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Es gibt nicht genügend Ermittler, die sich mit Gewalt gegen Kinder befassen.
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Häusliche Gewalt: Kinder bei Trennungen besonders in Gefahr

Die Gewalt gegen Kinder nimmt weiter zu. Das geht aus der Kriminalstatistik 2016 hervor. Kinder müssen im Durchschnitt acht Erwachsene ansprechen, bevor ihnen geholfen wird.

Von Til Knipper

Es sind erschreckende Zahlen. Jeden Tag werden in Deutschland mindestens zwölf Kinder misshandelt, drei Kinder sterben in der Woche. Das geht aus der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) 2016 hervor. „Wenn wir Zahlen analysieren, müssen wir beachten, dass es dabei um Menschen, um Kinder geht“, sagte Rainer Becker, Vorstandschef der Deutschen Kinderhilfe am Donnerstag – und drängte Politik und Gesellschaft zu schnellem Handeln gegen Gewalt an Kindern.

Die Statistik zeigt: Im Vergleich zum Vorjahr sind die Fälle von Gewalt gegen Kinder erneut gestiegen. Bei der Zahl der Todesopfer gibt es einen Anstieg von 130 Delikten im Jahr 2015 auf 133 im vergangenen Jahr. Rund ein Viertel dieser Tötungen findet im Zusammenhang mit Trennungen der Erziehungsberechtigten statt. Im Jahr 2016 wurden 4237 Misshandlungsfälle angezeigt, das sind rund sieben Prozent mehr als im Jahr 2015 (3950).

Die Deutsche Kinderhilfe sagt: „Prävention braucht Ehrlichkeit“ – und das auf allen Ebenen. Das beginne mit dem allgemeinen Sprachgebrauch, in dem Gewalttaten gegen Kinder oft als eine „Ohrfeige“ verharmlost werden und somit eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den tiefgehenden psychologischen und physischen Auswirkungen verhindert werde. Dieser Ansatz spiegele sich auch im Strafgesetzbuch wider, in dem nicht explizit von schwerer Gewalt gegen Kinder, sondern von Kindesmisshandlung die Rede sei. Eine Sprachanpassung sei hier erforderlich, forderte Becker.

Becker kritisierte Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD), der durch seine neue Gesetzgebung gegen Einbrecher dafür gesorgt habe, dass Einbruch schärfer als sexueller Missbrauch von Kindern bestraft werde. Einbruch werde zurzeit mit mindestens einem Jahr Freiheitsentzug bestraft, wohingegen die Mindeststrafe bei sexuellem Missbrauch bei einem halben Jahr liege. Die Deutsche Kinderhilfe forderte deswegen eine Anpassung der Strafandrohungen bei Gewalt gegen Kinder an das Gesamtsystem der Mindest- und Höchststrafen.

Tatmittel Smartphone

Bei den Zahlen, die die Polizeiliche Kriminalstatistik auswertet, handelt es sich um das sogenannte „Hellfeld“, also um jene Fälle, die auch zur Anzeige gebracht werden. Viele Fälle werden jedoch gar nicht erst zur Polizei getragen, sondern Kinder- und Jugendhilfen gemeldet. Das „Dunkelfeld“ dürfte also weitaus umfangreicher ausfallen. Doch den Anlaufstellen für junge Opfer von Gewalt fehlt es an Ressourcen. Katharina Beckmann, Professorin der Hochschule Koblenz, forderte den Bund dazu auf, für den Schutz der Kinder tiefer in die Tasche zu greifen.

Der digitale Raum hat den Gefahren, denen Kinder ausgesetzt sind, eine neue, kaum zu erfassende Dimension verliehen. Die Psychologin Julia von Weiler von der Organisation „Innocence in Danger“ erklärte, die digitalen Medien hätten sexuelle Gewalt gegen Kinder fundamental verändert, indem sie Tätern unzählige Möglichkeiten eröffneten, sich über die Kinder zu informieren, sie zu kontaktieren und sie dann entweder digital oder analog zu missbrauchen. Das Smartphone wird in diesem Zusammenhang zum „ultimativen Tatmittel“ für Missbrauchstäter. Denn mit einem Smartphone kann hoher psychologischer Druck ausgeübt werden, der es den Kindern schwer macht, sich den Tätern zu entziehen. Missbrauchsbilder von Kindern verbreiten sich im Netz in Windeseile. Das zeigte auch die kürzlich aufgedeckte kinderpornografische Plattform „Elysium“, die nach nur sechs Monaten Laufzeit mehr als 87000 Nutzer verzeichnete. Für Weiler hat die bessere Ausstattung der Strafverfolgungsbehörden deswegen hohe Priorität.

Dass die Zeit drängt, geht aus der Einschätzung des Juristen Andreas May von der hessischen Generalstaatsanwaltschaft, Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität in Frankfurt am Main, hervor: Die Behörden seien mit „Verfahren bereits so überlastet, dass es kaum noch möglich ist, über den eigenen Tellerrand zu blicken“. Da die Aufdeckung der Delikte liegt bei der Polizei, ihre Überlastung wirkt sich gravierend auf die Lage der Kinder aus.

Laut Weiler muss ein Kind im Durchschnitt acht Erwachsene ansprechen, bis ihm geholfen wird. Gewalt gegen Kinder bleibt demnach nach wie vor ein von der Öffentlichkeit unterschätztes und zu wenig adressiertes Alltagsphänomen. Worauf Experten hinweisen: Auch als nicht betroffener Erwachsener kann man zum Schutz der Kinder vor allem eins tun: ihre Sorgen ernst nehmen.

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