Bericht zur Artenvielfalt: Eine Million und eine bedrohte Art
Der Bericht des Weltbiodiversitätsrats ist dramatisch: Der Mensch zerstört die Natur so stark, dass er selbst gefährdet ist.
Die natürliche Vielfalt geht weltweit so stark zurück wie noch nie, seit der Mensch die Erde bewohnt. Der größte Treiber dieses Verlusts ist die intensive Landnutzung. Insgesamt hat sich das globale Artensterben in einem Maße beschleunigt, dass es die Existenz des Menschen selbst bedroht.
Das geht aus einem international abgestimmten Papier hervor, in dem die Kernaussagen zur globalen Artenvielfalt enthalten sind und das am Montagmittag in Paris vorgestellt wurde. Auf die 39-seitige Zusammenfassung hatten sich die 132 Mitgliedsstaaten des Weltbiodiversitätsrats IPBES am Samstag geeinigt. Der "Global Assessment Report" selbst ist etwa 1800 Seiten stark. Es ist der erste globale Bericht zur weltweiten Artenvielfalt seit 14 Jahren und der umfangreichste bisher. Dafür haben 145 Wissenschaftler aus 50 Ländern in drei Jahren intensiver Arbeit mehr als 15.000 Studien und andere Quellen ausgewertet und eine Bilanz der Biodiversität über die letzten 50 Jahre gezogen.
Eine Million Arten vom Aussterben bedroht
Der Bericht zeichnet ein düsteres Bild vom Zustand der Erde. Demnach sind von den geschätzten acht Millionen Tier- und Pflanzenarten bis zu einer Million vom Aussterben bedroht, viele davon bereits in den kommenden Jahrzehnten. Schon heute leben auf der Welt durchschnittlich etwa 20 Prozent weniger Arten als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mehr als 40 Prozent der Amphibienarten, 33 Prozent aller riffbildenden Korallen sowie mehr als ein Drittel aller Meeressäugetiere sind bedroht. Außerdem seien seit dem 16. Jahrhundert mindestens 680 Wirbeltierarten ausgestorben sowie mehr als neun Prozent aller domestizierten Säugetierrassen, die für Ernährung und Landwirtschaft verwendet werden.
Zusätzlich seien drei Viertel der Landfläche und zwei Drittel der Meere entscheidend durch den Menschen verändert worden. Diese negativen Veränderungen seien weit weniger gravierend oder nicht existent in Gebieten, die von indigenen Völkern oder lokalen Gemeinschaften verwaltet wurden.
"Das Netz ist bis zum Zerreißen belastet"
Die Autoren haben auf Grundlage der verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz erstmals die fünf wichtigsten Faktoren für diese Entwicklungen zusammengetragen. In absteigender Reihenfolge ihrer Bedeutung handelt es sich dabei um veränderte Land- und Meeresnutzung, direkte Nutzung von Pflanzen und Tieren, Klimawandel sowie Verschmutzung und invasive Arten. Zumindest in einigen Bereichen, betonen die Forscher, werde aber der Klimawandel in den nächsten Jahrzehnten wieder an die Spitze der Bedeutung rücken.
Außerdem seien bisher seien nur vier der 20 Aichi-Ziele erreicht, die 2010 in Japan verabschiedet wurden. Bis 2020 sollte unter anderem der Verlust an natürlichen Lebensräumen halbiert, die Überfischung der Weltmeere gestoppt sowie 17 Prozent der Landfläche und zehn Prozent der Meere unter Schutz gestellt werden. Im IPBES-Bericht heißt es, die meisten der Ziele seien bis 2020 nicht mehr zu erreichen.
"Die Biodiversität und die Naturgaben für den Menschen sind unser gemeinsames Erbe und das wichtigste Sicherheitsnetz für das Überleben der Menschheit", erklärte die Argentinierin Sandra Díaz. Dieses Netz sei jedoch inzwischen bis fast zum Zerreißen belastet. Díaz, Ökologin an der Nationalen Universität Córdoba, ist neben Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Halle und dem brasilianischen Anthropologen Eduardo Brondízio Hauptautorin des IPBES-Berichts. "Das essenzielle Netz des Lebens wird kleiner und franst immer mehr aus", sagte Settele "Dieser Verlust ist eine direkte Folge menschlichen Handelns und stellt eine direkte Bedrohung für das menschliche Wohlbefinden in allen Regionen der Welt dar."
Schuld ist der Mensch
Zahlreiche der im Bericht aufgelisteten Entwicklungen hängen eng mit dem rasanten Wachstum der Weltbevölkerung zusammen. So haben sich die landwirtschaftlichen Ernteerträge seit 1970 verdreifacht und der Holzeinschlag nahezu verdoppelt. 60 Milliarden Tonnen erneuerbare und nicht erneuerbare Rohstoffe und Ressourcen werden alljährlich abgebaut – fast doppelt so viele wie noch 1980.
Die mit Städten bebaute Gesamtfläche ist inzwischen mehr als doppelt so groß wie noch 1992. Gar verzehnfacht hat sich seit 1980 die Plastikmüll-Verschmutzung, zudem gelangen Unmengen Schwermetalle, Gifte und andere Abfallstoffe aus Fabriken in Gewässer, wie es in dem Bericht heißt.
Derart seien die negativen Entwicklungen bei der Artenvielfalt, dass sie sich negativ auf den Menschen auswirken werden. So seien – wenn der Mensch weiter in dieser Geschwindigkeit seine Lebensgrundlage zerstört – bis zu 80 Prozent der von den Vereinten Nationen festgelegten Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals) bedroht. Immer wieder betonen die Autoren, dass der Verlust an Biodiversität nicht nur ein reines Umweltthema ist, sondern auch eine Bedrohung für die globale Entwicklung, Wirtschaft und Sicherheit darstellt.
Abkehr vom Paradigma des Wirtschaftswachstums
Aus dem Bericht geht auch hervor, dass die gegenwärtigen Bemühungen der Menschheit nicht ausreichen, diese Entwicklungen aufzuhalten. Das sei – analog zum Sonderbericht des Weltklimarats vom vergangenen Jahr – nur möglich, wenn auf wirtschaftlicher, sozialer, politischer und technologischer Ebene unverzüglich und konsequent gegengesteuert werde.
Dies sei das einzige Szenario, in dem der Rückgang der Natur gestoppt werden könne. In allen anderen von den Wissenschaftlern betrachteten Szenarien werde sich der negative Trend weit über das Jahr 2050 fortsetzen. Die Forscher nennen auch mögliche Maßnahmen, die die Politik nun ergreifen müsse. Ein Schlüssel dabei sei, eine global nachhaltige Wirtschaft anzustreben und sich von dem gegenwärtigen Paradigma ökonomischen Wachstums zu verabschieden.
"Der Rückgang der Biodiversität ist dramatisch und global. Die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt wie auch die EU-Strategie zur biologischen Vielfalt sind grandios gescheitert", sagte Teja Tscharntke, Leiterin der Abteilung für Agrarökologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Die deutsche und europäische Biodiversitäts-Strategie sei ein Papiertiger, der viel zu wenige Fortschritte gebracht habe.
"Wir müssen jetzt handeln"
"Biodiversität und Ökosystemfunktion sind Grundlage unserer Existenz. Die Signale an die politischen Entscheidungsträger sind eindeutig: Wir müssen jetzt handeln, wir müssen schnell handeln, und wir müssen gemeinsam handeln, um diese Existenzgrundlage zu erhalten und bereits geschwächte Aspekte wieder zu verbessern", sagte Almuth Arneth, Leiterin der Abteilung für Ökosystem-Atmosphäre Wechselwirkung am Institut für Meteorologie und Klimaforschung am Karlsruher Institut für Technologie und Leitautorin des IPBES-Reports. Dies seien enorme Herausforderungen. "Aber ein weiterer Verzug zu Handeln macht diese Herausforderungen nicht einfacher und birgt große Risiken unumkehrbarerer Verluste essenzieller Ökosystemleistungen."
Ähnlich den Papieren des Weltrats IPCC für den Klimawandel soll der Artenvielfalt-Bericht einen international akzeptierten Sachstand zur Lage und zu möglichen Lösungen schaffen. Beteiligte Forscher hoffen, dem Artenschutz damit neuen Aufwind verleihen und einen Wandel Richtung nachhaltige Entwicklung anstoßen zu können. Besonders wichtig ist der Report für die Weltartenschutzkonferenz 2020 in China. Dort sollen die Eckpunkte für den weltweiten Artenschutz nach 2020 festgelegt werden. (mit dpa, smc)