Kindheit im Heim: "Deformierungen an jungen Menschen"
In der Geschichte der Heimerziehung war das Kind ein fremdbestimmtes Objekt – mit schweren Folgen.
Mit dem Satz: „Ich konnte nicht länger schweigen – aber wer wird mir glauben?“, begann eine Frau im Februar 2009 ihren Bericht auf einer Veranstaltung des Heimes, in dem sie fast alle Entbehrungen und Demütigungen hinnehmen musste, die Heimkindern zugemutet wurden und die tiefe Spuren in ihrem weiteren Leben hinterlassen haben. Nur einer der Diakone, die zu ihrer Zeit in diesem Heim als Erzieher gearbeitet haben, war bereit, auf der Veranstaltung zu sprechen. Er benannte die unzumutbaren Arbeitsbedingungen, die fehlende fachliche Qualifikation, vom Träger zu verantwortenden Bedingungen, die ihn dazu brachten, aus ständiger Überforderung die Kinder zu schlagen und sie mit einer gewaltförmigen Erziehung an die Erfordernisse der Anstaltsorganisation anzupassen.
Aber er machte sich den schweren Vorwurf, dass er es war, der geschlagen hatte, der den auf ihm lastenden Druck an die ihm anvertrauten Kinder weitergab, statt sie zu schützen und die Verhältnisse zu kritisieren, die den Druck, der in offene Gewaltanwendung umschlug, hervorbrachten. Wie stark der institutionelle Anteil der Machtasymmetrie im Heim ihren personalen Anteil bestimmen konnte, wird aus Berichten der wenigen Erzieherinnen und Erzieher deutlich, die bereit waren, rückblickend selbst– und institutionenkritisch über ihr Handeln zu sprechen.
"Man hätte ja auch auf die Barrikaden gehen können“
Ich zitiere einen ehemaligen Erzieher aus dem Gespräch, das ein ehemaliger „Zögling“ mit ihm führte: „Die Gesamtheit musste ja funktionieren, sonst waren da sehr schnell chaotische Zustände, die man zu verhindern hatte. Wenn man als Erzieher einen Ruf hatte, bei dem geht es drunter und drüber, das war ein schlechtes Image für einen selber, und dabei stand man schon unter dem Zwang, in seiner Gruppe Ordnung zu haben, und das ließ sich bei der Masse von Kindern oft nur mit Gewalt durchsetzen (…). Ich sage heute, ich habe mich schuldig gemacht, das tut mir heute noch weh, die Jahre, die man da Menschen misshandelt hat, aber als eigene Entlastung kann man sagen: Es war damals in der Zeit noch so, und die Zustände waren einfach heillos. Was da für Deformierungen an jungen Menschen passiert sind, das kann man nicht wieder gutmachen, das ist schuldhaft, nur dass man es nicht als Schuld einsieht von den Mitarbeitern, die dieses System verkörpert haben, das wird heute noch nicht als Schuld gesehen. Ich sage mir manchmal, was sind wir doch für erbärmliche Leute gewesen, dass wir so reagieren mussten. Man hätte ja auch auf die Barrikaden gehen können.“
Die Verantwortung dafür, dass aus Anvertrauten Ausgelieferte werden, kann von der Institution nicht auf ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter abgeschoben werden und von diesen nicht auf die Institution. Diese Verantwortung ist für beide Seiten jeweils unteilbar, auch wenn sie in der Machtasymmetrie miteinander verbunden sind und sich gegenseitig bedingen.“
Für die „Heimkinder“ war es immer von existenzieller Bedeutung, ob das Leben im Heim ihnen überwiegend Erfahrungen des Anvertraut-Seins oder des Ausgeliefert-Seins vermittelte. „Vertrauen“ im Hinblick auf andere Menschen bedeutet, Sich-Verlassen auf ein Gegenüber, in dem die Aspekte Hoffnung und Sicherheit zentral sind. Mit der Hinzufügung der Vorsilbe „An“ zu dem Wort „Vertrauen“ wird eine Verstärkung der Grundbedeutungen von „Vertrauen“ sprachlich zum Ausdruck gebracht. Das An-Vertraute ist ein hohes, schützenswertes und schutzbedürftiges Gut.
Strukturelles Machtgefälle
„Anvertraut und ausgeliefert“ bezeichnet ein Spannungsfeld in allen Formen institutionalisierter Erziehung. Das Verhältnis zwischen beruflichen PädagogInnen und den Kindern/Jugendlichen, mit denen sie „arbeiten“, ist, unabhängig vom subjektiven Willen und der Wahrnehmung der Beteiligten, von einem strukturellen Machtgefälle zwischen erziehenden Erwachsenen und zu erziehenden Heranwachsenden bestimmt. Die Möglichkeit, dass ein Kind/Jugendlicher in einer pädagogischen Einrichtung von einem Anvertrauten zu einem Ausgelieferten wird, ist mithin vorgegeben.
Ob es dazu kommt, ist von vielen Faktoren abhängig und keinesfalls zwangsläufig. In bestimmten pädagogischen Institutionen werden Kinder/Jugendliche aber eher zu Ausgelieferten als in anderen, denn Ausmaß und Beschaffenheit der Macht-Asymmetrie unterscheiden sich je nach den Aufgaben und der Organisation des jeweiligen pädagogischen Bereichs sehr voneinander.
Die Machtasymmetrie besteht aus institutionellen und personalen Komponenten, die eine mehr oder weniger ausgeprägte, sich gegenseitig verstärkende oder begrenzende Verbindung miteinander eingehen. Je geschlossener das Setting ist, je stärker ist diese Verbindung. In der Heimerziehung bestand und besteht aus diesem Grund immer die Gefahr der Herausbildung eines besonders starken Machtgefälles. Je stärker hierarchisiert die Binnenstruktur eines Heimes ist, je größer ist der Anreiz für die Erziehenden, ihre strukturell gegebene personale Macht, vor allem in Konfliktsituationen, gegenüber den Kindern/Jugendlichen einzusetzen.
Das Spannungsfeld von Anvertraut-Werden und Ausgeliefert-Sein hat drei Pole: 1. das Kind/der Jugendliche, 2. eine Person/Institution, die es einer anderen Person/Institution anvertraut, 3. die Einrichtung, die sich das Kind anvertrauen lässt. In der Geschichte der Heimerziehung hat sich dieser Vorgang hauptsächlich zwischen dem zweiten und dem dritten Pol abgespielt. Wille und Wunsch des Kindes spielten bei so existenziellen Entscheidungen wie dem Ort, an dem es leben würde, und den Menschen, denen für eine längere Zeit die Sorge für sein seelisches und körperliches Wohlergehen obliegen würde, kaum eine Rolle. Es war in einem umfassenden Sinne ein Objekt von Fremdbestimmung.
Verdichtet zu einem Machtsyndrom
Eines der wichtigsten Ergebnisse der in den letzten Jahren von der Initiative ehemaliger Heimkinder angestoßenen Forschungen ist die Erkenntnis, dass die strukturelle Machtasymmetrie allen pädagogischen Handelns sich im System der Heimerziehung zu einem Machtsyndrom verdichtete, mit schwerwiegenden Folgen für in Heimen aufgewachsene Kinder und Jugendliche, aber auch für in ihnen arbeitende PädagogInnen. Auf der politischen und der wissenschaftlichen Ebene hat sich diese Erkenntnis in jüngster Zeit weitgehend durchgesetzt.
In Gremien wird darüber nachgedacht, wie der Tendenz pädagogischer Institutionen, sich gegenüber einer kritischen Öffentlichkeit abzuschließen, begegnet werden kann. Die Schaffung eines wirklich unabhängigen und transparenten Beschwerdesystems für Kinder/Jugendliche in pädagogischen Einrichtungen steht auf der fachlichen und jugendpolitischen Agenda, und Einrichtungen der stationären Erziehungshilfen gehen heute mit der strukturellen Machtasymmetrie bewusster und sensibler um. Kurz: Die Notwendigkeit, dass der Schutz von Kindern und Jugendlichen in pädagogischen Einrichtungen verbessert werden muss, um nach Möglichkeit zu verhindern, dass sie von Anvertrauten zu Ausgelieferten werden, ist weitgehend anerkannt und an ihrer Verwirklichung wird gearbeitet.
Dieser „Aufbruch“, und um einen solchen handelt es sich angesichts der Geschichte der Heimerziehung wirklich, darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass die strukturellen, institutionellen, bewusstseinsmäßigen und mentalen Widerstände gegen die angestrebten tiefgreifenden Veränderungen noch beträchtlich sind und sich auch wieder zu gegenläufigen Tendenzen verdichten können. Das zeigen nicht nur vereinzelte aktuelle Heimskandale, sondern auch die wieder zunehmende Akzeptanz und Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen und geschlossener Unterbringung in der Kinder- und Jugendhilfe. Aus alledem folgt: Ein an der Würde und den Rechten der Kinder/Jugendlichen orientiertes erzieherisches Handeln, das verhindert, dass sie zu Ausgelieferten werden, setzt bei den Trägern der Heimerziehung, den Leitungen der Heime und den in ihnen arbeitenden Fachkräften ein kritisch-reflektierendes Bewusstsein über den Zusammenhang von Macht und Erziehung voraus.
Das Verhältnis von Ausnahme und Regel hat sich umgekehrt
Die im Kontext der 68er-Bewegung erfolgte radikale Kritik an den Lebensbedingungen und der Erziehungspraxis in der Heimerziehung hat den langen Reformprozess der Jugendhilfe einleiten können, der in unserer Zeit schließlich dazu geführt hat, dass sich das Verhältnis von Ausnahme und Regel umgekehrt hat: Ein ganzes Jahrhundert war es die Regel, dass Kinder/Jugendliche in der Heimerziehung zu Ausgelieferten wurden – und die Heime waren Ausnahmen in denen sie als Anvertraute aufgenommen wurden und es blieben. Heute ist es die Ausnahme, dass Kinder und Jugendliche in Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe zu Ausgelieferten einer gewaltförmigen Erziehungspraxis werden – eine Ausnahme, die aber auch nicht hingenommen werden kann und nicht hingenommen wird. Diesen Fortschritt in der öffentlichen Erziehung gilt es zu bewahren und weiter zu verbessern.
Der Autor ist Professor für Sozialpädagogik i. R. an der TU Berlin. Der Artikel ist eine gekürzte Fassung seines Vortrags zur Eröffnung der Veranstaltungsreihe „Geschichte der Kindheit im Heim“ in Potsdam. Noch bis zum 31. März 2018 gibt es dazu Vorträge, Filme und eine Ausstellung. Der Eintritt ist jeweils frei. Mehr hier.
Manfred Kappeler
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