POSITION: "Das Variantensterben ist so gefährlich wie das Artensterben"
Die Verluste an Vielfalt sind bedrohlich – selbst wenn keine Art ausstirbt. Ein Gastbeitrag.
Das Thema Artensterben hat durch den kürzlich in Paris vorgelegten Bericht des Weltbiodiversitätsrats weiter an Sichtbarkeit in der medialen und politischen Diskussion gewonnen. Der Bericht enthält schockierende Prognosen: Eine Million Pflanzen- und Tierarten sind in den kommenden Jahren und Jahrzehnten vom Aussterben bedroht. Doch es geht nicht nur darum, dass eine Million Arten komplett von unserem Planeten verschwinden werden, wenn die Menschheit nicht endlich handelt. Tatsächlich ist das Artensterben schon jetzt viel dramatischer, als bislang diskutiert. Viele früher weit verbreitete Pflanzenarten sind aus den Landschaften vor unserer eigenen Haustür verschwunden und heute nur noch in vereinzelten Populationen vorhanden. Diese Arten erfahren dadurch massive Verluste ihrer genetischen Vielfalt. Dadurch wird die Überlebensfähigkeit dieser Arten für die Zukunft eingeschränkt - und auch die Möglichkeiten des Menschen, sie zu nutzen!
Die Tage mancher Arnika-Varianten sind gezählt
Ein Beispiel: Der als Heilpflanze bekannte Korbblütler Arnika (Arnica montana) kam bis in die 1990er Jahre in den meisten Naturräumen Deutschlands vor. Heute ist die Art nur noch in den Alpen häufig, in den Mittelgebirgen selten und im Tiefland fast ausgestorben. In einem Forschungsprojekt des Botanischen Gartens Berlin haben wir Arnika-Populationen in ganz Deutschland genetisch analysiert. Dabei haben wir sozusagen einen genetischen Fingerabdruck der Pflanzen genommen und festgestellt, dass sich die Populationen von Norddeutschland bis in die Alpen deutlich unterscheiden. Die Arnika, die nahe der Ostsee vorkommt, ist nicht die gleiche wie in den Mittelgebirgen oder den Alpen. Dazu kommt, dass kleine, isolierte Populationen von Arnika bereits genetisch verarmt sind, und sich kaum noch durch Samen reproduzieren. Ihre Tage sind gezählt.
Welche Folgen hat diese genetische Verarmung? Arten wie die Arnika werden sich in Zukunft nicht mehr so gut an wechselnde Umweltbedingungen anpassen können. Gerade das wäre aber gerade jetzt, etwa angesichts des Klimawandels, besonders wichtig. Bleiben wir konkret bei unserer Beispielart: Die Arnika-Varianten des Tieflandes kommen mit wärmeren Bedingungen gut zurecht. Gerade sie könnten also ein großes Potential für das Überleben der Art haben. In einer sich ändernden Umwelt brauchen Arten genetische Vielfalt zum Überleben. Im Laufe der natürlichen Evolution haben sich die Pflanzen im Wechselspiel zwischen Genen und Umwelt regional angepasst. Es reicht daher nicht, wenn die Art nur in den Alpen überlebt. Es gibt drei Ebenen der biologischen Vielfalt, der Biodiversität: Die Vielfalt der Gene innerhalb von Arten, die Vielfalt der Arten, und die Vielfalt der Lebensräume. Es geht also nicht nur um die Zahl der Arten.
Ein paar Samen zu streuen rettet nicht die Welt
Das Thema „Biologische Vielfalt“ ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Das zeigt die aktuelle Diskussion zum Insektensterben. Auch Unternehmen entdecken es als verkaufsfördernd, Tüten mit bunt zusammengestellten Pflanzensamen als Beigabe zu Konsumgütern zu legen, um etwas gegen das Insektensterben zu tun. Doch mit solchen Aktionen wird auch suggeriert, dass es eine schnelle Lösung für ein komplexes Problem gibt, und das Gewissen von Anbieter und Verbraucher wird beruhigt. Doch ein paar Samen zu streuen rettet nicht die Welt.
Wir brauchen einen ganzheitlichen Ansatz, der Arten und Natur wirklich Überlebenschancen gibt. Alle Organismengruppen sind vom Sterben betroffen. Neben dem Insektensterben gibt es eben etwa längst auch ein Pflanzensterben. Pflanzen spielen eine besondere Rolle in Lebensräumen, denn sie produzieren die Biomasse, von der viele andere Organismen abhängen. Und dazu gehört auch unsere Spezies Mensch. Pflanzen sind Grundlage unserer Ernährung, sie sind unersetzlich als Rohstoffe und wegen ihrer Rolle im Naturhaushalt und – Arnika ist ein Beispiel – in der Medizin. Und nicht zu vergessen: Um wirksame Maßnahmen umzusetzen, ist Wissen über Pflanzen und andere Organismen und deren Beziehungen zueinander nötig. Solch echtes ökologisches Wissen sollte auch möglichst breit in unserer Gesellschaft vorhanden sein!
Was können wir in Deutschland tun?
Wir müssen die artenreichen Lebensräume und Vorkommen seltener Arten überall dort sichern, wo sie noch vorhanden sind. Damit kann auch erreicht werden, dass die genetische Variabilität weiter verfügbar ist. Viele Arten haben nur so langfristig eine Überlebenschance.
Wir brauchen wissenschaftlich fundierte, gezielte Artenschutz-Strategien, auch bei Pflanzen. Hierbei müssen Prioritäten gesetzt werden. Die Erfahrungen aus bisherigen Artenschutz-Projekten zeigen aber, dass gute Erfolge möglich sind.
Wir müssen ganzheitlich vorgehen: Insektenschutz ist vor allem Schutz und Wiederherstellung der natürlichen Lebensräume von Insekten. Pflanzenvielfalt ist hier der Schlüssel, denn gerade seltene Insekten sind auf seltene Pflanzen spezialisiert. Ein globales Umdenken bei Konsum, Landwirtschaft und Mobilität würde ebenso gegen das Artensterben helfen. Denn viele Arten sterben selbst in den Schutzgebieten, etwa durch Substanzen aus der Landwirtschaft. Und Artenschutz ist auch Klimaschutz: Wer etwa Moore, Feuchtgebiete, und Feuchtgrünland entwässert, zerstört nicht nur Artenvielfalt sondern setzt auch viel CO2 frei.
Noch ist es nicht zu spät, aber wir können uns weitere Verluste nicht leisten. Wir brauchen keine Samentüten, sondern konsequente politische Weichenstellung, möglichst international. Und wir müssen alle aktiv werden! Denn Verursacher des großen Sterbens ist der Mensch.
Der Autor ist Direktor des Botanischen Gartens und Botanischen Museums Berlin sowie Professor für Systematik und Biogeografie der Pflanzen an der Freien Universität. Er leitet mehrere Projekte zum Thema Artenvielfalt.
Thomas Borsch