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Durch Antibiotika in der Landwirtschaft entstehen multiresistente Keime.
© imago/blickwinkel

Exzessiver Einsatz in der Landwirtschaft: Bundesregierung fürchtet Antibiotika-Resistenzen

In der deutschen Landwirtschaft werden nach wie vor zu viele Antibiotika eingesetzt. Die Regierung warnt vor der Ausbreitung resistenter Keime.

Auch wenn es durch den Ausbruch der Viruserkrankung Sars-CoV-2 derzeit etwas in Vergessenheit zu geraten droht: Antibiotikaresistente Bakterien sind weiterhin eine der größten Gefahren für die globale Gesundheit. 

33.000 Menschen sterben nach aktuellen Daten allein in der EU jedes Jahr an den Folgen multiresistenter Keime. Gerade hat die EU-Kommission ihre Farm-to-Fork-Strategie vorgestellt, in der unter anderem die Halbierung des Antibiotikaeinsatzes bis 2030 gefordert wird. In Brüssel verweist man vor allem auf skandinavische Länder als Vorbild – Deutschland habe seit 2011 zwar ebenfalls erhebliche Fortschritte gemacht, aber es gebe noch deutlich Luft nach oben.

Die Bundesregierung sieht das offenbar genauso, wie aus einer bislang unveröffentlichten und dem Tagesspiegel Background vorliegenden Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken-Abgeordneten Kirsten Tackmann hervorgeht. Der breite Einsatz von Antibiotika in der Landwirtschaft ist demnach ein großes medizinisches Risiko. 

Unter anderem müsse der Einsatz von Reserve-Antibiotika in der Landwirtschaft und die Abhängigkeit von ausländischen Produzenten reduziert werden. Zudem brauche es Schnelltests zur Erkennung resistenter Keime.

Laut dem im Oktober vergangenen Jahres von der Europäischen Arzneimittelagentur veröffentlichten Bericht zum Einsatz von Antibiotika in den Landwirtschaften der EU-Staaten ging der Einsatz in der Tierzucht zwischen 2011 und 2017 im Schnitt um ein Drittel zurück. Vor allem in den skandinavischen und baltischen Ländern gibt es kaum noch Reduktionsmöglichkeiten. Sehr groß hingegen sind sie auf Zypern, in Italien und in Spanien.

Deutschland hat den Einsatz dem Bericht zufolge zwar um fast zwei Drittel reduziert, setzte aber 2017 immer noch deutlich mehr Antibiotika ein als etwa die Niederlande, Österreich, Großbritannien oder Frankreich.

Das größte Problem ist der Einsatz von Reserve-Antibiotika

„Trotz der bisher erreichten Erfolge bei der Antibiotikaminimierung“, heißt es nun in der 20-seitigen Antwort vom Bundeslandwirtschaftsministerium (BMEL) auf Kirsten Tackmanns 33-Fragen-Katalog, seien „weitere Maßnahmen“ nötig, um den Einsatz von „Antibiotika bei Tieren auf das therapeutisch notwendige Minimum“ zu reduzieren. 

Das gelte insbesondere für Reserve-Antibiotika, die eigentlich nur ausnahmsweise angewendet werden sollen, um sie bei Bakterien einzusetzen, die gegen andere Antibiotika resistent sind  – je öfter sie verwendet werden, desto höher ist die Gefahr von Resistenzen, gegen die dann gar kein Mittel mehr wirkt. 

Allerdings, so das BMEL weiter, würde ein vollständiges Verbot von Reserveantibiotika in der Veterinärmedizin „zu schwerwiegenden Therapienotständen führen und mit den Belangen des Tierschutzes nicht vereinbar sein“. 

Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat die Stärkung europäischer Arzneimittel-Produktionsstandorte zu einem Kernanliegen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft erklärt.
Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat die Stärkung europäischer Arzneimittel-Produktionsstandorte zu einem Kernanliegen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft erklärt.
© Fabrizio Bensch/REUTERS

Eine Möglichkeit zur Reduzierung könnten „Antibiogramme“ bieten, mit denen vor der Medikamentengabe getestet wird, ob ein Bakterium resistent gegen bestimmte Antibiotika ist, diese also nicht eingesetzt werden sollten. Man prüfe derzeit eine Anpassung der diesbezüglichen Vorschriften, so das BMEL in seiner Antwort. Zudem fördere das Wissenschaftsministerium seit längerem die Entwicklung von Schnelltests, seit einem halben Jahr ebenso das Europäische OneHealth European Joint Programme „#Worldcom“: Mit diesen Tests sollen resistente Erreger detektiert werden, die von Tieren auf Menschen überspringen, also sogenannte Zoonosen. Der Test wäre dann auch geeignet für in der „Humanmedizin bedeutsame Resistenzgene“. 

Bei Ferkeln und Geflügel besonders problematisch

Die Gefahr der Übertragung resistenter Erreger von Tieren auf in der Landwirtschaft tätige Menschen sei inzwischen durch viele Studien belegt, so das Ministerium. Vor allem die multiresistenten und in Kliniken auftretenden MRSA-Keime stellten für Menschen mit Vorerkrankungen eine großes Risiko dar und könnten auch „über Staubpartikel insbesondere im landwirtschaftlichen Sektor“ verbreitet werden.

Große Tierzuchtanlagen scheinen hier besonders betroffen zu sein. Das Ministerium verweist auf die gerade abgeschlossene Evaluierung der 2012 in Kraft getretenen 16. AMG-Novelle, in der es ebenfalls um die Antibiotikareduzierung geht und deren 17. Fassung seit Februar in Arbeit ist. Die Evaluation zeige einen mit der Betriebsgröße ansteigenden Antibiotikaeinsatz: Kleineren Betrieben ist es demnach in den zurückliegenden Jahren häufiger als mittleren und größeren gelungen, Grenzwerte nicht zu reißen. 

Besondere Sorge bereitet dem Ministerium die Antibiotikaanwendung in der Geflügelmast. „Diese ist nach Auffassung der Bundesregierung nicht akzeptabel“, weil im Beobachtungszeitraum der Evaluierung der Antibiotikaeinsatz nicht zurückgegangen sei und der Anteil der Reserveantibiotika konstant bei 40 bis 50 Prozent der Verbrauchsmenge gelegen habe.

Auch bei Ferkeln wird man noch eine Weile mit Defiziten leben müssen, wie aus der Antwort hervorgeht. Alle Tiere unter 30 Kilogramm Körpergewicht sind nämlich vom „Antibiotikaminimierungskonzept“ des Arzneimittelgesetzes ausgenommen, die betriebliche Therapiehäufigkeit von Antibiotika muss hier deshalb nicht tierärztlich erfasst werden.

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Das ändere sich zwar durch die Tierarzneimittel-Verordnung der EU, die eine Erfassung bei allen landwirtschaftlichen und Haustieren vorsehe. Allerdings ist der „Beginn dieser Datenerfassung das Jahr 2023“, stellt das Ministerium klar. Man prüfe derzeit auch, ob die Übertragung der Daten künftig digitalisiert stattfinden sollte – bis jetzt sind separate handschriftliche Aufzeichnungen in Stallbüchern und bei Tierärzten der Standard. Eine digitale Erfassung könnte Plausibilitätsprüfungen und behördliche Kontrollen erleichtern.  

Bei den Wirkstoffen drohen Lieferengpässe

Der EU wird in den kommenden Jahren große Bedeutung bei der Antibiotikareduzierung zukommen, nicht nur wegen der Tierarznei-Verordnung und der Farm-to-Fork-Strategie. So berücksichtige der EU-Tiergesundheitsrechtsakt, der ab 21. April kommenden Jahres angewendet wird, „explizit auch die Beziehung zwischen Tiergesundheit und Antibiotikaresistenz“, so das Ministerium. „Das BMEL wird, wo möglich und notwendig, ergänzende Regelungen treffen.“ 

Jetzt dürfte es in Brüssel aber zunächst einmal darum gehen, bei der im Juli beginnenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft ein seit langem drängendes Thema der Antibiotikapolitik anzugehen: die Abhängigkeit Deutschlands vom Ausland, maßgeblich von China. „Bei der Wirkstoffherstellung ist eine Marktkonzentration in Drittstaaten festzustellen“, so das Ministerium. Bei den Fertig-Arzneimitteln sei die Konzentration „aufgrund der Komplexität der Herstellungsketten nicht abschätzbar“. 

Bei einzelnen Wirkstoffen gebe es inzwischen ein „Risiko für Lieferengpässe, da die Herstellung bestimmter Wirkstoffe nur durch wenige Hersteller erfolgt“. Nach Zahlen des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit liegt der Anteil der antibakteriellen Wirkstoffe, die in Deutschland als Ausgangstoffe für Fertig-Arzneimittel hergestellt werden, bei „deutlich unter einem Prozent“. 

Das Problem betrifft den gesamten Arzneimittelsektor. Es bestand bereits vor der Coronakrise, erhielt durch sie aber noch einmal neue Brisanz – weshalb Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die Stärkung europäischer Arzneimittel-Produktionsstandorte zu einem Kernanliegen der nahenden EU-Ratspräsidentschaft erklärt hat. „Die Stabilisierung und Sicherheit der Arzneimittelversorgung hat für die Beratungen der EU-Mitgliedstaaten eine hohe Priorität“, erklärt dazu nun auch das Ministerium seiner Parteifreundin Julia Klöckner in der Antwort auf die Kleine Anfrage. 

Für die Fragestellerin Kirsten Tackmann, die seit 2005 agrarpolitische Sprecherin der Linken-Fraktion im Bundestag ist, zeigt die Antwort „trotz Erkenntnisfortschritt und Detailverbesserungen gefährliche Langzeitbaustellen der Bundesregierung beim Thema Antibiotika“. Vor allem bei der Liefersicherheit gelte es schnell zu handeln.

„Wenn in unserem Land unter einem Prozent der benötigten antibiotischen Wirkstoffe produziert werden und unbekannt ist, wie dies bei der Herstellung solcher Arzneimittel aussieht, ist das alarmierend für solche strategisch wichtigen Bereich der Versorgungssicherung“, meint die Linken-Abgeordnete.

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