Studienganggestaltung, wie aus dem Studienqualitätsmonitor 2017 des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) hervorgeht. 50 Prozent der Studierenden an Unis halten die Stofffülle für zu hoch, 40 Prozent finden die Anforderungen beim Erbringen von Leistungsnachweisen zu hoch.
Die Politologin Tanja Brühl, bis vor Kurzem Vizepräsidentin für Lehre an der Goethe-Universität Frankfurt, sagt: „Die Lehre hätte sich durch Bologna sehr positiv verändern können.“ Die geforderten Module seien eine Chance, Lehrveranstaltungen sinnvoll zu kombinieren und das Studium zu strukturieren. Auch die mit der Bologna-Reform geforderte Beschreibung von Kompetenzen, die die Studierenden in den Modulen erwerben sollen, sei eine Chance. Sie hätte dazu führen können, dass nicht bloß Inhalte vermittelt werden, sondern forschend gelernt wird. „Es hängt davon ab, welche Praxis ein Fachbereich leben will“, sagt Brühl. Und das wiederum hänge auch von den spezifischen Fachkulturen ab. Vieles, was der Reform angelastet werde, habe mit ihr gar nichts zu tun – insbesondere das sich verschlechternde Betreuungsverhältnis.
Was ist mit den Studienabbrechern und der Mobilität?
„Weniger Studienabbrecher“
Die deutschen Bildungspolitiker erhofften sich von der Verschulung vor allem weniger Studienabbrecher. Ist das gelungen? Beim Absolventenjahrgang 2014 lag die Quote der Studienabbrecher im Bachelor bei 29 Prozent (aktuellere Zahlen liegen nicht vor). Für den Abschlussjahrgang 2006, der zumeist noch auf Magister und Diplom studierte, lag die Gesamtabbrecherquote jedoch bei nur 22 Prozent.
„Ein direkter Vergleich zwischen diesen beiden Werten ist aber nicht möglich“, sagt Ulrich Heublein, der beim DZHW die Abbrecherstudien betreut. So könne man keine Gesamtabbruchsquote mehr ermitteln. In den 2006er-Zahlen waren auch noch Staatsexamensstudiengänge wie Jura und Medizin sowie das Lehramt enthalten, in denen traditionell viel mehr Studierende bis zum Ende durchhalten. In den aktuellen Bachelorquoten sind diese Fächer nicht berücksichtigt. Gut möglich sei zudem, dass weitere Faktoren wie die massive Zunahme der Studierendenzahlen die Abbrecherzahlen stark beeinflusst haben, sagt Heublein. Auf die heutzutage viel heterogenere Studierendenschaft etwa seien die Hochschulen nicht immer hinreichend eingestellt. Die fachspezifischen Tendenzen beim Studienabbruch seien aber erhalten geblieben: „In den Fächern, in denen es vor 2005 überdurchschnittlich viele Abbrecher gab, brechen in der Regel auch nach 2005 überdurchschnittlich viele ab.“
Fest stehe jedoch eines: Studierende brechen heutzutage früher ab, also nach wenigen Semestern, weil sie sich in allen Fächern schon zu Beginn des Studiums systematischeren Prüfungen stellen müssen. Für Heublein hat das auch etwas Gutes: „Die Abbrecher können sich schneller umorientieren.“
„Studienleistungen werden leichter anerkannt“
Eins der großen Ziele von Bologna ist die Mobilität von Studierenden innerhalb Europas. Um Studienleistungen vergleichbar zu machen, wurde ein Leistungspunktesystem eingeführt, das European Credit Transfer System (ECTS). Hochschulen sollte es damit leichtfallen, Leistungen, die Studierende im Ausland erbracht haben, anzuerkennen.
Allerdings wurde spätestens mit dem großen Bildungsstreik von 2009 offenkundig, dass dies nicht einmal zwischen deutschen Hochschulen Praxis ist. Immer wieder weigerten sich Hochschulen mit Verweis auf inhaltliche Unterschiede der belegten Kurse oder kleine Abweichungen bei den Leistungspunkten, an anderen Hochschulen belegte Lehrveranstaltungen anzuerkennen. Damals ermahnten die Kultusminister die Hochschulen. Möglich, dass die Hochschulen inzwischen großzügiger verfahren. Wenn es um die Anerkennung von im Ausland erbrachten Leistungen geht, sind heute jedenfalls drei Viertel der Studierenden zufrieden, wie aus einer neuen Untersuchung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) hervorgeht. „Gleichzeitig ist Anerkennung aber immer noch kein Automatismus“, erklärt Margret Wintermantel, die Präsidentin des DAAD.
„Mehr studentische Mobilität“
Für ein Semester nach Barcelona oder Bergen – wenn sich in den vergangenen Jahren irgendetwas getan hat, dann bei der Mobilität der in Deutschland Studierenden. Hatten im Jahr 2003 noch 27 Prozent aller Studierenden in höheren Semestern einen Auslandsaufenthalt absolviert, waren es 2017 bereits 38 Prozent. Allein die Zahl der deutschen Erasmus-Studierenden hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren fast verdreifacht: Von unter 15.000 pro Jahr auf über 40.000.
Akkreditierung: „Der Uni-Tüv prüft, besser als der Staat“
Schon im Jahr vor der Verabschiedung der Sorbonne-Erklärung hatten sich in Deutschland Bund, Länder und die HRK dafür ausgesprochen, die staatliche Genehmigung von Studiengängen durch ein Verfahren mit externen Gutachtern zu ersetzen. Das neue Akkreditierungsverfahren sollte die Hochschulen international anschlussfähig machen und ihnen erlauben, bei ihren Studienangeboten schneller auf Entwicklungen am internationalen Arbeitsmarkt reagieren zu können. Noch würden allerdings „vereinzelt Vorbehalte“ geäußert, erklärte die HRK im November 1998: Manche fürchteten, „die bisherigen langwierigen und bürokratisch aufwendigen Verfahren“ könnten „durch neue bürokratische Verfahren“ ersetzt werden. „Die Sorge ist unbegründet“, stellte die HRK fest. Das war voreilig, wie sich bald zeigte.
Bis heute beklagen die Hochschulen den hohen bürokratischen Aufwand, Intransparenz der Entscheidungen der privaten Akkreditierungsagenturen und die hohen Kosten, die für das Gütesiegel verlangt werden, pro Studiengang etwa 12.000 Euro. Inzwischen dürfen Hochschulen ihre Studiengänge zwar selbst akkreditieren, wenn ihr Qualitätsmanagement das Tüv-Siegel der privaten Agenturen bekommen hat (Systemakkreditierung). Das sei aber „kein Allheilmittel“, sagt Tassilo Schmitt: „Der Feind sitzt jetzt oft im eigenen Haus.“ Studiengänge, denen die Akkreditierung nicht gelingt, müssten mit ansehen, wie ihre Ressourcen an andere verteilt werden.
Fazit
Mehr studentische Mobilität, das große Ziel der Sorbonne-Erklärung, hat Deutschland erreicht. Auch haben Bachelor und Master sowie die Akkreditierung das deutsche Studium international anschlussfähiger gemacht. Doch weitere Ziele, die die deutschen Bildungspolitiker von der Reform erhofft hatten, nämlich kürzere Studienzeiten und niedrigere Abbrecherquoten, wurden verfehlt. Schlechte Betreuungsverhältnisse oder die Tatsache, dass viele Studierende jobben müssen, lassen sich auch mit Bachelor und Master nicht beheben.