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Bei der Beerdigung von Evaldo dos Santos Rosa zeigen Demonstranten eine brasilianische Flagge mit künstlichen Blutflecken. Soldaten hatten mehr als 80 Schüsse auf das Auto des Musikers abgegeben.
© Mauro Pimentel/AFP

Brasilien unter Bolsonaro: Der blutige Anfang

„Erst schießen, dann ansprechen“ – so stellt sich Brasiliens neuer Präsident Polizeiarbeit vor. In den Favelas von Rio wird das nun umgesetzt.

Tatiana Carvalho zeigt den Totenschein ihres Sohnes. Hämatome, Wunden, Verletzungen der Lunge und des Schädels sind dort aufgeführt. „Die Polizisten haben ihn misshandelt“, sagt Carvalho, „genauso wie die anderen Jungs auch.“ Die klein gewachsene Frau trägt ein T-Shirt mit den Fotos zweier junger Männer, darunter steht: „Enzo & Felipe. Sie werden niemals vergessen werden.“ Um die 39-Jährige herum stehen aufgebrachte Bewohner der Favela Fallet, einer Armensiedlung in Rio de Janeiro, deren unverputzte Häuschen sich in der Nähe des Stadtzentrums einen Steilhang hochziehen.

Die Menschen haben sich im Gemeindezentrum versammelt, weil sie ihre Version der dramatischen Ereignisse in der Favela erzählen wollen. Ein Mann sagt: „Wir haben das erste Polizeimassaker der Bolsonaro-Zeit erlebt. Das wird jetzt so weitergehen.“

Jair Bolsonaro ist seit dem 1. Januar Präsident Brasiliens. Er hat rücksichtslose Härte gegen Verbrecher versprochen und gesagt: „Nur ein toter Bandit ist ein guter Bandit.“ Oder: „Erst schießen, dann ansprechen.“ Es mag daher kein Zufall sein, dass die Polizeigewalt seit Bolsonaros Amtsantritt deutlich zugenommen hat. Im Januar und Februar töteten Beamte in Rio de Janeiro fast 320 Menschen, im Durchschnitt fünf pro Tag, wie das brasilianische Institut für Öffentliche Sicherheit ermittelt hat. Es ist der höchste Wert der vergangenen 21 Jahre.

Das Rattern der automatischen Gewehre

Der Schluss liegt nahe, dass die Polizei sich von den Worten eines Präsidenten ermutigt fühlt, der sagt: „Wenn ein paar Unschuldige sterben, ist das okay. In jedem Krieg sterben Unschuldige.“

Tatiana Carvalhos Sohn hieß Felipe, er wurde 21 Jahre alt. Der andere junge Mann auf ihrem T-Shirt ist Enzo, ihr Neffe. Auch er starb an jenem 8. Februar. Die beiden hatten sich, so viel ist klar, mit sieben Kumpanen in einem Haus versteckt, weil sie auf der Flucht vor der Tropa de Choque waren, der Schocktruppe. Die Einheit, deren Markenzeichen eine schwarz-graue Tarnuniform ist, war in die Favela eingerückt, weil die Drogengang Comando Vermelho – übersetzt: Rotes Kommando – sich tagelange Gefechte mit der Gang einer benachbarten Favela geliefert hatte. Das Rattern der automatischen Gewehre und das Knallen der Pistolenschüsse waren weit zu hören, Straßen wurden abgesperrt, Anwohner kamen nicht mehr nach Hause.

Es gilt als sicher, dass die Männer in dem Haus zum Roten Kommando gehörten. Welche Aufgaben sie hatten, ist nicht klar, ob sie Waffen trugen oder mit Funkgeräten ausgestattete Späher waren. Bei der Versammlung bestreiten die Favelabewohner auch nicht, dass die Jugendlichen Verbindungen zu der Drogengang hatten. „Aber die Polizisten hätten sie festnehmen können“, sagt Tatiana de Carvalho mit Tränen in den Augen. „Stattdessen wurden sie hingerichtet.“

Auf einem Pritschenwagen liegen Leichen

Die Audioaufnahme eines Favelabewohners registriert 43 Schüsse innerhalb von drei Minuten, die in dem Haus abgegeben wurden. Ein unscharfes Handyvideo, das ein anderer Anwohner kurze Zeit später vom Fenster seiner Wohnung aus machte, zeigt zwei Polizei-Pick-ups, die vor dem Haus stehen. Auf einem Pritschenwagen liegen Leichen. Dann sind zehn weitere Schüsse zu hören, die Polizisten schleppen etwas aus dem Haus und werfen es auf die Ladefläche, ob es sich um weitere Körper handelt, ist nicht klar zu erkennen. Drei Minuten später brausen die Pick-ups davon. Die Beamten sitzen mit Waffen im Anschlag auf den Leichen, so als ob es Trophäen wären.

Einige Nachbarn wagen sich nun in das kleine Haus. Was sie sehen und auf Fotos festhalten, sind blutverschmierte Kacheln, Schleifspuren, Kleidungsstücke, einzelne Schuhe. Die Wände sind voller Einschusslöcher. Eine Untersuchung wird später ergeben, dass in dem Haus sieben Polizisten insgesamt 94 Schüsse abgaben.

Die knappe Version der Vorfälle, die die Militärpolizei veröffentlicht, geht auf solche Details nicht ein. Demnach wurden die Polizisten von den Kriminellen beschossen und erwiderten das Feuer. Bei dem Gefecht kamen die Verbrecher um. Die Anschuldigungen der Bewohner seien haltlos, die Polizei beschütze die Bevölkerung. Präsident Bolsonaro hat es so ausgedrückt: „Ein Polizist, der nicht tötet, ist kein Polizist.“

„Werde mal größer, damit ich dich töte“

Felipe war der älteste der vier Söhne von Tatiana Carvalho. Wie viele Frauen in den Armenvierteln Brasiliens ist sie alleinerziehende Mutter. „Ich war Mutter und Vater für Felipe“, sagt sie. „Ich habe ihn nicht aufgezogen, damit sie ihm so das Leben rauben!“ Carvalho arbeitet als Putzfrau in Rios wohlhabender Südzone und bietet außerdem Maniküre an.

Es gibt Menschen in Brasilien, deren Leben nicht viel zählen, insbesondere dann, wenn sie arm und schwarz sind. Tatiana Carvalhos jüngster Sohn ist acht Jahre alt. Sie berichtet, dass er vor ihrem Haus stand, als ein Polizist vorbeilief und zu ihm sagte: „Werde mal größer, damit ich dich töte.“

Jair Bolsonaro ist seit gut 100 Tagen Präsident Brasiliens, und selbst konservative Medien schreiben, dass seine Amtszeit bislang einer Aneinanderreihung von Absurditäten gleicht. In seiner Antrittsrede sagte Bolsonaro, dass Brasilien jetzt vom Sozialismus befreit werde – der hier nie existierte. Er hat rechte Verschwörungstheoretiker zu Ministern gemacht und sich auf peinliche Art bei Donald Trump angedient, als er brasilianische Immigranten in den USA als böswillig charakterisierte. Ansonsten hat die Regierung eine Rekordzahl neuer Pestizide zugelassen, plant Ölbohrungen ohne Umweltstudien, will Indigenen-Reservate zur Ausbeutung freigeben und den Waffenbesitz liberalisieren, um die Gewalt zu bekämpfen. 64000 Menschen wurden 2017 in Brasilien ermordet, laut von den Vereinten Nationen erhobenen Zahlen so viele wie in keinem anderen Land.

Bei der Polizeiaktion in der Favela Fallet wurden 15 Männer getötet. Es war die blutigste Polizeioperation in Rio seit 2007. Die Beamten stellten vier Gewehre, 14 Pistolen, sechs Granaten sowie Drogen sicher.

Die Beamten hielten Popcorn für Drogen

Laut Umfragen findet die Hälfte der Brasilianer es richtig, wenn die Polizei legal Kriminelle töten dürfte. Einen Spruch hört man nun häufig: „Menschenrechte nur für rechtschaffene Menschen.“

Brasilien hat sich an die Gewalt gewöhnt. Nur noch wenige Fälle sorgen für Aufsehen. So wie zuletzt der Tod eines Musikers, der mit seiner Familie in einer Vorstadt von Rio unterwegs war, als sein Wagen von 80 Kugeln getroffen wurde. Soldaten hatten offenbar sein Auto verwechselt und selbst dann noch gefeuert, als Anwohner versuchten, die Familie aus dem Wagen zu retten. Bei einer anderen Gelegenheit verwechselten Polizisten angeblich einen Regenschirm mit einem Gewehr und erschossen einen Mann. Bei einem Jugendlichen hielten die Beamten Popcorn für Drogen.

Der Präsident, der selbst Ex-Militär ist, äußert sich zu solchen Vorgängen nicht. Eins seiner Wahlversprechen lautet: „Die Polizei erhält eine Lizenz zum Töten.“

Brasiliens neuer Justizminister ist der ehemalige Untersuchungsrichter Sérgio Moro. Der schneidige 46-Jährige ist ein Held der brasilianischen Rechten, weil er Ex-Präsident Lula da Silva von der Arbeiterpartei vor der Wahl wegen Korruption hinter Gitter brachte. Lula hätte Bolsonaro laut Umfragen bei der Wahl geschlagen, aber konnte nicht mehr antreten.

Nun hat Moro eine Justizreform vorgelegt, in der Polizisten Straffreiheit garantiert wird, wenn sie im Dienst töten, um das „Risiko einer Aggression“ zu verhindern oder aus „entschuldbarer Angst, Überraschung oder überwältigenden Emotionen“ handeln. Anwälte sind entsetzt über diese Formulierungen. Sie seien so weit auslegbar, dass sie regelrecht zum Schießen einlüden. Es sei ein Vorschlag zum Abschlachten armer Jugendlicher.

„Es war ein Massaker“

Zu den Befürwortern garantiert straffreier Tötungen gehört auch Rio de Janeiros neuer Gouverneur Wilson Witzel. Der ehemalige Richter hat vorgeschlagen, Drogenhändler einfach von Scharfschützen abschießen zu lassen. Kurz nach dem mutmaßlichen Massaker in Fallet gratulierte Witzel der Polizei. Per Twitter teilte er mit: „Unsere Polizei hat gute Bürger beschützt.“

Auf der Bewohnerversammlung in Fallet sehen sie das anders. Es wird durcheinandergeredet, jeder will berichten, was er erlebt hat. Dabei wird nicht immer klar, was die Leute wirklich wissen und was sie nur zu wissen glauben. Aber zwei Dinge hört man immer wieder: „Der Staat lügt“ und „es war ein Massaker“.

Wie Tatiana Carvalho tragen auch andere Mütter T-Shirts mit den Fotos ihrer toten Söhne. „Ewige Sehnsucht“, steht über einem. Einige Bewohner zeigen Bilder auf ihren Handys, die sie per Whatsapp zugespielt bekommen haben. Sie stammen aus dem Krankenhaus, in dem die Autopsien gemacht wurden. Nackte Körper liegen auf dem Boden, auch Felipes Leichnam ist zu sehen. Er ist voller Verletzungen, das Gesicht blutverschmiert, sein Kopf geschwollen. Aus seinem Bauch quellen Eingeweide hervor.

Sieben Gewehrkugeln

Im vierseitigen Obduktionsbericht, an den später ein Reporter des Magazins „Piauí“ gelangt, werden 14 Wunden aufgelistet. Sie seien von sieben Gewehrkugeln verursacht worden, die Felipes Körper durchschlugen. Sie kamen von vorne, von hinten, von links und rechts und trafen: Kopf, Lunge, Herz, Zwerchfell, Leber, Magen und Darm. An drei der Wunden stellten die Forensiker Pulverreste fest, die sogenannten Schmauchspuren. Es bedeutet, dass die Kugeln aus geringer Entfernung abgefeuert wurden.

Weil die Indizien auf eine Exekution hindeuten, schaltete sich auch Amnesty International ein. Die Menschenrechtsorganisation verlangt die Aufklärung jedes einzelnen Todesfalls im Land. Im Jahr 2017 starben 5144 Brasilianer durch Polizeikugeln, ein Anstieg von 20,5 Prozent zu 2016. Nur in den wenigsten Fällen werden die Hintergründe geklärt.

Bei einem Anruf ein paar Tage später berichtet Tatiana Carvalho, dass sie ihren Sohn Felipe in der Nähe von ihrer Favela begraben wolle. Aber das ginge nicht. Der Friedhof liege in einem Viertel, das zum Terrain der gegnerischen Drogengang gehöre.

Als die Anwohnerversammlung sich auflöst und in kleinen Grüppchen auf der Straße weiter diskutiert wird, erzählt eine junge schwarze Frau, dass ein Polizist zu ihr gesagt habe: „Dieses Mal waren es nur zehn, nächstes Mal sind es zwanzig.“ Er soll dabei ganz ruhig gewesen sein.

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