Wie Jugendliche lernen: Das pubertäre Hirn hungert nach Erfahrung
Im Teenager-Alter baut das Gehirn sich um. Das birgt auch neue Potenziale fürs Lernen. Ein Gastbeitrag.
Teenager sind anstrengend, antriebslos, schwierig und unvernünftig. Sie sind vergesslich, unorganisiert, schnell beleidigt, bleiben abends zu lange wach und sind morgens übermüdet. Das sind nur einige der Treffer, die eine Google-Suche zum Stichwort „Teenager“ erbringt, die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Sie ist sicher nicht falsch, und doch tut sie der Jugendphase auch Unrecht: Die Teenagerjahre bilden nämlich eine besonders wertvolle Phase und sind, etwa im Hinblick auf die sprachliche Entwicklung, voller Potenzial und Chancen.
In der Pubertät wartet das Gehirn, ähnlich wie in der frühen Kindheit, geradezu hungrig auf Erfahrungen. Anders als die frühkindliche Phase, deren Bedeutung kaum jemand infrage stellt, wird aber die Pubertät bisher zu selten unter der Perspektive ihrer Entwicklungschancen betrachtet. Das ist einerseits nachvollziehbar, andererseits bedauerlich, zumal ein stärkeorientierter Blick bekanntlich dann besonders gut tut, wenn die Stärken nicht direkt ins Auge fallen. Und bei Heranwachsenden fallen eben, das zeigt die einleitende Aufzählung, eher andere Dinge auf.
Etwa ab dem zehnten beziehungsweise zwölften Lebensjahr beginnen Kinder sich zu verändern – Mädchen früher als Jungen. Die Pubertät ist da! In Fachbüchern kann man nachlesen, wie der Hypothalamus im Gehirn den Anstoß dafür gibt, dass es zur Ausschüttung von Hormonen und einer Kaskade von Botenstoffen kommt, durch die die Pubertät ausgelöst wird. Deren Dauer kann übrigens zwischen mindestens einem und maximal sechs Jahren variieren.
In der Kindheit geht es für das Gehirn um Quantität, in der Pubertät um Qualität
Im Gehirn wird umfangreich umstrukturiert: Während es in der Kindheit auf Quantität, also auf möglichst vielfältige Impulse, gesetzt hat, schaltet es in der Pubertät auf Qualität und damit auf Effizienz um. Verbindungen, die nicht oder selten gebraucht werden, werden rückgebaut. Für das aber, womit sich der junge Mensch befasst, werden Strukturen im Gehirn gefestigt, ausgebaut und effizient organisiert. Der/die Jugendliche schafft sich eine maßgeschneiderte Hirnarchitektur.
Man könnte die Vorgänge im jugendlichen Gehirn mit einem Frühjahrsputz samt Entrümpelung vergleichen: Über die Jahre haben sich Dinge angesammelt, die bei genauer Betrachtung gar nicht benutzt werden und nur im Weg stehen. Es macht daher Sinn, einmal konsequent zu prüfen, was aktuell genutzt und wohl auch künftig gebraucht wird, wie man das am besten einrichtet und anordnet, wo man Platz für Neues schafft und dafür Ballast aus dem Weg.
Das jugendliche Gehirn strukturiert sich systematisch von hinten nach vorne um. Beim Frontalhirn dauert der Umbau, durch den vom Modus Kind auf den Modus Erwachsener umgeschaltet wird, besonders lang. Da in den frontalen Regionen hinter der Stirn wichtige Funktionen wie Risikoabschätzung, Emotionsregulation, Handlungsplanung etcetera verortet sind, muss es nicht wundern, wenn Jugendlichen derlei manchmal schwer fällt.
Die Umbauarbeiten im Gehirn führen dazu, dass Emotionen sozusagen schneller am Start sind als die kognitive Kontrolle: Eine alte Hirnstruktur, die Amygdala, die eine rasche emotionale Analyse erbringen und dann eigentlich mit frontalen Regionen zusammenarbeiten soll, agiert in der Jugendzeit sozusagen ohne voll funktionsfähige Kontrollinstanz. Dies erklärt, warum „erst denken, dann reden“ oder „erst denken, dann handeln“ keine natürliche Stärke von Jugendlichen darstellt.
Risikofreude ist nicht immer eine Gefahr
Die oft von Heranwachsenden gezeigte Risikofreudigkeit steht ebenfalls mit der spät abgeschlossenen Umstrukturierung des Stirnhirns in Verbindung. Sie ist für manche Entwicklungen wertvoll: So erlernen Jugendliche neue Sportarten oft schneller als Erwachsene und nutzen ihr bis zum Einsetzen der Pubertät schon erreichtes motorisches Vermögen. Die Risikofreude stellt also hier und da ein Potenzial dar und nicht immer eine Gefahr.
Schließlich steht das Suchen von extremeren Erfahrungen in der Jugendzeit auch in Verbindung mit Veränderungen im Belohnungssystem, das ebenfalls von den Umbauprozessen betroffen ist: Die Sensibilität für den Botenstoff Dopamin (Motivation, Belohnungserwartung und so weiter) nimmt ab, das bedeutet zwar nicht, dass Heranwachsende nicht mehr begeisterungsfähig wären oder sich motiviert zeigen könnten, aber es erklärt, warum sie schneller gelangweilt oder antriebslos sind und mitunter nach extremeren Erfahrungen suchen.
Einiges, was sie noch in Kindheitstagen begeistern konnte, erreicht nicht mehr die Schwelle dessen, wo sich Belohnungserleben einstellt. Das soll nicht heißen, dass Lehrkräfte angehalten wären, sich extreme Lernerfahrungen auszudenken, sondern auf Lernangebote zu setzen, die angemessen herausfordern, Selbstwirksamkeit, Selbstbestimmung und das Erleben sozialer Eingebundenheit ermöglichen.
Die Fähigkeit zum abstrakten Denken nimmt zu
Der Umbau des Belohnungssystems geht übrigens mit Hirnanpassungsprozessen einher, die eine Weiterentwicklung der Fähigkeit zum abstrakten Denken zur Folge haben. In der Pubertät nehmen die Fähigkeit zum abstrakten Denken sowie die Komplexität des Denkens und Fühlens zu. Das ist eine entscheidende, für weiteres Lernen wertvolle Entwicklung und Ressource.
Bemerkenswerter Weise macht auch die Kreativitätsentwicklung in der Jugend Fortschritte. Sie erreicht um das 16. Lebensjahr herum einen Höchststand. Dies mag erstaunen, denn es scheint vielen Jugendlichen zu gelingen, ihre hohe Kreativität zum Beispiel vor ihren Lehrkräften geheim zu halten. Möglicherweise aber sind sie sich selbst dieses Potenzials gar nicht bewusst und bräuchten einen äußeren Anstoß.
Zusammenfassend lässt sich zu den Umbauarbeiten festhalten, dass es sich um Optimierungsprozesse handelt. Wie jede Umbaumaßnahme, führt auch die im jugendlichen Gehirn für einige Zeit zu Ersatzlösungen und Umleitungen, aber der Umbau ist höchst sinnvoll, die Investitionen sind lohnend. Bildungsangebote, altersgerechte Arbeitsformen und Aufgabenformate, die etwa die Motorik oder die Kreativität einschließlich des flexiblen Denkens etcetera herausfordern, können wichtige Impulse geben.
Die Erträge zeigen sich zwar mitunter erst später, aber davon sollten sich Impulsgeber wie Eltern und Lehrkräfte nicht entmutigen lassen. Durch geeignete Anregungen und Herausforderungen, nicht jedoch durch Überforderung, können die Qualität und die Geschwindigkeit der Entwicklungen im Jugendalter beeinflusst und unterstützt werden. Am besten funktioniert Lernen, wenn der oder die Jugendliche die Relevanz von Bildungsangeboten erkennt und wenn der Wunsch geweckt werden kann, etwas können zu wollen. Die höhere Risikobereitschaft kann mutiger machen, sich Neues zu erschließen.
Das Fortschreiten der Kognitions- und der Kreativitätsentwicklung eröffnet Potenziale, die jüngeren Lernern noch nicht in vergleichbarer Weise zur Verfügung stehen.
"Freewriting" zielt auf Kreativität
Wie aber können diese Potenziale genutzt werden? Beispielsweise gelingt es vielen Heranwachsenden besser, sich aktiv im Unterricht einzubringen, wenn ihnen nach einem Impuls oder einer Frage der Lehrkraft zuerst eine kurze Bedenkzeit gegeben wird, bevor sie antworten sollen. Das mindert Druck und erlaubt es den Lernenden, die im Jugendalter besonders darauf achten, sich nicht vor Gleichaltrigen zu blamieren, ihre Gedanken zu sortieren und zu überlegen, wie sie etwas sagen möchten.
Beim Einstieg in ein neues Thema können Lernende dazu aufgefordert werden, zwei Minuten lang aufzuschreiben, was ihnen zum Thema in den Sinn kommt. Die Aktivität nennt sich Freewriting und die Regeln besagen, dass der Stift nicht abgesetzt, der Schreibvorgang nicht eher unterbrochen werden darf, bevor die zwei Minuten vergangen sind. Freewriting zielt auf kognitive Aktivierung, auf das Reaktivieren bereits gespeicherten Wissens und das Mobilisieren von Erfahrungen, Fragen und Ideen, das heißt. Freewriting zielt auch auf Kreativität.
Die Autorin ist Professorin für die Didaktik des Englischen an der FU Berlin. Ihr neues Buch (zusammen mit Heiner Böttger) befasst sich mit der Gestaltung von Fremdsprachenunterricht mit Jugendlichen: Sprachen lernen in der Pubertät. Narr Verlag, 250 Seiten, 24,99 Euro ISBN 978-3-8233-8049-8.
Michaela Sambanis