Weniger Krankheiten durch gesunde Ernährung?: EU erwägt die Einführung einer „Fleischsteuer“
Mit der neuen Farm-to-Fork-Strategie will die EU-Kommission gesündere Ernährung durch Steueranreize fördern. In Deutschland stößt der Plan auf Skepsis.
Schon zu Beginn ihrer Amtszeit betonte die EU-Kommissarin für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Stella Kyriakides, dass die zwei Bereiche zwar nicht den Ressortzuschnitten der meisten nationalen Ministerien entsprächen, beide Themen aber aus Ihrer Sicht nicht getrennt voneinander betrachtet werden sollten.
Am Mittwoch bekräftigte die Zypriotin das nochmal bei der Vorstellung der Biodiversitäts- und der Farm-to-Fork-Strategie der Kommission, die wiederum Teil des „Green Deals“ der Kommission sind, mit dem Europa bis 2050 klimaneutral werden soll.
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Die derzeitige SARS-CoV-2-Pandemie mit ihren zeitweise unterbrochenen Liefer- und Produktionsketten zeige, welche Bedeutung eine funktionierende und vor allem nachhaltige Lebensmittelversorgung für die Gesundheit der Bürger habe, sagte Kyriakides. Aufgabe der EU müsse es daher sein, „Bürgern den Zugang zu einer ausreichenden Versorgung mit erschwinglichen Lebensmitteln zu gewährleisten“, wie es in dem Papier heißt, das die Kommission am Mittwoch den Mitgliedsstaaten und dem Parlament zuleitete.
Die Krankheitslast der rund 500 Millionen EU-Bürger durch eine verbesserte Ernährung zu senken, ist eines der Kernanliegen des Vorschlags, der eine Art Drehbuch für weitere Initiativen der Kommission in den kommenden Jahren sein dürfte.
Vorrangig geht es im Papier um einen tiefgreifenden Wandel der Landwirtschaft, also zunächst einmal die Gesundheit von Nutztieren, -pflanzen und -flächen und der Ökosysteme. So müsste bis 2030 etwa der Einsatz von Pestiziden halbiert und der von Düngemitteln um 20 Prozent reduziert werden – und ein Viertel der Fläche soll dann durch Bio-Landwirtschaft in Anspruch genommen werden.
„Die Ernährungssysteme sind wichtige Verursacher des Klimawandels", sagte Kyriakides. Nachhaltigkeit habe einen Preis, „aber der Preis der Untätigkeit wäre für uns alle noch größer“. Gesundheitspolitisch direktere Auswirkungen dürften aber zwei andere Felder haben.
So soll die sich ausbreitende Antibiotika-Resistenz durch eine massive Reduzierung des Antibiotika-Einsatzes in der Tierzucht etwas gebremst werden. Und der pandemischen Ausbreitung von Herz-Kreislauf- und anderen Erkrankungen durch ungesunde Ernährung sollen finanzielle und aufklärende Maßnahmen entgegengesetzt werden, die zu weniger Fleisch-, Salz-, Zucker- und Fettkonsum führen.
Krebs als Folge ungesunder Ernährung
33.000 Tote in der gesamten EU verursache der „übermäßige und unangemessene“ Einsatz von Antibiotika in der Landwirtschaft, zudem komme es zu „erheblichen Gesundheitskosten“. Daher wolle man Maßnahmen ergreifen, bis 2030 den Absatz antimikrobieller Mittel bei Nutztieren und in Aquakulturen um 50 Prozent zu senken. „Die neuen Verordnungen über Tierarzneimittel und Arzneifuttermittel sehen eine breite Palette von Maßnahmen vor, um dieses Ziel zu erreichen.“
Doch vor allem gehe es um eine Veränderung der Ernährungsgewohnheiten vieler EU-Bürger, heißt es in dem Papier, das in diesem Zusammenhang vor allem zwei Gruppen adressiert: Jene Menschen, die sich gesundes Essen nicht leisten können und jene, die es sich zwar leisten könnten, aber zu schlecht informiert sind.
Schätzungsweise 33 Millionen EU-Bürger könnten sich nicht einmal jeden zweiten Tag eine qualitativ vollwertige Mahlzeit leisten und sehr viele Menschen seien auf Lebensmittelunterstützungen angewiesen. Nicht Mangel-, sondern Fehlernährung habe dazu geführt, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung inzwischen übergewichtig sei, mit den damit verbundenen gesundheitlichen Folgen.
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Jeder fünfte Tote in der EU sterbe schätzungsweise verfrüht an den Folgen ungesunder Ernährung, vor allem an kardiovaskulären Erkrankungen, aber auch an Krebs. Der Kampf gegen Krebs ist eines der anderen großen Vorhaben von Kyriakides und der Kommission.
„Insgesamt entspricht die europäische Ernährung nicht den nationalen Ernährungsempfehlungen“, heißt es im Papier, und die „gesunde Option ist nicht immer die einfachste“. Während in der EU „die durchschnittliche Aufnahme von Energie, rotem Fleisch, Zucker, Salz und Fetten weiterhin die empfohlenen Höchstmengen übersteigt, ist der Konsum von Vollkorngetreide, Obst und Gemüse, Hülsenfrüchten und Nüssen unzureichend“.
Bis Ende 2023, kündigt die Kommission an, wolle sie einen Gesetzesvorschlag für einen nachhaltigere Nahrungsmittelproduktion vorlegen. In Deutschland – wo Aldi gerade ankündigte, Fleisch künftig noch billiger zu verkaufen und teurer werdende Schnitzel für Schlagzeilen sorgen – dürfte dieses Vorhaben politisch großes Konfliktpotenzial bieten.
Plädoyer für „Fleischsteuer“
Die Kommission schlägt eine verpflichtende Kennzeichnung der Nährwertangaben auf den Vorderseiten von Lebensmittelverpackungen vor – ein Ziel, das auch die deutsche Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) teilt, allerdings will sie ein freiwilliges Modell.
Weit einschneidender dürfte aber das Ziel der Kommission sein, gesunde Lebensmittel billiger zu machen und ungesunde, vor allem Fleisch, teurer. „Steuerliche Anreize sollten den Übergang zu einem nachhaltigen Lebensmittelsystem vorantreiben und die Verbraucher dazu ermutigen, sich für eine nachhaltige und gesunde Ernährung zu entscheiden“, heißt es.
Mitgliedsstaaten könnten etwa ermächtigt werden, über gesenkte Mehrwertsteuersätze Bio-Obst und -Gemüse zu verbilligen. Auf der anderen Seite müssten die Mitgliedsstaaten in ihren Steuersystemen dafür sorgen, „dass der Preis für verschiedene Lebensmittel ihre tatsächlichen Kosten in Bezug auf die Nutzung begrenzter natürlicher Ressourcen, Umweltverschmutzung, Treibhausgasemissionen und andere externe Umwelteinflüsse widerspiegelt“. Letztlich liefe dies auf die politisch zum Kampfbegriff gewordene „Fleischsteuer“ hinaus.
In einer ersten Reaktion erklärte Landwirtschaftsministerin Klöckner am Mittwoch, „dass theoretische Anforderungen in Einklang gebracht werden mit der Praxis und dem Arbeitsalltag auf den Höfen“, es sei „Kernaufgabe der Landwirtschaft, Nahrungsmittel zu produzieren“.
Sie sehe „Gesprächsbedarf“ dazu, „wie weitere Maßnahmen der Strategien – die heute ohne den Agrarkommissar vorgestellt wurden – umgesetzt werden“. In der im Juli beginnenden Ratspräsidentschaft Deutschlands müsse es nun darum gehen, „einen notwendigen Ausgleich der Interessen zu schaffen“.
Zurückhaltung im Bundestag
Rainer Spiering, agrarpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, erklärte auf Anfrage, dass er in den Vorschlägen „sehr gute Ansätze“ sehe. Im vergangenen Sommer war Spiering einer jener Politiker, der eine höhere Bepreisung von Fleisch durch den Wegfall des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes vorschlug. „Insofern würde ich sämtlichen Vorschlägen für eine ehrlichere Bepreisung von Fleisch zustimmen, sofern die Mehreinnahmen auch tatsächlich für eine moderne, tier- und umweltwohlorientierte Landwirtschaft genutzt werden.“
Harald Ebner, Obmann der Grünen im Ernährungsausschuss des Bundestags, begrüßte es, wenn „die Kosten für Umweltschäden, unfaire Löhne etc. endlich eingepreist werden“, dafür müsste aber auch „Dumping teurer werden, unter anderem durch höhere Standards zum Beispiel in der Tierhaltung und durch Abgaben auf CO2 und Pestizide“.
Bei Carina Konrad, FDP-Obfrau im Ausschuss, löst der „Einfluss des Mehrwertsteuersatzes auf das nachhaltige Kaufverhalten viele Fragen aus. Werden gesunde Tomaten aus Spanien im Winter dann anders besteuert als gesunde Tomaten aus den Niederlanden, um unterschiedliche Nachhaltigkeitsaspekte abzubilden?“
Und Linken-Obfrau Kirsten Tackmann sagte, dass eine „Mehrwertsteuersenkung zur Unterstützung gesunder und nachhaltig produzierter Lebensmittel eine Option sein“ könne. „Allerdings hat gerade aktuell die Reduzierung der Mehrwertsteuer bei Tampons gezeigt, dass die Mitnahmeeffekte erheblich sind – deshalb müssen eben auch die Machtverhältnisse in der Lieferkette thematisiert werden.“