Digitalisierte Kunst: Das Archiv der zerbrechlich-schönen Körper
Scans von Skulpturen sichern wichtige Daten – für alle Fälle. Doch die Technik ermöglicht auch Blicke ins Innere.
Der Blick des Jugendlichen wirkt in sich gekehrt. Stephanie Exner sagt, sie würde gerne in ihn hineinsehen können. Der athletische Junge neigt den Kopf, als würde er auf dem Boden der lichtdurchfluteten Halle des Albertinums in Dresden etwas suchen. Er ist mehr als 2000 Jahre alt.
Ein Knabe, hold aber auch mit innerem Werten
Die Statue des „Dresdner Knaben“ aus weißem, poliertem Marmor ist eines der kostbarsten Stücke der Sammlung der Staatlichen Dresdner Museen. „Eine exzellente Arbeit“, sagt Exner, die hier als Restauratorin arbeitet: „Ich bewundere die genaue Ausarbeitung der Haarlocken, deren lebendige Formen bis heute weitgehend erhalten sind.“ Die antike Skulptur sei eine der am vollständigsten erhaltenen überhaupt, mit Kopf, Oberarmen, Beinen. Die Unterarme fehlen aber. Entmannt ist der Jüngling auch, Nase und Oberlippe sind ebenfalls nicht mehr original, frühere Restauratoren haben sie aus Gips ergänzt.
Die anderthalb Meter hohe Statue ist so kostbar, dass sie selten an andere Museen verliehen wird. Jeder Transport könnte sie beschädigen. Exner knipst die Taschenlampe an und geht in die Hocke. Damit das natürliche Fett an ihren Fingern den Stein nicht noch weiter angreift, fasst sie das millionenschwer versicherte Objekt nur mit Handschuhen an. „Hier unten am Sprunggelenk sind zwei Risse.“ Vielleicht sind es nur feine Haarrisse, vielleicht eine beginnender Bruch, der den ganzen Knaben gefährdet. Das ist der Grund, warum sie gerne in sein Inneres schauen würde.
Virtuelle Kopien
Und darum soll es an diesem Tag im Albertinum gehen. Forscher verschiedener Fraunhofer-Institute haben sich um den Dresdner Knaben und um zwei weitere Kunstobjekte im Lichthof des Museums versammelt. Sie wollen im Projekt „Kulturerbe“ digitale, dreidimensionale Sicherungskopien verschiedener Kunstwerke erstellen. Diese wollen sie um Aufnahmen aus dem Inneren der Objekte ergänzen. So sollen originalgetreue virtuelle Kopien, gefüllt mit Messdaten, entstehen. Eine „ganz neue Methode“ sei das, sagt Constanze Fuhrmann, Projektleiterin am Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung in Rostock.
Digitalisate dieser Art hätten viele Vorteile auch jenseits der Informationen aus dem Innern und der Konservierung genauer Maße. So könnten beliebig viele Besucher den Dresdner Knaben auch andernorts überlebensgroß in 3-D betrachten, „während das Original voraussichtlich ab 2019 in der Antikensammlung im Zwinger in Dresden zu sehen sein wird“, sagt Exner. Ohnehin fehlt Museen weltweit der Platz, um ihre gesamten Sammlungen zu zeigen. Online-Rundgänge mit virtuellen Exponaten könnten mehr zeigen und mehr Besucher anlocken. Die Sicherungskopie würde aber vor allem das kulturelle Erbe im Fall einer Katastrophe bewahren. Etwa setzte die Elbe-Flut von 2003 den Gewölbekeller des Albertinums samt vielen Skulpturen unter Wasser. Ganze Bauten wie der Stephansdom in Wien, der Kölner Dom und der Zahntempel des Buddha in Sri Lanka liegen zur Sicherung schon als 3-D-Scans vor.
Digitalisate gegen terroristische Zerstörung
„Wegen der Zerstörungen im Nahen Osten ist die Digitalisierung von Kunst aktuell ein ganz großes Thema“, sagt der Informatiker Pedro Santos, Leiter der Gruppe „Kulturerbe“ an jenem Rostocker Fraunhofer-Institut. In diesem Vorhaben will man allerdings erstmals mehr als nur äußerliche 3-D-Digitalisate erschaffen. Vielmehr sollen „Big Data“ generiert werden, indem man Scans mit Ultraschallaufnahmen, Computertomografien, Röntgen- und Terahertzaufnahmen verknüpft. Darin könnten Restauratoren auch sehen, ob im Inneren schon etwas verfällt. Sie „hätten damit eine bessere Basis für eine präventive Restaurierung“, sagt Fuhrmann. Restauratoren könnten ihre Handgriffe dann auch virtuell planen und erproben. Überdies wäre es Forschern aus aller Welt zeitgleich möglich, ins Innere eines Kunstwerks zu schauen und zerstörungsfrei am Digitalisat zu forschen. Heute kann jedes Objekt nur auf eine gefährliche Reise im Flugzeug oder auf der Straße zu einem einzigen Wissenschaftlerteam gehen. Immer fürchten die Restauratoren, dass infolge der Erschütterungen beim Transport neue Risse entstehen oder sogar Teile brechen.
Hannes Horneber, Informatiker am Fraunhofer-Institut für Physikalische Messtechnik in Freiburg, schaltet den Laserscanner ein. Dem bügeleisenähnlichen Gerät entspringt stroboskopartiges Blitzlicht wie in einer Diskothek. Horneber hält es in Richtung der Beine des Knaben. Langsam bewegt er sich abwärts zur Wade, schließlich zur Ferse. Am eigenen Körper haben er und sein Kollege den Scanner zuvor ausprobiert. „Wir konnten uns so einscannen.“ Nur die Haare habe das Gerät nicht erfassen können.
Eingescannte Zehen, Achseln und Genitale
Auf einem Monitor erscheint eine rosafarbene Punktewolke, die die Beine des Dresdner Knaben zeigt. „Schwierig sind alle Vertiefungen wie hier zwischen den Zehen, unter den Achseln und das Genital“, erklärt Horneber. Auf diese Regionen hält er den Scanner länger. Das Gerät sendet einen Laserstrahl aus, der von der Oberfläche der Skulptur reflektiert wird. Dieses Abbild samt Lichtmuster nimmt eine Kamera auf. Anhand der Aufnahme errechnet die Software die Form der Oberfläche. Nach zwei Stunden sind Rumpf, Torso und Beine in einer Auflösung von einem halben Millimeter gescannt.
Um den Kölner Dom so zu digitalisieren, brauchte ein Team aus 27 Studenten eine ganze Woche. Damit es wenigstens bei kleinen Objekten schneller, preiswerter und vollautomatisch geht, hat das Fraunhofer-Institut in Rostock eine vollautomatische Scanstraße entwickelt. Die Untersuchungsobjekte fahren dort auf einem durchsichtigen Tablett zunächst unter einen Bogen mit neun Scannern und dann zu einem Roboterarm, der schwer zu scannende Stellen, wie die Partie zwischen den Zehen beim Dresdner Knaben, erfasst. In zehn Minuten erzeugen die Forscher eine digitale Replika der Nofretete. Doch schon Statuen wie der Dresdner Knabe sind zu groß für die Scanstraße. Baudenkmäler zumindest hat man teilweise bereits begonnen, mithilfe von Drohnen zu scannen.
Doch der Blick ins Innere ist die eigentliche Innovation. „Wir wollen auch das Geheimnis hinter der Gestalt lüften“, sagt Matthias Molitor, Elektrotechniker vom Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik in St. Ingbert. Er wendet sich einer Statue zu, die drei Meter neben dem Dresdner Knaben steht. Es ist eine Amazone des sogenannten Mattei-Typs, eine überlebensgroße muskulöse Frau aus Gips, die ihren Arm über die Stirn hält. Niemand kennt das Original. Dies hier ist wohl ein neuzeitlicher Abguss.
Ein Kopf aus Gips und ein hohler Oberkörper
Der Abformermeister Hans Effenberger stülpt sich blaue Handschuhe über, fasst den Kopf der Dame an den Wangen und nimmt ihn nach oben ab. Behutsam legt Effenberger den Gipskopf auf einen Tisch mit einer weißen Plane. Dann ruckt er kraftvoll an der Taille der Statue und nimmt auch den Oberkörper ab. Die Wissenschaftler staunen und starren in ein Loch, das nun an der Hüfte der Figur klafft. Sie ist innen hohl. „Gips war damals teuer“, sagt Effenberger, „deshalb hat man ihn sparsam verwendet.“ Im Inneren wurde ein Stützskelett genutzt. Mit einer Taschenlampe leuchtet Effenberger das Becken der Amazone von innen aus. Wie ist es um ihre Haltbarkeit bestellt? Heil jedenfalls ist sie nicht mehr, ein Teil des Sockels fehlt bereits und am linken Bein zeichnen sich Abplatzungen und Verfärbungen des Anstrichs aus Bleiweiß ab.
„Wir möchten heute zum ersten Mal mit einem Ultraschallgerät ins Innere schauen, wissen aber nicht, ob das bei einer solchen Gipsfigur geht“, sagt Molitor. Er holt zwei Ultraschallköpfe – Sender und Empfänger – in Getränkedosenformat hervor und knetet eine nussgroße Portion Plastilin zu einer flachen Scheibe. Die drückt er auf die Sensoren. Die Masse überzieht er mit Frischhaltefolie. Ärzte, sagt Molitor, verwendeten Gel, um in den Körper schauen zu können. Denn „es darf keine Luft zwischen Sensor und Untersuchungsobjekt sein, weil diese den Schall bricht“. Ein Gel könnte jedoch die Kunstwerke angreifen, deshalb nutzen die Forscher Plastilin abgedeckt mit Frischhaltefolie. Molitor schaltet das Gerät an und presst beide Ultraschallköpfe auf den abgenommenen Arm der Amazone. Wenn der keine Luft in Form von Rissen oder herstellungsbedingten Hohlräumen enthält, sollte der Schall hindurchwandern. Auf dem Monitor erscheint eine sinusähnliche Kurve. „Super, es funktioniert, hätte ich nicht gedacht.“ Die Restauratoren sind erleichtert: Der Arm ist heil.
Die Amazone wird von Schweine- und Rinderknochen gestützt
Doch das ist nicht das Ende der technologischen Möglichkeiten: Ein Gabelstapler hievt nun eine Palette in die Höhe, darauf ein Gerät von den Ausmaßen eines Kinderbettes. Es bewegt sich auf das Knie der Amazone zu. Vorn befinden sich zwei gegenüberliegende, quaderförmige Sensoren. Dazwischen verläuft ein Laserstrahl im Terahertzbereich. Dieser Scanner detektiert Metall – und ist deshalb zum Scannen von Passagieren auf Bomben an Flughäfen im Gespräch. An die Amazone jedoch haben die Forscher andere Fragen. Rosten die Metallstifte im Inneren schon? Wie weit reichen sie in die Gliedmaßen? Wie stabil ist die Figur noch? Robert Kranz vom Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik in Kaiserslautern steuert die Maschine, der Sensor bewegt sich links und rechts des Knies aufwärts. Das Signal tritt ungehindert hindurch. Hier ist also kein Metall mehr – die untere Hälfte der Beine wird nicht durch ein metallenes Stützskelett verstärkt. Später entdecken die Forscher, dass Schweine- und Rinderknochen die Gipshülle der Amazone stützen. „Das ist gut, denn die können nicht rosten und sind stabiler“, sagt Kranz.
Molitor schlingt unterdessen vorsichtig orangefarbenes Textilband um die Hüfte des Dresdner Knaben. Darauf hat er verschiedene Stellen markiert, etwa auf Höhe des Nabels, über der rechten und linken Hüfte und mittig am Rücken. Auch der weiße Marmor lässt sich per Schall durchleuchten. Molitor ist begeistert. „Mehr, als wir erwarten konnten“, sagt er
Dann der vielleicht aufregendste Moment des Tages: Molitor geht in die Hocke und presst zwei Ultraschallsensoren links und rechts des Risses am Sprunggelenk der Statue auf den Stein. Er reckt den Kopf, um das Signal auf dem weit weg stehenden Monitor zu erspähen. „Kein Signal, wir sehen also den Riss“, jubelt er. Die Luft im Riss verhindert, dass die Schallwelle vom Sender zum Empfänger läuft. Zentimeter um Zentimeter tastet er mit dem Sensor an der Verletzung entlang. Sie ist länger, als das bloße Auge vermuten lässt, und reicht fast um den halben Fuß herum. Wie tief sie wahrscheinlich geht, zeigen dann nachfolgende Referenzmessungen an Vergleichsobjekten aus Marmor im Labor in St. Ingbert. „Zum Glück ist der Riss nicht durchgängig, sodass niemand fürchten muss, dass dem Knaben ein Fuß abfällt, wenn er transportiert wird.“