Analphabetismus am Arbeitsplatz: Die Angst vor den Wörtern nehmen
Eine Berliner Initiative will Mitarbeitern in Unternehmen helfen, die nicht richtig lesen oder schreiben können. Der Handlungsbedarf ist enorm. Allein in Berlin und Brandenburg gibt es etwa eine halbe Million Erwachsene, die Analphabeten sind.
17 Leute sind nicht gerade viel, um ein paar hunderttausend Analphabeten die Angst vor den Wörtern zu nehmen. Aber immerhin: In acht Berliner Unternehmen gibt es jetzt 17 Mentoren als Ansprechpersonen für die Mitarbeiter, die nicht richtig lesen oder schreiben können. In Berlin und Brandenburg zählt etwa eine halbe Million Erwachsener zu den Analphabeten, in Berlin hat schätzungsweise jeder Elfte Probleme. Bemerkenswert dabei: Mehr als die Hälfte der Menschen, die höchstens einige Wörter erkennen und allenfalls kurze Sätze schreiben können, ist berufstätig.
Bei diesem Personenkreis setzt die Initiative „Mento – Kollegiales Netzwerk für Grundbildung in der Arbeitswelt“ an. Das Projekt wird vom Bildungswerk des Deutschen Gewerkschaftsbundes in sechs DGB-Bezirken (neben Berlin-Brandenburg sind das NRW, Hessen-Thüringen, Baden-Württemberg, Bayern und Norddeutschland) durchgeführt und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung für drei Jahre finanziert.
Der Handlungsbedarf ist enorm. 2011 wurde im Rahmen einer Studie ermittelt, dass 7,5 Millionen Erwachsene (ohne Migranten, die kein oder kaum Deutsch verstehen) hierzulande nicht ausreichend gut lesen und schreiben können. Rund vier Millionen dieser Analphabeten haben einen Job – wobei bestimmte Branchen auffallen. Jeder vierte Koch, Maler oder Lkw-Fahrer kann kaum lesen und schreiben. Unter den Hilfsarbeitern auf dem Bau ist es sogar fast jeder zweite. Auch Pflegehelfer in Altenheimen oder Krankenhäusern haben oft Probleme, ebenso Reinigungskräfte oder Lagerarbeiter in Logistikzentren sowie Beschäftigte in Hotels und Gaststätten.
Mehr Achtsamkeit
Aus diesen Branchen stammen auch die acht Berliner Unternehmen, die im Rahmen von Mento dabei sind. Die 17 Mentoren – allesamt beschäftigt bei den acht Unternehmen – wurden ein paar Tage lang geschult, um die nötige Achtsamkeit zu entwickeln. Denn die Betroffenen haben „täglich die Sorge, dass dieses oft gut gehütete Geheimnis aufgedeckt werden könnte“, wie Mento-Projektleiterin Cornelia Scholz sagt. Der Klassiker unter den Vertuschungsmanövern sei die Ausrede, man habe die Brille vergessen, könne deshalb das Formular nicht ausfüllen und hole das zu Hause nach.
Die Mentoren sollen nun versuchen, einen Kontakt herzustellen und Vertrauen aufzubauen. Wenn es optimal läuft, wollen die Analphabeten sich schulen lassen. „Unser Anliegen ist es, in Unternehmen und Verwaltungen Strukturen zu schaffen, die es den Mitarbeitern ermöglichen, ihren individuellen Qualifikationsbedarf zu identifizieren und das Thema Weiterbildung mehr und mehr in die innerbetriebliche Weiterbildung zu implementieren“, beschreibt Scholz die Zielsetzung. Deutschlandweit gibt es mehr als 30 Projekte dieser Art, in Berlin sind es derzeit zusätzlich zu Mento noch vier weitere: videobasiertes Lernen, spezielle Angebote für Pflegekräfte sowie eine Alphabetisierungsinitiative in Moscheen und schließlich eine Art Forschungsprojekt am Arbeitsplatz, mit dem der Grundbildungsbedarf ermittelt wird.
Immer noch ein Tabuthema
Von einem „riesigen Potenzial“ spricht Alexander Schirp, Geschäftsführer bei den berlin-brandenburgischen Unternehmensverbänden UVB. Tatsächlich ist in Politik und Verbänden, in Kammern und Betrieben ständig die Rede vom Fachkräftemangel – und gleichzeitig gibt es in der Bildungsrepublik Deutschland 7,5 Millionen Erwachsene, die nicht lesen und schreiben können; rund 300 000 davon in Berlin. „Das Thema wird irgendwann auch die Personalentwicklung in den Unternehmen erreichen“, glaubt Schirp. Bis dahin gibt es kleine Initiativen wie Mento, die überdies noch von einigen großen Partner dominiert werden – von den 17 bislang geschulten Mentoren sind acht bei der BVG im Einsatz. Weitere 15 kommen demnächst bei einem großen Berliner Dienstleister dazu, dessen Name geheim bleiben muss. Analphabetismus ist eben immer noch ein Tabuthema. Und das ist Teil des Problems.
Immerhin ist die Wirtschaft inzwischen wach geworden, was den Nachwuchs betrifft. „In vielen Branchen wird ausbildungsbegleitend oder ausbildungsvorbereitend Stützunterricht angeboten, um Defizite der Jugendlichen auszugleichen“, sagt der UVB-Mann. Die erwerbstätigen Erwachsenen, die nicht lesen können, müssen auf Mento hoffen.
Alfons Frese
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