Experten wollen „Zeit gewinnen“: Das Coronavirus könnte als schwere Grippewelle nach Deutschland kommen
Wenn sich der neue Erreger hier verbreitet, dann am ehesten wie eine zweite Influenza, meinen Forscher. Für das Gesundheitssystem könnte das schwierig werden.
Nach immer neuen Fällen des neuen Coronavirus Sars-CoV-2 ist immer noch nicht klar, wie sich der Ausbruch weiterentwickelt. Die Chance, dass das Virus sich noch in China eindämmen lässt, besteht noch, aber sie wird jeden Tag kleiner. Manche Forscher gehen davon aus, dass wir uns bereits in der Frühphase einer Pandemie befinden, etwa Neil Ferguson vom Imperial College London.
Auch der Charité-Virologe Christian Drosten sagt, man müsse sich auf eine Pandemie einstellen. Aber was heißt das? Wie würde es konkret aussehen, wenn das Virus sich auch in Deutschland weiter verbreitet?
Pandemie klingt erst einmal nach Tod und Verderben. Nach der Spanischen Grippe zum Beispiel, der 1918 weltweit wohl mehr als 50 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Aber nicht jede Pandemie läuft so verheerend ab. Breitet sich das neue Virus in Deutschland aus, könnte sich das auch als Grippewelle bemerkbar machen, die für die meisten als Erkältung abläuft und nur für manche lebensgefährlich wird.
Wenn eine Covid-19-Pandemie kommen sollte, gehe man hierzulande derzeit am ehesten von einer schweren Grippewelle aus, sagte der Präsident des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler, am Donnerstagabend in Berlin. Und für dieses Szenario spricht einiges, was man bisher über Sars-CoV-2 weiß.
Von Rachen zu Rachen
Der wohl wichtigste Punkt ist, dass sich das Virus offenbar recht gut im Rachen vermehren kann. "Das ist ein großer Unterschied zu Sars", sagte Drosten ebenfalls am Donnerstag.
Anfangs waren Forscher wegen der Ähnlichkeit des neuen Coronavirus zum Sars-Erreger davon ausgegangen, dass sich auch das neue Virus vor allem in den tieferen Atemwegen vermehrt. Denn dort befinden sich wichtige Bindungsstellen, die offenbar sowohl das Sars-Coronavirus als auch Sars-CoV-2 nutzen, um in die Zellen zu schlüpfen.
"So ein Virus muss in die Lunge eingeatmet werden, und das ist ein weiter Weg", sagte Drosten. Bei der Influenza aber vermehrt sich das Virus im Rachen. Forscher glauben, dass genau darin der Grund liegt, warum die Grippe so leicht übertragen wird. Denn von Rachen zu Rachen ist der Weg nicht so weit wie von Lunge zu Lunge.
"Wir vermuten nun anhand erster Patientenbeobachtungen, dass sich das neuartige Coronavirus ebenfalls im Rachen vermehrt, so wie bei der Influenza", sagte Drosten. Selbst bei früh infizierten Patienten gelinge es regelmäßig, das Virus aus Rachenabstrichen im Labor zu isolieren.
Eine wichtige Kennzahl fehlt noch
Es spricht noch ein weiterer Punkt dafür, dass das Virus eine Grippe-ähnliche Pandemie auslösen könnte: die Sterblichkeit durch den Erreger. Die Daten außerhalb von China deuteten Drosten zufolge darauf hin, dass sich die Wahrscheinlichkeit, an der Viruserkrankung zu sterben, eher im Bereich von 0,2 Prozent bewege. Das sei ähnlich den typischen Influenza-Pandemien von 1957 oder 1968.
Auch wenn die Informationen noch "sehr holzschnittartig" seien, sei das ein Gesamtbild, "das jetzt auf einen Verlauf ähnlich einer Grippe-Pandemie hindeutet, auch wenn es eine Pandemie wird."
Um herauszufinden, wie schnell sich das Virus verbreiten kann, brauchen Wissenschaftler allerdings weitere Angaben aus China – zum Beispiel die "attack rate". Diese epidemiologische Kennzahl gibt an, wie viele von den Menschen, die infiziert werden können, tatsächlich infiziert wurden. Sie wird auch benutzt, um die Zahl von Opfern durch eine Epidemie vorherzusagen. Das hilft, um Ressourcen für die medizinische Versorgung bereitzustellen und Impfstoffen und Medikamente zu produzieren.
Drosten hofft, dass man dieses Maß bald von den Ausbrüchen außerhalb Chinas ableiten können wird. Mit diesen Ländern kommuniziere man intensiv, sagte RKI-Chef Wieler. China selbst sei mit "diesem riesigen Ausbruch extrem gefordert und mit Sicherheit nicht in der Lage, jetzt alle möglichen Zahlen zu liefern".
"Es gibt keinen Schuldigen"
Genau wie alle Länder außerhalb Chinas befinde man sich derzeit in der Phase der Eindämmung, sagte Wieler. Das heißt, man möchte verhindern, dass es zu langanhaltenden Infektionsketten in der Bevölkerung kommt. Bisher gibt es in Deutschland 16 Fälle, von denen 14 auf die Ansteckung durch eine chinesische Mitarbeiterin des Automobilzulieferers Webasto zurückgehen. Infektionen, die nicht auf einen Ursprung in China zurückzuführen sind, sind noch nicht bekannt.
"Bisher gibt es Optimismus, dass man mit der Eindämmung die Ausbreitung des Virus in Schach halten kann", so Wieler. Versprechen könne man das aber natürlich nicht.
"Irgendwann wird es wahrscheinlich dazu kommen, dass unbemerkte Infektionen plötzlich bemerkt werden", sagte Drosten. Das wichtigste sei dann, sich klar zu machen, dass es dafür keinen Schuldigen gibt und nichts zu skandalisieren sei. "Das ist ein Naturphänomen."
"Wir wollen Zeit gewinnen und entkoppeln"
Auch in den USA werde man nicht verhindern können, "dass das Virus in unser Land kommt", sagte Peter Redfield, Direktor des amerikanischen Center for Disease Control and Prevention (CDC), dem Onlineportal Stat. Aber man könne Zeit gewinnen, indem man die Eindämmungsphase so stark wie möglich verlängert.
Darauf setzt auch RKI-Chef Wieler: "Ein großes Ziel, das wir zurzeit haben, ist, diese beiden Wellen – also die aktuelle Influenzawelle und das eventuell kommende Coronavirus – zu entkoppeln." Deshalb setze man so stark auf Eindämmung außerhalb von China. "Wir wollen Zeit gewinnen und entkoppeln", so Wieler. So will man verhindern, dass das Gesundheitssystem überfordert wird.
Sobald allerdings in Deutschland Infektionsketten auftreten, die nicht auf einen Kontakt mit China zurückzuführen sind, gehen Experten davon aus, dass die Eindämmung des Virus fehlgeschlagen ist. Dann könnte man davon ausgehen, dass das Virus den Sprung in die Bevölkerung geschafft hat und man müsste die Strategie ändern.
Dann stünde nicht mehr im Vordergrund, den Ausbruch woanders einzudämmen, sondern seine Folgen abzuschwächen.
Für die allermeisten nur eine Erkältung
Wenn mit dem neuen Coronavirus wirklich eine zweite Influenzawelle anrollen würde, sei es allerdings schwierig, die normale Versorgung aufrecht zu erhalten, sagte Drosten. Geplante Operationen müssten dann vielleicht verschoben werden, weil Intensivbetten voll sind, die eigentlich für Operationspatienten benötigt würden.
Zudem seien die personell dünn ausgestatteten Gesundheitsämter dann "vollkommen überlastet". "Arztpraxen werden voll sein mit Patienten und normale Patienten mit anderen Erkrankungen müssten warten", so Drosten.
Grund zur Panik sieht der Virologe allerdings nicht: "Wir haben im Moment null Risiko in Deutschland, in der Bevölkerung". Es sei wichtig, sich zu informieren und sich damit zu beschäftigen. Für die allermeisten Patienten werde die Infektion – wenn sie denn käme – als Erkältung in Erscheinung treten.
Und im Gegensatz zur Influenza wisse man nach vorläufigen Daten, dass Kinder sich zwar anstecken, aber "praktisch nicht" schwerer erkranken. Auch Schwangere seien nicht speziell betroffen – auch das ist bei der Influenza ein großes Problem. Zu den Risikogruppen einer Lungenentzündung durch das neue Coronavirus gehören nach aktuellem Stand vor allem ältere und vorerkrankte Patienten, Männer wohl mehr als Frauen.
"All das ist verfügbares Wissen", sagte Drosten. Er hält es für sinnvoller, dieses Wissen zu nutzen, um sich auf eine mögliche Krankheitswelle vorzubereiten, als "gebannt nach China zu schauen, wo irgendwelche Dinge passieren mit dramatischen Fernsehbildern, die dann doch immer noch ganz kleine Ausschnitte aus der Realität sind". (mit smc)
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