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Ein junger Mann sitzt am einem Tisch und macht Schreibübung.
© IMAGO

Analphabetismus am Arbeitsplatz: Betroffene gehen offen mit Leseschwäche um

Funktionaler Analphabetismus ist in Betrieben kein Tabu. Eine aktuelle Studie zeigt: Viele Kollegen und Chefs wissen davon und helfen den Betroffenen. Was nicht immer hilfreich ist, weil der Leidensdruck sinkt.

Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben selbst einfacher Texte zu haben, gilt als Tabu. Davon geht etwa die groß angelegte Kampagne der Bundesregierung „Lesen und Schreiben. Mein Schlüssel zur Welt“ aus. Erfolgsgeschichten ehemaliger Analphabeten sollen Betroffene ermutigen, sich ihrem Problem zu stellen – und etwas dagegen zu tun. Eine aktuelle Studie der Stiftung Lesen ergibt jedoch, dass viele Menschen, die trotz Schulbesuchs nicht richtig lesen und schreiben können, ohnehin offen mit ihrer Einschränkung umgehen. Auch Kollegen und Arbeitgeber seien häufig informiert und unterstützten die funktionalen Analphabeten dabei, den Berufsalltag zu bewältigen.

Erste derartige Untersuchung zu Analphabetismus im Beruf

Der Studie zufolge geben 34 Prozent der Arbeitnehmer und 42 Prozent der Arbeitgeber an, einen oder mehrere Mitarbeiter zu kennen, die gar nicht oder nur schlecht lesen und schreiben können, teilte die Stiftung Lesen am Freitag mit. Für die Untersuchung mit dem Titel „Sensibilisierung von Arbeitnehmern für das Problem des funktionalen Analphabetismus in Unternehmen“ (Sapfa) wurden im November 2013 rund 1600 un- und angelernte Arbeitskräfte und 550 Arbeitgeber befragt (hier geht es zur Studie). Sie stammten aus Branchen, in denen der Anteil funktionaler Analphabeten überdurchschnittlich hoch ist: im Baugewerbe, in der Gastronomie oder in der Gebäudereinigung. Damit sei erstmals die Sicht des beruflichem Umfelds auf Analphabetismus untersucht worden, heißt es. Finanziert wurde die Studie vom Bundesbildungsministerium – im Rahmen der 2011 gestarteten nationalen Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener. In eine Initiative zur arbeitsplatzorientierten Forschung auf dem Gebiet der Alphabetisierung und Grundbildung investiert das BMBF von 2012 bis 2015 insgesamt rund 20 Millionen Euro.

15 Prozent der Befragten haben selber Probleme beim Lesen

Von funktionalem Analphabetismus sind in Deutschland 7,5 Millionen Erwachsene betroffen, mehr als die Hälfte ist erwerbstätig. Vor einem Jahr hatte „Piaac“, der von der Organisation für Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) durchgeführte Pisa-Test für Erwachsene, ergeben, dass 17,5 Prozent der Deutschen nur geringe Lesekompetenzen haben und allenfalls kurze Texte mit einfachem Vokabular verstehen können. In Berlin geht die Bildungsverwaltung wie berichtet von aktuell 14 Prozent funktionalen Analphabeten aus, 18 Prozent verfügten lediglich über die Lese- und Schreibfähigkeit von Zehnjährigen. Bis zum Ende dieses Jahres will der Senat deshalb eine Strategie gegen Analphabetismus und neue Hilfsangebote entwickeln. Unter den von der Stiftung Lesen Befragten bekannten sich 15 Prozent entweder selbst zu ihren Defiziten oder wurden von den Interviewern als leseschwach identifiziert.

"Mitwisser" glauben, dass die Betroffenen gut zurecht kommen

„Unsere Studie zeigt, dass Analphabetismus am Arbeitsplatz kein echtes Tabu ist und Betroffene nicht diskriminiert werden“, sagt Simone C. Ehmig, Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen. Viele Arbeitnehmer und Arbeitgeber seien auch der Meinung, dass den Analphabeten durch Weiterbildung geholfen werden müsse. „Allerdings werden in der Praxis oft nur die Symptome kuriert“, sagt Ehmig. Zwar ist jeder zweite Arbeitgeber der Ansicht, mit in der Verantwortung für Alphabetisierungsmaßnahmen zu stehen, etwa ein Viertel ist bereit, diese zu finanzieren oder Arbeitnehmer dafür freizustellen. Eine Studie der Universität Hamburg zeige jedoch: Die „Mitwisser“ haben gleichzeitig häufig das Gefühl, dass die Betroffenen im Alltag gut zurechtkommen, was einer nachhaltigen und umfassenden Alphabetisierung im Wege stehe. Wer als Betroffener offen mit seiner Schwäche umgeht und wem verständnisvolle Kollegen aushelfen, hat zudem einen geringeren Leidensdruck, selber lesen und schreiben zu lernen.

Lernangebote, die schnellen Erfolg bringen, senken die Hemmschwelle

Die Stiftung Lesen empfiehlt eine Verzahnung von Weiterbildungsmaßnahmen, die im beruflichen und im privaten Umfeld der Betroffenen ansetzen. Notwendig seien auch zusätzliche Lernangebote, die kurzfristigen Erfolg und Nutzen bieten – das würde die zeitliche und finanzielle Hemmschwelle senken.

Amory Burchard

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