Meteorologie: Das „Berliner Phänomen“ als Winter-Macher? Schon möglich
Eine einst von Tempelhof aus erstmals beobachtete Atmosphärenkapriole und ein störanfälliger Wind in großer Höhe könnten uns tiefe Temperaturen bringen.
Polarwirbel zusammengebrochen! Diese Meldung wird immer wieder verbreitet, wenn es in Nordamerika oder Europa überdurchschnittlich kalt ist. Meteorologen versuchen wegen dieses Zusammenhangs jetzt, den Zustand des Wirbels für längerfristige Wettervorhersagen zu nutzen.
Dunkler Hochdruck
Kurz nach Weihnachten hat der Wirbel sich wieder einmal in zwei oder gar drei Teile zerlegt. Ein paar Fachleute sind überzeugt: Jetzt wird es kalt werden. Denn immer wieder hat sich in der Vergangenheit in einer solchen Konstellation die Tür des arktischen Eisschranks in Richtung Süden geöffnet. Wird es auch dieses Mal so sein?
Zu Beginn jedes Winters sinkt wegen der Schieflage der Erdachse die Sonne in hohen nördlichen Breiten dauerhaft unter den Horizont. Die sich abkühlenden und schwerer werdenden Luftmassen sinken herab, der Luftdruck in der Höhe nimmt deshalb ab. In der Stratosphäre, oberhalb 20 Kilometern, entwickelt sich rund um den Nordpol herum ein stabiles Tiefdruckgebiet, in das von außen wegen des Druckunterschieds Luft nachströmt. Die Erddrehung wiederum bedingt, dass die einströmende Luft gegen den Uhrzeigersinn um das Höhen-Tief herumfließt. Fertig ist der Polarwirbel mit Windgeschwindigkeiten bis zu 200 Kilometern pro Stunde.
Von diesem für die Winter der Nordhalbkugel typischen Windwirbel oben in der Stratosphäre merkt man am Boden nichts. Denn das Wettergeschehen spielt sich in den darunter liegenden Luftschichten bis etwa 15 Kilometer Höhe ab. Irgendwie aber scheint sich auf bislang kaum verstandene Weise das, was in großer Höhe in dünner Stratosphärenluft geschieht, auch auf die Atmosphäre darunter auswirken zu können. Und wie der Berliner Meteorologe Richard Scherhag 1952 entdeckte, geschehen gelegentlich im Windwirbel dort ganz oben seltsame Dinge.
Entgegengesetzte Drehungen
Normalerweise liegen die Temperaturen im Winter in der nördlichen Stratosphäre bei minus 70 Grad. Doch am 23. Februar 1952 meldete die Messsonde, die Scherhag wie an jedem Tag vom Tempelhofer Feld an einem Ballon in die Stratosphäre hatte steigen lassen, in 30 Kilometern Höhe einen deutlichen Temperaturanstieg: nur minus 12 Grad. Wenige Tage später hatte sich die Stratosphäre aber wieder abgekühlt auf ihren Normalzustand. Inzwischen ist bekannt, dass solche Erwärmungen unregelmäßig, aber im Mittelwert in jedem zweiten Winter auftreten. Die Meteorologen nennen sie „Berliner Phänomene“. Nach wie vor rätseln sie aber, warum immer wieder Wärme ohne jede Vorwarnung aus tieferen Luftschichten in die Stratosphäre verfrachtet wird. Die Folgen eines Berliner Phänomens sind dagegen deutlich zu beobachten: Die plötzliche Erwärmung der Stratosphäre verändert die Druck- und damit auch die Strömungsverhältnisse in ihr mehr oder weniger stark. Der stratosphärische Polarwirbel wird schwächer oder spaltet sich in mehrere kleinere Teilwirbel auf. Manchmal ändert der winterliche Windwirbel sogar vollständig seine Drehrichtung und beginnt den Pol im Uhrzeigersinn zu umwehen. Diese Verkehrung der normalen Windverhältnisse in der Stratosphäre durch ihre kurzzeitige Erwärmung wirkt sich manchmal, aber nicht immer, auf das unter ihr liegende Atmosphärenstockwerk aus. Dort, in der Troposphäre, weht in Höhen bis zu 15 Kilometern ständig der sogenannte Jetstream gegen den Uhrzeigersinn um den nördlichen Globus herum. Ist der Jetstream stark und seine Geschwindigkeit hoch, bläst er ohne größere Schlenker von West nach Ost. Und auch noch weiter unten, in den oberflächennahen Luftschichten der unteren Troposphäre, strömt die Luft in diesem Fall in aller Regel stabil in dieser Richtung.
Positive Oszillationen
Dieser für milde europäische Winter typische Zustand wird erzeugt von einem Zustand, den Meteorologen als „positive Nordatlantische Oszillation“ bezeichnen: Über den Azoren liegt ein Hochdruckgebiet mit einem Windwirbel im Uhrzeigersinn. Gleichzeitig liegt weiter im Norden über Island ein Tiefdruckwirbel, der die Luft entgegen dem Uhrzeigersinn herum schaufelt. Und diese beiden Windschaufeln befördern gemeinsam die Luft zwischen sich zügig von West nach Ost aus dem Atlantik zu uns nach Europa. Schön für Winterhasser: Denn mit diesen Winden weht die dank des Golfstroms milde Luft des Atlantiks zu uns nach Europa herüber.
Schwächelnder Jetstream
Dieses grundlegende Strömungsmuster in milden Wintern ändert sich jedoch manchmal. Und manchmal auch nach einem Berliner Phänomen. Insbesondere, wenn die dadurch verursachte Schwächung des Wirbels in der Stratosphäre länger anhält oder der Stratosphärenwirbel in die Gegenrichtung zu wehen beginnt, kann sich diese Störung auch nach unten in die Troposphäre hinein ausbreiten. Das schwächt den Jetstream und dadurch wiederum verändern sich die Bahnen, auf denen dieser um den Globus strömt: In weit ausholenden Bögen mäandern die Jetstream-Winde dann weit hinauf nach Norden und danach wieder zurück nach Süden. Den sich nach Norden wölbenden Jetstream-Bögen folgen dabei warme Luftmassen weit in arktische Gefilde hinauf. Umgekehrt verwandeln sich die nach Süden geöffneten Jetstream-Schlingen in sogenannte „Kaltluft-Tröge“, in die hinein polare Luft aus der Arktis weit nach Süden strömen kann.
"Die normalerweise vorherrschende West-Ost-Zugbahn der Tiefdruckgebiete wird demnach unterbrochen, sodass sie mit Kaltluft aus polaren Breiten weit nach Süden ausscheren können", schreibt der Meteorologe Adrian Leyser vom deutschen Wetterdienst in einem Beitrag auf der Website seiner Behörde. Diese Blockade-Wetterlagen sorgten "im Winter häufig für längere kältere Phasen in Mitteleuropa."
Je nachdem, über welchen Regionen die Bögen gerade liegen, ist es dort warm oder kalt, oft wochenlang. Denn oft kommen die Schlingen eines geschwächten Jetstream nur langsam nach Osten voran und verharren praktisch an Ort und Stelle. Zusätzlich können auch noch bodennahe Hochdruckgebiete über dem Baltikum oder Russland in das Geschehen eingreifen, die sich in der kalten, schweren Luft bilden. Auch diese Kältehochs können ungemütlich stabil werden und längere Zeit kalte Luft aus nordöstlichen Regionen zu uns lenken.
Negative Temperaturen
Lange, kalte Winter mit deutlichen Minusgraden können also viele Ursachen haben. Wie oft und wie sehr der Polarwirbel hier ausschlaggebend ist, das diskutieren Meteorologen kontrovers.
Auch der Klimawandel kann eine Rolle spielen. Eine Studie von Marlene Kretschmer vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung und ihren Kollegen weist auf einen Mechanismus hin: Aufgrund der im Vergleich zum Rest der Welt starken Erwärmung der Arktis gebe es „bei dem Polarwirbel in der Stratosphäre einen Wandel zu länger anhaltenden Schwächezuständen“. Das erlaube kalter Luft, nach Russland und Europa zu strömen. „Tatsächlich erklärt dies die meisten beobachteten Kälteextreme in den eurasischen Wintern seit 1990.“