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Weggespült. An Berghängen sind die Schäden durch Starkregen besonders gravierend. Aber auch Städte in der Ebene – wie Berlin – werden nicht verschont.
© Jörg Carstensen, dpa

Vorsorge: Das Sturzflut-Problem

Wenn sich nach heftigem Regen Sturzbäche ihren Weg durch Dörfer und Städte bahnen, kann das gravierende Schäden verursachen und Menschenleben kosten. Doch in vielen Gemeinden fehlt das Risikobewusstsein.

2016 ist das Jahr der Sturzfluten. Am 29. Mai wurde Braunsbach in Baden-Württemberg unter Wasser gesetzt, am 1. Juni Simbach in Ostbayern. Mehrere Menschen kamen ums Leben. Dort und in anderen Regionen verursachten Gewitter in den letzten Monaten immer wieder Sturzbäche: Die Wassermassen schossen häufig Berghänge hinunter und überfluteten blitzschnell die Ortschaften im Tal. Aber auch Städte in der Ebene wurden nicht verschont. Am 27. Juli standen in Berlin etliche Straßen unter Wasser. Im Gleimtunnel – eine Unterführung zwischen Wedding und Prenzlauer Berg – schwammen gar Autos davon.

Die Ursache dieser sehr kleinräumigen Überflutungen waren Gewitter, aus denen in kurzer Zeit riesige Regenmengen fielen. Der Deutsche Wetterdienst warnt vor unwetterartigem Starkregen, wenn pro Stunde mehr als 25 Liter pro Quadratmeter zusammenkommen (oder mehr als 35 Liter in sechs Stunden). Dieses Kriterium war in den letzten Monaten nur zu oft erfüllt. Teils fiel in wenigen Stunden mehr als 100 Liter Regen pro Quadratmeter. In kleinen Gebieten zwar, doch mit desaströsen Folgen. Aufgrund der globalen Erwärmung dürften solche Extremereignisse im Laufe des 21. Jahrhunderts allmählich häufiger werden, kann man vielen Studien entnehmen. In zahlreichen Kommunen, die durch Starkregen-Überschwemmungen bedroht sind, ist man sich der Gefahr noch nicht bewusst.

In Berlin sollen künftig einzelne Bezirke gewarnt werden

Immerhin wollen mehrere große Behörden und einzelne Städte und Gemeinden das Sturzflut-Problem besser in den Griff bekommen. Zum Beispiel werden die Warnungen vor Starkregen genauer: Mitte Juli gab der Deutsche Wetterdienst mit Sitz in Offenbach bekannt, er warne künftig nicht mehr auf Ebene der 400 Landkreise und kreisfreien Städte vor Unwettern, sondern auf Ebene der 11000 Gemeinden. „In Berlin werden künftig einzelne Bezirke gewarnt“, erläutert Wetterdienst-Sprecher Andreas Friedrich. Bei kleinräumigen Unwettern versetzt man also nicht mehr den gesamten Landkreis in Aufruhr. In der Vergangenheit hatten das die Einwohner nicht betroffener Gebiete oft als Fehlalarm wahrgenommen. Und Fehlalarme mindern die Aufmerksamkeit.

„Die Verfeinerung des Warnsystems haben wir über Jahre vorbereitet“, sagt Friedrich. Zum einen seien die Modelle zur Vorhersage genauer geworden. Außerdem habe der Wetterdienst neue Radargeräte installiert, mit denen sich jetzt auch Regen von Hagel unterscheiden lasse. Eine moderne Übermittlung der Alarme ist ebenfalls gewährleistet: Über die „WarnWetter“-App erreichen die verfeinerten Warnungen des Wetterdiensts derzeit mehr als drei Millionen Nutzer.

Die Crux bei lokalen Starkregen ist bloß, dass die lokalen Warnungen oft sehr kurzfristig kommen. „Die Gewitterzellen explodieren zu schnell“, sagt Friedrich. Innerhalb weniger Minuten schießt eine neue Wolke in den Himmel. Kurz darauf setzt der Starkregen ein. Die Radarbilder zeigen das sofort. Aber bis der Wetterdienst eine örtliche Warnung absetzt, beginnt das Wasser manchmal schon, die Hänge herunterzuströmen.

Die Hochwasserzentralen konzentrieren sich auf Flutschäden durch Flüsse

Von den Hochwasservorhersagezentralen der Bundesländer eine Vorhersage lokaler Sturzfluten zu erwarten, wäre in jedem Fall zu viel verlangt. Diese Institutionen befassen sich vorrangig mit großräumigen Überschwemmungen, die Flüsse wie Elbe oder Main und deren Nebenflüsse hervorrufen. Ihre Modelle zur Pegelvorhersage basieren auf den Regenvorhersagen von Wetterdiensten. Rasche kleinräumige Gewitterbildungen lassen sich aber heute selbst mit den besten Computern nicht verlässlich prognostizieren. „Lokale Vorhersagen sind brutal schwer – wenn überhaupt, dann geht das nur mit Verwendung von Regenradar“, sagt die Hydrologin Ute Badde von der Zentrale für Baden-Württemberg in Karlsruhe.

Nach Angaben der Versicherungen geht allerdings rund die Hälfte aller Flutschäden in Deutschland auf lokale Überschwemmungen durch Starkregen und nicht auf auf Flusshochwasser zurück. Gefährdete Kommunen wären also gut beraten, sich mit dem Thema im Sinne der Vorsorge auseinanderzusetzen.

Im Prinzip gibt es seit Ende 2015 in allen Bundesländern Karten, welche die Hochwasserrisiken und ihre Folgen zeigen. Sie wurden aufgrund einer EU-Richtlinie von 2007 erstellt. Doch in den Gefahrenkarten sind nur Flächen eingezeichnet, die von existierenden Gewässern überflutet werden können. Extremer Starkregen lässt aber oft neue Sturzbäche fließen. Die davon betroffenen Straßenzüge verraten die Karten nicht.

Wie das Wasser abfließt, ist in jeder Kommune anders

Oliver Buchholz kennt die Geschichte der Hochwassergefahrenkarten, denn der Hydrologe arbeitet als geschäftsführender Gesellschafter des Ingenieurunternehmens für Wasser und Umwelt „Hydrotec“ in Aachen. Die Bundesländer hätten sich geeinigt, die Gefahr durch Starkregen in den Hochwassergefahrenkarten nicht darzustellen, erzählt er. Der Aufwand wäre enorm, denn Starkregen kann jede Kommune treffen. Außerdem habe die Methodik gefehlt. Nötig sei eine detaillierte und maßgeschneiderte Modellierung des lokal abfließenden Wassers. Das beherrschen derzeit vor allem spezialisierte Firmen oder Institute, die von den Gemeinden beauftragt werden.

Viele Kommunen in Deutschland scheuen diesen Aufwand. Nur für eine Handvoll Städte und Gemeinden liegen daher Karten für die Bedrohung durch Starkregen vor. Hydrotec hat zum Beispiel mögliche Starkregen-Überflutungsflächen in Düsseldorf und in Wachtberg bei Bonn modelliert. Für die Stadt Berlin existiert noch kein vergleichbares Kartenwerk. Die Karten fehlen vor allem in vielen Gemeinden in den Mittelgebirgen und in Süddeutschland, wo die Gefahr von Starkregen gemäß meteorologischen Studien besonders groß ist.

Die meisten Gemeinden melden sich erst nach einer Katastrophe

Eine wesentliche Grundlage von Sturzflutmodellierungen sind digitale Geländedaten. Sie werden mithilfe von Lasermessungen vom Flugzeug aus aufgenommen. Das daraus entstandene Strömungsmodell hat meist eine räumliche Auflösung von ungefähr einem Meter. Je nach Bedarf werden Rohrdurchlässe unter Straßen und Mauern sowie die Maße von Rohrleitungen berücksichtigt. „Dafür muss man mit großem Aufwand die Daten aufbereiten“, sagt Buchholz.

Ähnliche Modellierungen führt die Firma „Geomer“ mit Sitz in Heidelberg durch. Ihr Paradeprojekt sind die Gefahrenkarten und das Risikomanagement für das Einzugsgebiet des Flüsschens Glems nahe Stuttgart. Leider würden sich die Gemeinden oft erst melden, wenn bereits eine Katastrophe passiert sei, sagt André Assmann von Geomer. An der Glems hatten im Juli 2010 viele Gemeinden schlagartig unter Wasser gestanden.

Das Landesamt für Umwelt, Messungen und Naturschutz von Baden-Württemberg hat nun einen Leitfaden für die Vorsorge herausgegeben. Er soll den Gemeinden nicht nur bei der Erstellung von Risikokarten helfen; die Folgen von Starkregen müssen etwa auch bei der Planung von Neubaugebieten in Betracht gezogen werden. Damit ist nicht nur gemeint, die Kanalisation anzupassen. Schließlich sind die Wassermengen, die bei extremem Starkregen anfallen, damit ohnehin nicht komplett zu bewältigen. Vorsorge kann zum Beispiel bedeuten, Bordsteine mit Lücken zu versehen, um zusätzliche Abflusswege zu schaffen. Zudem wird empfohlen, Kellergeschosse besser vor Hochwasser zu schützen.

Bei manchen Extremereignissen bleibt nur eines: evakuieren

Über die Frühwarnung wird noch diskutiert. Manche Fachleute fordern, dass regionale öffentlich-rechtliche Fernsehsender ihr Programm für Warnungen unterbrechen müssten, wenn irgendwo in ihrem Sendegebiet eine Sturzflut drohe. So weit wird es vielleicht nicht kommen. Doch zumindest die Einblendung eines Laufbands fänden viele Experten gut. Assmann glaubt, dass sich Warnungen per Smartphone in den Gemeinden rasch herumsprechen würden. Sirenen gebe es ja oft nicht mehr. Eine Alternative seien Durchsagen per Lautsprecherwagen der Polizei oder der Feuerwehr.

Am wichtigsten sei, dass als Erstes die kritischen Einrichtungen informiert werden – zum Beispiel Kindergärten oder Firmen mit teurer Technik, sagt Assmann. Über eine Evakuierung hinaus könnten dann wasserdichte Türen verriegelt werden. Rückblickend auf Braunsbach empfiehlt er aber, die Möglichkeiten realistisch einzuschätzen: Mit gutem Risikomanagement hätte man in Braunsbach vielleicht einen Teil der Schäden verringern können, meint Assmann. „Aber bei so einem Extrem – da kann man nur noch evakuieren.“

Sven Titz

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