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Fotos von Kindern und Jugendlichen hängen in einer Ausstellung an einer Wand.
© Christiane Kohlmann/picture alliance/dpa

Opfer der DDR-Heimerziehung: Um die Kindheit gebracht

In DDR-Heimen wurden Kinder und Jugendliche systematisch misshandelt und gedemütigt. Die psychischen und sozialen Folgen sind längst nicht geheilt. Ein Gastbeitrag.

Ursula Burkowski ist zwei Jahre alt, als ihr Weg durch  Kinder- und Jugendheime der DDR beginnt. Ihre Mutter hat in den Westen rübergemacht und ihre drei Kinder zurückgelassen. Das Erste, woran sie sich erinnert, ist eine Kinderschwester, die sie mit Gurten ans Bett band. „Besondere Freude schien sie daran zu haben, mich auf ein Schaukelpferd zu setzen. Ich schrie fürchterlich vor Angst, und je lauter ich weinte, desto stärker schaukelte sie mich“, schreibt Ursula Burkowski in ihrem Buch „Weinen in der Dunkelheit“ (Bastei Lübbe Verlag, Berlin 1991; Neuauflage im Jaron Verlag, 2011).

In der sozialistischen Gesellschaft der DDR galt das Kollektiv als die beste aller Lebensformen. Kernpunkt dieser Ideologie war, dass jedes Individuum sich freiwillig und bewusst in das Kollektiv integrierte und das Beste für die Gemeinschaft und damit folgerichtig auch für sich selbst als Teil des Ganzen tat. Oberste Prämisse war also, das eigene Wohl unter das der Gemeinschaft zu stellen und in erster Linie nicht individueller Mensch, sondern funktionierender Teil eines Ganzen zu sein. Alle, die sich nicht in das „harmonische Ganze“ einfügten oder von der vorgegebenen Norm abwichen, musste demnach umerzogen werden – notfalls durch Brechung ihres Willens.

Ein Sechsjähriger wird nach der Schule abgeholt - ohne Vorwarnung

Von 1949 bis 1990 durchliefen 495.000 Minderjährige das Heimsystem der DDR, 135.000 davon waren in einem Spezialheim untergebracht und etwa 3500 im Kombinat der Sonderheime. Insgesamt gab es 662 Heime, davon 456 Normalheime mit 21.259 Plätzen, 168 Spezialheime mit 9364 Plätzen und 38 Jugendwerkhöfe mit 3031 Plätzen.

In die Fänge der „Jugendfürsorge“ gerieten alle Außenseiter: vom sozial schwachen Kind über verwahrloste oder gefährdete Jugendliche und der SED unliebsame (wie Freunde der Beatmusik) bis hin zu tatsächlich kriminellen und auffälligen Jugendlichen. Die Gründe und Familiengeschichten waren dabei absolut irrelevant. Der sechsjährige Ralf Weber beispielsweise kommt ins Heim, weil er sich auf der Straße herumtreibt, während seine alleinerziehende Mutter arbeitet. Er soll „diszipliniert werden“ und wird nach dem Unterricht von der Jugendfürsorge abgeholt. Weder Kind noch Mutter wurden davor informiert.

Der Junge überwindet die Trennung nicht, er wird wieder zum Bettnässer – für die Jugendfürsorge ein Grund, ihn immer härter zu erziehen. Vor versammelter Mannschaft wird er im Speisesaal bloßgestellt: „Wir haben einen Bettnässer. Weber steh’ mal auf. Warum machst du ins Bett?“ Abends darf das Kind nichts mehr trinken. Es muss stundenlang in einer Schale mit kaltem Wasser stehen, bis es auf die Toilette muss. Als auch das nichts nützt, setzen sie auf Selbsterziehung durch die anderen Kinder, stiften sie dazu an, den Jungen für seine „feuchten Ausrutscher“ zu verprügeln.

Solidarität unter den Kindern wurde untergraben

Häufig wurden auch Kollektivstrafen verhängt. Konnte ein Kind beispielsweise das Tempo in der Sportstunde nicht halten, musste die gesamte Gruppe Strafrunden drehen. Dafür wiederum rächten sich die anderen Kinder, indem sie das schwache, wehrlose Kind etwa nachts in seinem Bett unter der Decke gefangen hielten und verprügelten.

Indem die Erziehenden das Kollektiv in die Bestrafungen einbanden oder Gruppenstrafen verhängten, unterbanden sie die Solidarität der Kinder und Jugendlichen untereinander. Das verstärkte noch die Leiden der Heimkinder, die meisten empfanden es als äußerst belastend und demütigend, in einer Atmosphäre von Misstrauen und Angst zu leben, statt Schutz und Trost zu erfahren.

Jeanette Harder erinnert sich an ihre Ankunft im Durchgangsheim Dresden I, nachdem ihre Großmutter das 15-jährige Mädchen beim Jugendamt abgegeben hatte, um sie zu schützen. Von ihrem Stiefvater war sie missbraucht und verprügelt worden. „Dort angekommen, wurden mir erst mal die Haare geschnitten und dann wurde ich in den Waschraum dirigiert, wo ich mich entkleiden musste. Meine Sachen wurden weggenommen und dann wurde ich von den anderen im Durchgangsheim mit einer großen Scheuerbürste und Kernseife geschrubbt.“

Briefe nach draußen unterliegen der Zensur

Fehlverhalten wie Sprechen bei Tisch wurde hart bestraft. Im Kinderheim „Weiße Taube“ in Bollersdorf musste der achtjährige Ralf Weber erfahren, wie ihn die Erzieher seiner Abneigung gegen Suppe wegen „umerziehen“ wollten. Als er sich aus Ekel vor Grießbrei übergeben muss, zwingt ihn sein Erzieher, das Erbrochene wieder zu essen. Der Junge übergibt sich so lange, bis der Erzieher von ihm ablässt. Er erinnert sich später: „Eine alltägliche Szene, die für die Kinder nichts Ungewöhnliches darstellte.“

Den Erziehern oblag auch die Zensur der Post, vielfach wurden Briefe auch beschlagnahmt. Die Heimkinder mussten ihre Briefe vorschreiben, ihrem jeweiligen Erzieher vorlegen und sie danach ins Reine schreiben. Ralf Weber hat noch immer einen Brief, den er als Zwölfjähriger aus dem Heim Werftpfuhl an seine Mutter verfasst und aus dem Heim geschmuggelt hat. Neben seiner Beschreibung, dass er „von Herrn Schwabe mit dem Besenstiel bearbeitet“ worden sei, ist Herrn Schwabes Kommentar zu lesen. Er stellt seinem Schützling die Frage, ob es nicht ein Schrubberstiel statt des Besenstiels gewesen sei. „Die Kontrollsucht meines Erziehers war wohl stärker als die Angst vor seiner Entlarvung“, sagt Ralf Weber.

Das System führte dazu, dass die Kinder weder enge Freundschaften noch vertrauensvolle Bindungen zu den Autoritätspersonen aufbauten. Die Folgen quälen sie ein Leben lang. Nicht nur die traumatischen Erlebnisse belasten die ehemaligen Heimkinder. Aller vertrauensbildenden Erfahrungen beraubt, waren viele unfähig, soziale Bindungen einzugehen. Und es fehlte ihnen vernünftige Schulbildung wie eine solide Berufsausbildung. Oft wurden ihnen Zeugnisse und Ähnliches vorenthalten. Die Chance auf einen Studienplatz und damit den Zugang zu höherwertigen Berufen und Verdienstmöglichkeiten erhielten sie nicht oder nur in den seltensten Fällen.

"Wenn ich Bus fahre, denke ich, dass sie mich wieder wegbringen"

Das den Heimkindern eingebläute Bewusstsein, „nichts wert zu sein“, stellte für die meisten eine unüberwindbare Hürde bei der Bewältigung eines normalen Alltages dar. Viele Heimerzogene können bis heute nicht mit Autoritätspersonen umgehen, wie ein ehemaliges Heimkind erzählt: Er habe als Erwachsener die Begegnung mit Vertretern der Staatsmacht kaum aushalten können, als er eine Anzeige bei der Polizei machen musste, nachdem er ausgeraubt worden war. Viele der ehemaligen Heimkinder sind in Therapie, leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen wie Schlaflosigkeit oder Angstzuständen. „Wenn ich Bus fahre, denke ich, dass sie mich wieder wegbringen. Wenn ich außer Sichtweite meines Hauses spazieren gehe, habe ich Angst, dass sie mich einfangen“, berichtet Norda Kauel.

Viele ehemalige Heimkinder erzählen Ähnliches. Es zeigt, wie nachhaltig ihr Leben zerstört wurde und wie weit sie auch jetzt – Jahrzehnte nach dem Heimaufenthalt – von einem normalen Leben entfernt sind. Zu sehr wird die Vergangenheit als Makel empfunden und zu groß ist die Angst vor erneuter Demütigung.

Dies anzuerkennen und entsprechend mit den Betroffenen umzugehen, ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Gesellschaft und Politik sind gleichermaßen gefragt: Nur wenn deutlich wird, dass Kindern und Jugendlichen in den Einrichtungen der sogenannten Jugendfürsorge der DDR systematisch Unrecht geschah, lässt sich die Grundlage schaffen, auf der sich die Opfer auf sich selbst besinnen und mit ihrer Vergangenheit offen umgehen können.

Die Autorin ist Historikerin und hat für ein Buchprojekt lebensgeschichtliche Interviews mit ehemaligen Heimkindern geführt („Gemeinschaftsfremde“, Zwangserziehung im Nationalsozialismus, in der Bundesrepublik und der DDR, Metropol Verlag, Berlin).

Angelika Benz

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