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Ein Medizinprofessor unterrichtet Studierende in einem Hörsaal.
© Waltraud Grubitzsch/dpa

Medizinstudium: Den Umgang mit Abtreibung lernen

Im Medizinstudium kommt das Thema Schwangerschaftsabbruch kaum vor. Studierende helfen sich selbst - mit dem Papaya-Workshop.

Jedes Jahr werden in Deutschland etwa 100 000 Schwangerschaften abgebrochen. Was wenig bekannt ist: Im Medizinstudium kommt das Thema dennoch fast nicht vor. Angehende Ärztinnen und Ärzte wissen wenig darüber, wenn sie in die Praxis gehen, und fühlen sich leicht überfordert. Das kann durchaus Folgen für die Versorgung haben. In Deutschland gibt es immer weniger Ärzte, die Abbrüche vornehmen: Wie vor wenigen Wochen das RBB-Magazin „Kontraste“ unter Berufung auf die amtliche Statistik berichtete, hat sich die Zahl der Praxen und Kliniken, die Abbrüche durchführen, von 2000 Stellen im Jahr 2003 auf aktuell 1200 Stellen reduziert. Für Frauen, die einen Abbruch vornehmen lassen wollen, hat das dramatische Folgen. In einigen Regionen Deutschlands müssen sie für den Eingriff mehr als 100 Kilometer weit fahren.

Angesichts dieser Versorgungsnotlage erscheint es umso unverständlicher, dass das Thema im Medizinstudium kaum vorkommt, meinen Studierende. Einige von ihnen helfen sich inzwischen selbst. „Lernt, was euch die Uni nicht lehrt“ – unter diesem Motto veranstalten Berliner Medizinstudierende seit 2015 Workshops zu Schwangerschaftsabbrüchen. Die Studierenden der Gruppe „Medical Students for Choice“ (MSFC) kritisieren, dass auch im Medizinstudium an der Charité das Thema kaum behandelt wird. Nur die rechtlichen und ethischen Aspekte des Schwangerschaftsabbruchs werden in einem Seminar zu pränataler Diagnostik thematisiert.

Methoden des Abbruchs im Papaya-Workshop

Den Studierenden geht es aber vor allem um die medizinischen Aspekte des Abbruchs wie Methoden und Technik. „Wir wollen das Tabu durchbrechen und einen Raum für eine Auseinandersetzung mit Schwangerschaftsabbrüchen schaffen“, sagt Alicia Baier, Medizinstudentin an der Charité und Mitgründerin der Berliner MSFC.

Auch in den sogenannten „Papaya-Workshops“ der MSFC werden die rechtlichen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch in Deutschland erläutert und die ethischen Dimensionen diskutiert. Zudem erklären zwei erfahrene Gynäkologinnen die verschiedenen Methoden des Abbruchs und ihre Vor- und Nachteile. Im Anschluss an den theoretischen Teil üben die Teilnehmenden an einer Papaya, die in ihrer Form und Größe einer Gebärmutter ähnelt, wie man das Schwangerschaftsgewebe mithilfe einer Vakuumpumpe absaugt. Entwickelt wurde das Workshopkonzept 2003 an der University of California. „Das Interesse der Studierenden ist sehr groß“, sagt Alicia Baier. „Wir müssen inzwischen eine Warteliste führen.“ Baier hofft, dass sich durch die Workshops langfristig mehr Studierende dafür entscheiden, später selbst Abbrüche anzubieten.

Neues Charité-Seminar, aber offenbar ohne medizinische Aspekte

Für eine Änderung des Curriculums kämpfen die MSFC seit Jahren – und langsam zeichnet sich an der Charité ein Umdenken ab. Adelheid Kuhlmey, Vize-Prodekanin für Studium und Lehre der Charité, teilt auf Anfrage mit, dass in Zukunft ein eigenes Seminar zu den rechtlichen Voraussetzungen und gesellschaftspolitischen Implikationen des Schwangerschaftsabbruchs stattfinden soll. Zusätzlich soll es Online-Vorlesungen zu ethischen Aspekten und pränataler Medizin geben. Die neuen Veranstaltungen sollen im Sommersemester 2019 beginnen. Die Änderungen seien Teil der regelmäßigen Überarbeitung des Curriculums, sagt Kuhlmey. Zu den „Medical Students for Choice“ und ihren Workshops möchte sie sich nicht äußern.

„Dass in Zukunft Schwangerschaftsabbrüche stärker thematisiert werden sollen, ist ein Erfolg“, sagt Alicia Baier. Doch die medizinischen Aspekte scheinen auch in Zukunft nicht Teil des Curriculums zu sein. Dabei sieht die ärztliche Approbationsordnung sie als Prüfungsstoff für das schriftliche Staatsexamen vor.

Bundesweit fordern Studierende Reformen der Curricula

Die Charité gehört damit zur großen Mehrheit der deutschen Universitätsmedizin – bis auf wenige Ausnahmen werden Schwangerschaftsabbrüche nur oder hauptsächlich rechtlich und ethisch behandelt. Dagegen regt sich nicht nur in Berlin Protest. Auch in Leipzig oder Münster haben sich studentische Gruppen gegründet, die eine stärkere Thematisierung von Abbrüchen im Curriculum ihres Medizinstudiums fordern. „Wir vernetzen uns gerade mit vielen Medizinstudierenden anderer Universitäten“, sagt Alicia Baier. „Uns erreichen Anfragen aus ganz Deutschland, ob wir beim Aufbau ähnlicher Workshops helfen können.“

Nicht alle Mediziner befürworten jedoch das Workshopkonzept der MSFC. Bernhard Marschall, Studiendekan der Medizinischen Fakultät der Universität Münster, sieht die Verwendung von Papayas als Modell sehr kritisch: „Das ist verharmlosend und simplifiziert das Problem. Die Papaya bildet in keiner Weise ab, dass in der Realität zwei echte Leben, das der Mutter und das des Embryos beziehungsweise Fötus, auf dem Spiel stehen.“

Kritik am Papaya-Workshop zurückgewiesen

Von der „Papaya-Übung“ abgesehen begrüßt Marschall jedoch das Engagement der Berliner Studierenden, denn eine ausführliche und reflektierte Auseinandersetzung mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch sei unerlässlich: „Es ist ein hervorragendes Beispiel für die ethischen, gesellschaftlichen und menschlichen Dilemmata, denen sich Ärzte in unserem Beruf tagtäglich stellen müssen.“ Bei der universitären Lehre zu Schwangerschaftsabbrüchen sollte es sich deshalb neben der Vermittlung rein medizinischer Lernziele vor allem um die Ausbildung einer professionellen ärztlichen Haltung auch bei schwierigen Fragestellungen handeln. Dies sei nur durch Entwicklung und Abgleich eigener Werte im gesellschaftlichen Kontext möglich.

Gabriele Halder, eine der beiden Gynäkologinnen, die gemeinsam mit MSFC die Berliner Papaya-Workshops leiten, bezeichnet Marschalls Kritik als haltlos: „Der Papaya-Workshop ist seit 2003 international erprobt und erfolgreich. In den USA wird er von renommierten gynäkologischen Fachgesellschaften empfohlen.“ Bei dem Workshop gehe es darum, für die Situation ungewollt schwangerer Frauen zu sensibilisieren und einen respektvollen, empathischen Umgang mit ihnen zu lehren. An Modellen zu üben, sei zudem absolut üblich in der Medizin, die Papaya biete sich als kostengünstiges Übungsmodell an. Alles, was einen Abbruch für Studierende sinnlich erfahrbar mache, sei sinnvoll in der Ausbildung.

Verzerrtes Bild von der Arbeit als Gynäkologin oder Gynäkologe

„Es ist höchst problematisch, dass die medizinischen Aspekte des Schwangerschaftsabbruchs an den Universitäten nicht gelehrt werden“, sagt Halder. Medizinstudierende bekämen so ein vollkommen verzerrtes Bild der Arbeit als Gynäkologin oder Gynäkologe. „Junge Ärztinnen und Ärzte denken dadurch nach der Approbation bei Gynäkologie vor allem an den Kreißsaal und die Behandlung von Krebs. Sie haben keine Vorstellung davon, wie viel sie in der Gynäkologie mit ungewollten Schwangerschaften konfrontiert sind“, sagt Halder. Das führe in der Praxis häufig zu einer Überforderung im Umgang mit den Patientinnen – und zu einer schlechten Versorgung.

Deutschland sei in der medizinischen Aus- und Weiterbildung für Schwangerschaftsabbrüche „ein absolutes Entwicklungsland“, sagt Halder. So würden Abbrüche noch immer mittels Ausschabungen durchgeführt – laut Statistischem Bundesamt in 15 Prozent der Fälle. Die Methode gilt als überholt, weil sie ein wesentlich höheres Risiko birgt, die Gebärmutterwand zu verletzen.

Um an der derzeitigen Situation etwas zu ändern, sieht Gabriele Halder nicht nur die medizinischen Fakultäten in der Verantwortung, sondern auch gynäkologische Fachverbände. Obwohl jährlich etwa 100 000 Abbrüche in Deutschland durchgeführt werden, gibt es dazu keine Leitlinie der zuständigen Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG). Begründen will die DGGG dies gegenüber dem Tagesspiegel nicht, ebenso wenig wie offenbar fehlende Fortbildungsangebote zu Schwangerschaftsabbrüchen. Auf der Verbandshomepage, auf die die DGGG verweist, sind solche Angebote jedenfalls nicht zu finden.

"Ungewollte Schwangerschaften sind ein Massenphänomen"

Die weitgehende Nichtthematisierung der Abbrüche in Lehre, Forschung und Fortbildung sieht Gabriele Halder als direkte Folge der rechtlichen Situation in Deutschland: „Die Paragrafen 218 und 219 des Strafgesetzbuches und die durch sie festgeschriebene Kriminalisierung des Abbruchs hängen wie eine Bleiglocke über der Gesellschaft und der Medizin.“ Daran müsse sich etwas ändern. „Ungewollte Schwangerschaften sind ein Massenphänomen. Und sie sind etwas zutiefst Menschliches, mit dem auch menschlich umgegangen werden sollte“, fordert Halder. „Dafür brauchen wir gut ausgebildete Ärztinnen und Ärzte.“

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