Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert: „Auschwitz geht alle etwas an“
Das unermessliche Leid nicht vergessen und aus der Geschichte lernen: Derviş Hızarcı über Herausforderungen der Erinnerungskultur in der Migrationsgesellschaft.
Derviş Hızarcı ist Antisemitismusexperte, Pädagoge, Vorsitzender des Vereins Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA) und seit September 2020 Programmdirektor der Alfred Landecker Stiftung. Zuvor war er Antidiskriminierungsbeauftragter des Berliner Senats und 2008 bis 2011 Mitarbeiter des Jüdischen Museums Berlin.
Anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktags nahm Hızarcı neben Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier und anderen an der symbolischen Vollendung der Restaurierung der historischen Sulzbacher Thorarolle teil, die am 27. Januar 2021 im Mittelpunkt einer Gedenkfeier im Deutschen Bundestag stand. Das Interview mit Hızarcı führte Christoph David Piorkowski.
Herr Hızarcı, am 27. Januar jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee zum 76. Mal. Wie begehen Sie den Holocaustgedenktag?
Ich werde im Bundestag sein, wo es trotz der Pandemie eine analoge Gedenkstunde gibt. Diese ist etwas Besonderes: nicht nur deshalb, weil neben Charlotte Knobloch auch Marina Weisband spricht – junge Stimmen machen diese oft traditionellen Gedenkfeiern vielfältiger. Sondern auch, weil mit der ältesten Thorarolle Süddeutschlands ein historisches Artefakt im Zentrum des Gedenkens steht, das ein einzigartiges Schlaglicht auf die 1700-jährige deutsch-jüdische Geschichte wirft.
Durch das Engagement Einzelner hat diese Sulzbacher Thorarolle Jahrhunderte überdauert. Heute soll sie durch Buchstabensetzungen von Angela Merkel, Frank-Walter Steinmeier und anderen vollendet werden. Für den bayerischen Rabbiner Elias Dray war es wichtig, dass am Akt der Thoravollendung auch ein Muslim beteiligt ist. Deshalb hat er mich gefragt, ob ich nicht ebenfalls einen Buchstaben setzen möchte. Von kleinen Zeichen kann manchmal eine große Signalwirkung ausgehen.
Es wird häufig moniert, die Erinnerungskultur drohe in trägen Routinen zu erstarren. Muss sich die Praxis des Gedenkens verändern?
Ja und nein. Ich will die Routinen auf keinen Fall schlechtreden. Die waren und sind weiterhin überaus wichtig. Die Gedenkkultur, die sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, ist nicht von selbst entstanden, sie wurde von Einzelnen gegen heftige Widerstände erstritten. Das sollte man nicht gering schätzen.
Und doch wird zu Recht kritisiert, dass das Gedenken teilweise eine Form angenommen hat, die nicht alle gleichermaßen einbezieht. Dass das vornehmlich weiß-deutsche und jüdisch-deutsche Veranstaltungen sind, die viele Menschen mit Migrationshintergrund außen vor lassen. Es gibt aber eine Tendenz, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Bundespräsident Steinmeier hat Expert*innen eingeladen und wir haben darüber geredet, wie man Erinnerungskultur in einer Einwanderungsgesellschaft denken und gestalten muss.
[Lesen Sie auch den Kommentar von Christoph David Piorkowski zum Holocaust-Gedenktag: Das Erinnern an den Holocaust ist eine zivilisatorische Aufgabe]
In Bielefeld hat eine Initiative dafür gesorgt, dass sich auch viele Muslime daran beteiligt haben, die Namen der Jüdinnen und Juden zu verlesen, die aus der Stadt deportiert worden sind. Nun die Sulzbacher Thorarolle. Das sind Ansätze, die zeigen, dass wir uns verändern. Die Selbstgewissheit, Erinnerungsweltmeister zu sein, muss unbedingt kritisch überprüft werden.
Teilen Sie Max Czolleks These, dass die Nachfahren des Tätervolkes oft darum bemüht sind, auf der Bühne eines großen „Erinnerungstheaters“ ihre kollektive Läuterung vorzuführen?
Ich bin kein Sozialpsychologe und traue mir deshalb auch keine kollektive Seelendeutung zu. Aber solche Gedanken wie die von Max Czollek müssen vermehrt diskutiert werden. Warum erinnert man sich? Sicher muss man auf die historische Schuld der Deutschen immer wieder aufmerksam machen. Und natürlich haben die Nachfahren des Tätervolkes hier eine besondere Verantwortung.
Vor allem aber sollte man der Leidenden gedenken. Die Gemarterten und die Toten verdienen es, niemals vergessen zu werden. Als Pädagoge muss man das Thema auch deshalb behandeln, damit Kinder und Jugendliche lernen, Recht von Unrecht zu unterscheiden.
Wie wichtig sind Gegenwartsbezüge – gerade vor dem Hintergrund, dass rechtsextremes Denken sich in deutschen Parlamenten festgesetzt hat?
Aktualitätsbezüge sind ungeheuer wichtig. Die Vergangenheit darf nicht losgelöst von der Gegenwart betrachtet werden. Heute können wir sehen, wie bedeutsam ein waches historisches Bewusstsein ist. Rechtsextreme nehmen als Vertreter*innen des Volkes an offiziellen Gedenkveranstaltungen teil, machen sich nicht einmal die Mühe, ihre Ablehnung zu verschleiern, und verhöhnen die Opfer der Shoah.
Verschwörungsideologien und rassistisches Gedankengut sind längst salonfähig. Deshalb ist es wichtig, Bezüge herzustellen, zu zeigen, dass sich manches wiederholen kann, dass Menschen auch heute Erfahrungen von Dehumanisierung und Ausgrenzung machen.
Wir leben in einer Einwanderungsgesellschaft, in der Menschen sehr verschiedene Familienhintergründe haben. Sie selbst sind als Sohn einer türkischen Gastarbeiterfamilie in Neukölln aufgewachsen. Wie sieht ein zeitgemäßes Gedenken der Shoah in der postmigrantischen Gesellschaft aus?
Zeitgemäßes Gedenken an die Shoah bedeutet für mich, dass wir diese europäische Gewalterfahrung als deutsche Bürger*innen egal welchen religiösen, kulturellen, ethnischen oder sprachlichen Hintergrunds in einem einbeziehenden Sinne teilen. Es steht ja manchmal der Vorwurf im Raum, Migrant*innen würden am Gedenken nicht teilhaben wollen, da ihre Vorfahren nun mal keine Deutschen waren.
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Jene, die Leid erfahren haben oder umgebracht wurden, verdienen unser Erinnern unabhängig davon, welche Rolle unsere Großeltern zu jener Zeit gespielt haben. Es geht darum, dieses Leid nicht zu vergessen und aus der Geschichte für die Gegenwart zu lernen. Auch heute nie wegzuschauen, wenn Unrecht geschieht.
Sie meinen, eine integrative Gedenkkultur soll die Opferperspektive ins Zentrum stellen und das Leiden als gemeinsames Erinnerungsmotiv profilieren?
Ja, das unbeschreibliche Leiden, das Menschen im Holocaust zugefügt wurde, hat für jede und jeden eine Bedeutung. Auschwitz geht alle etwas an, egal welchen Hintergrund man hat.
Ist es sinnvoll, den Besuch einer Holocaust-Gedenkstätte obligatorisch in schulische Curricula aufzunehmen?
Wünschenswert wäre es, dass mehr Lehrer*innen diese Angebote von selbst nutzen. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir es schaffen, dass sich Multiplikator*innen in der Pädagogik stärker für das Thema interessieren. Denn eines ist doch klar: Wenn eine Schülerin nicht weiß, was Auschwitz ist, müssen wir Erwachsenen uns schämen. Da haben weniger die Kinder als vielmehr die Eltern und Lehrkräfte versagt.
Vor welchen Herausforderungen steht die Erinnerungskultur angesichts der Tatsache, dass die Zeitzeugen verschwinden und der Holocaust jüngeren Generationen mitunter als weit entfernte „Geschichte“ erscheint?
Es stellt sich die Frage, ob ein einmaliger Gedenkstättenbesuch überhaupt gegen eine menschenfeindliche und antidemokratische Gesinnung immunisieren kann. Ich glaube, wir müssen das Gedenken neu konzipieren, in erster Linie technologisch. Die Alfred Landecker Stiftung arbeitet zum Beispiel an einer Erinnerungskultur 4.0. Es ist wichtig, verstärkt auf Online-Formate und digitale Kommunikation zu setzen, um jüngere Zielgruppen zu erreichen, die zum Holocaust allein wegen der zeitlichen Entfernung einen immer schwächeren Bezug haben.
Sie sind seit Langem in der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit tätig. Wann haben Sie festgestellt, dass der Kampf gegen den Judenhass eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe darstellt?
Anders als Heiko Maas kann ich nicht sagen, dass mich der Holocaust in die Politik gebracht hat. Er hat mich aber nie wieder losgelassen. Als ich mich nach meiner Schulzeit mit dem Thema bewusst auseinandergesetzt habe, wurde mir klar, dass ich mich jeden Tag dafür einsetzen möchte, dass Menschen nicht diskriminiert werden.
Die Geschichte hat mich gelehrt, dass Ausgrenzung schnell zur Auslöschung werden kann. Ich möchte, dass meine Kinder in Frieden und Freiheit aufwachsen. Und dass sie wissen, dass das nicht selbstverständlich ist. Ich möchte, dass sie das mit ihrer hybriden Identität verinnerlichen. Sie sollen sich an die Shoah nicht deshalb erinnern, weil ihre Großeltern Täter oder Opfer waren, sondern weil es wichtig ist, das als Menschen zu tun.