Verfolgung durch das Bolsonaro-Regime: Brasiliens bedrohte Forscher
Es geht bis hin zu Morddrohungen: Auf der Flucht vor Präsident Jair Bolsonaro müssen immer mehr Wissenschaftler Brasilien verlassen.
„Demokratie und Wissenschaft sind in Brasilien gefährdet. Daran habe ich keinen Zweifel“, sagt Débora Diniz. Aus Sicherheitsgründen möchte die Anthropologin und Rechtswissenschaftlerin, die eigentlich als Professorin an der Universität von Brasília arbeitet, lieber nicht erzählen, wo sie sich derzeit befindet.
Mitte 2018 hat die auch am Anis Bioethics Institute beschäftigte Forscherin Brasilien verlassen – nach Morddrohungen gegen sie und ihre Familie, von denen inzwischen auch viele ihrer Kollegen und selbst der Dekan der Universität betroffen sind.
Doch auch nach ihrer „Flucht“ hörten die Angriffe nicht auf.
Sie forscht über Abtreibung und erhielt Morddrohungen
Die Professorin forscht vor allem zum Thema Abtreibung. Sie erklärt, sie fühle sich auch im Ausland nicht sicher. Die Sozialwissenschaftlerin gehört zu einer neuen Generation brasilianischer Exilanten, die Politiker, Schriftsteller, Wissenschaftler und andere Fachleute umfasst. Alle haben sie Brasilien aufgrund von Morddrohungen den Rücken gekehrt.
Das Exil von Teilen der brasilianischen Intelligenz ist eine Reaktion auf die Landgewinne der extremen Rechten. Teile der Anhängerschaft von Präsident Jair Bolsonaro äußern sich immer radikaler und intoleranter – vor allem über das Internet.
Zur Gruppe der Verfolgten gehören aber nicht nur diejenigen, die ins Exil gegangen sind, sondern auch jene, die weiter in Brasilien bleiben und in ihrer Heimat in Angst leben müssen. Seit 2017 haben mindestens 41 brasilianische Wissenschaftler, die sich unsicher fühlen, Hilfe bei der gemeinnützigen Organisation Scholars at Risk (SAR) mit Sitz an der New York University gesucht. Zwischen September 2019 und heute gab es sechs gelistete Fälle.
Der Direktor des Netzwerks, Robert Quinn, sagt, dass die Zahl der unter Druck geratenen Wissenschaftler in Brasilien noch bedeutend höher ist. „Wir wissen, dass die Anzahl der Menschen, die zu uns kommen, immer nur eine Stichprobe ist.“ Das von ihm vertretene Netzwerk, das von mehr als 500 Universitäten aus verschiedenen Ländern gebildet wird, soll die akademische Freiheit fördern und bedrohte Professoren unterstützen, indem es ihnen dabei hilft, ihr Land vorübergehend zu verlassen.
Scholars at Risk berichten über eine Zunahme der Angriffe in Brasilien
Ende 2019 wies ein Bericht von Scholars at Risk auf eine Zunahme der Angriffe auf brasilianische Wissenschaftler hin und verurteilte diese. Die Regierung solle angemessene Sicherheitsbedingungen für Akademiker und Universitäten schaffen und keinen Hass gegen sie schüren. Dennoch attackieren der Präsident und andere Regierungsmitglieder die brasilianischen Hochschulen nach wie vor ständig mit negativen Kommentaren.
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Das brasilianische Bildungsministerium wurde in dem Bericht dazu aufgefordert, den Bedrohungen für Akademiker entgegenzuwirken. Das aber erklärte sich für nicht zuständig und delegierte die Verantwortung für das Thema an das Ministerium für Justiz und öffentliche Sicherheit. Letzteres riet nun seinerseits dazu, die brasilianische Bundespolizei zu kontaktieren, und erklärte somit ebenfalls, nicht zuständig zu sein. Die brasilianische Bundespolizei wollte sich auf Anfrage des Tagesspiegels nicht äußern.
Hass rechter Extremisten gegen Hochschulen
Scholars at Risk erwartet von den Behörden mit Blick auf das Universitätsumfeld eine sensible Sprache – um die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu schützen, anstatt das gesellschaftliche Klima zu vergiften und die Akademiker zur Zielscheibe von Angriffen zu machen. „Die Rhetorik, die wir in Brasilien sehen, erfüllt diese Kriterien nicht“, sagt Robert Quinn. Laut Quinn ist eine solche dramatische Verrohung des Diskurses seit Ende der Militärdiktatur im Jahr1985 nicht mehr zu beobachten gewesen.
Die rhetorischen Invektiven gegen diverse Hochschuleinrichtungen befeuern laut Auffassung betroffener Personen den Hass der rechten Extremisten. Débora Diniz erklärt, es sei kein Zufall, dass Wissenschaftlerinnen wie sie und Márcia Tiburi – eine Universitätsprofessorin für Philosophie, die Brasilien aufgrund von Morddrohungen im Jahr 2019 verlassen hat – von gut organisierten rechten Gruppierungen eingeschüchtert wurden. „Nicht von ungefähr haben die Angriffe gegen die Scientific Community sich massiv erhöht seit Bolsonaro im Amt ist, auch wenn er persönlich niemanden bedroht hat.“
Deutschland ist zu einem prominenten Ziel für Wissenschaftler geworden, die ihre Heimatländer wegen der vielfältigen Bedrohungslagen verlassen haben. Die Situation für Akademiker in Deutschland werde allgemein als positiv erachtet, erklärt Robert Quinn.
Wissenschaftler aus Brasilien kommen verstärkt nach Deutschland
„Wir freuen uns sehr, dass deutsche Hochschuleinrichtungen eine große Anzahl ausländischer Wissenschaftler, die in ihrem eigenen Land nicht sicher waren, aufgenommen und ihnen befristete Stellen verschafft haben“. Er rechnet damit, dass Deutschland in den vergangenen Jahren etwa 500 Akademiker aufgenommen hat.
Nachdem bereits Jean Wyllys, der erste offen schwule Parlamentarier Brasiliens, nach Deutschland immigriert war, kommen in der Tat nun auch verstärkt Angehörige des Wissenschaftsbetriebs.
Zum Beispiel die queere Nachwuchswissenschaftlerin Roberta (Name von der Redaktion geändert), die in Berlin auf einer Postdoc-Stelle forscht. Sie ist 30 Jahre alt und zieht es vor, ihre Identität nicht preiszugeben, weil sie den langen Arm des brasilianischen Präsidenten fürchtet. Die Forscherin studierte zunächst an der Bundesuniversität Ceará in Brasilien. Danach machte sie ihren Master an der FU, wo sie anschließend auch promovierte.
„Als LGBT habe ich mich in Brasilien immer diskriminiert gefühlt, weshalb es befreiend war, das Land zu verlassen“, sagt sie. So sah sich Roberta vor allem „der täglichen LGBT-Feindlichkeit ausgesetzt, unter der fast alle Mitglieder der Community auf die ein oder andere Weise leiden“.
Ein Professor weiß nicht, wann er wieder in sein Heimatland zurückkehren darf
Roberta unterstützt die Arbeit von Scholars at Risk. Obwohl sie sich in der deutschen Hauptstadt sicher fühlt, beunruhigt sie der Auftrieb des hiesigen Rechtsextremismus. „Als Antifaschistin beobachte ich die Bewegung der extremen Rechten hier sehr genau, insbesondere seit dem kontinuierlichen Wachstum der AfD in den vergangenen Jahren“.
Auch der Wissenschaftler David Nemer musste im Dezember 2019 aus Brasilien fliehen, nachdem er immer heftiger bedroht wurde. Nemer ist Professor am Department of Media Studies der University of Virginia und forscht zu Gruppen, die Bolsonaro auf WhatsApp unterstützen. Seit 2010 lebt der Sozialwissenschaftler und Medienforscher in den USA, hat aber lange in Brasilien geforscht. Er weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis er in sein Heimatland zurückkehren kann.
Neben der Untersuchung von Online-Gruppen führt Nemer Feldstudien durch, hauptsächlich in den Slums von Vitória, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Espírito Santo. Als er Ende des vergangenen Jahres in São Paulo war, wurde er im Internet massiv bedroht. Von einem Polizisten wurde er angewiesen, das Land doch besser zu verlassen. „Ich fühlte mich privilegiert, das erste Flugzeug nehmen zu können, aber ich denke immer wieder an die große Mehrheit der Menschen, die dieses Privileg nicht hat, und mit den Bedrohungen leben muss“, sagt er.
In den USA glaubt sich Nemer in Sicherheit. Nachdem er im März 2018 mit der Analyse von Pro-Bolsonaro-WhatsApp-Gruppen begonnen hatte, flimmerten jedes Mal, wenn er einen Artikel veröffentlicht oder ein Interview geführt hatte, Einschüchterungs-E-Mails über seinen Bildschirm.
"Radikalisierungsplattformen" auf WhatsApp
Die Ergebnisse aus Nemers Forschung belegen, dass rechte WhatsApp-Gruppen „nach der Verbreitung gefälschter Nachrichten, die zur Wahl von Bolsonaro beigetragen haben“, weiterhin sehr aktiv sind und als „Radikalisierungsplattformen“ fungieren.
Débora Diniz wurde inzwischen in das Programm der Bundesregierung zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern aufgenommen. Die Dozentin bleibt in sozialen Netzwerken aktiv. „Das ist es, was mir an politischer Partizipation geblieben ist“, erklärt sie.
Von den Kollegen, die noch in Brasilien weilen, seien viele verängstigt: „Ich habe Kollegen, die um Beurlaubung gebeten haben, weil sie eingeschüchtert und bedroht wurden. Angst hat eine demobilisierende Wirkung“, sagt Diniz. „Viele Professoren fürchten sich vor Strafe. Deshalb haben einige damit begonnen, ihre Forschungspläne und Arbeitsweisen zu ändern.“ Es sei eine Form von Selbstzensur.
Débora Diniz erzählt, dass Geisteswissenschaftler und Philosophen, sowie alle, die sich mit den Themenkomplexen Geschlecht und Sexualität befassen und das heteronormative Familienbild infrage stellen, besonders bedroht sind. Auch Robert Quinn hält bestimmte Felder und Personen für besonders gefährdet. Die Wissenschaft sei aber auch im Ganzen bedroht, warnt er: „Die Aufgabe von Akademikern ist es, neue Ideen zu entwickeln und diese mit der Öffentlichkeit zu teilen. Wenn die politische Macht sich an überkommene Ideen klammert, führt das notwendig zum Konflikt mit den progressiven Kräften.“
Die Autorin ist Stipendiatin des Internationalen Journalisten-Programms (IJP).
Ana Paula Lisboa