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Archäolog:innen graben auf dem waldigen Gelände einer Gedenkstätte, im Hintergrund ist eine monumentale Gedenkstele zu sehen.
© Yoram Haini

Interdisziplinäre Holocaustforschung: Spuren des Leidens und des Mordens

Mit den Mitteln der Archäologie, der Materialforschung und der Epidemiologie: Wie Holocaustforschende lange verborgene Zeugnisse der Opfer sichtbar machen.

Die Holocaustforschung liebt die Theorie. Um den Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden zu erklären, wurde und wird immer wieder auf Deutungsangebote etwa der Soziologie, der Psychologie, der Anthropologie, oder der Kommunikationswissenschaft zurückgegriffen.

Das Handeln von Tätern und Opfern, die Weitergabe von Kenntnissen über den Massenmord oder das Funktionieren von Institutionen lassen sich mit Hilfe derartiger Interpretationsangebote grundlegend analysieren.

Doch zu den Quellen der Geschichtsschreibung gehören auch Zeugnisse, die für Historiker*innen nicht oder nicht mehr sichtbar sind. Sicht- und damit interpretierbar gemacht werden sie durch interdisziplinäre Zusammenarbeit. So gelang es vor Kurzem mit naturwissenschaftlichen Methoden, die Aufzeichnungen Marcel Nadjaris aus dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau auszuwerten.

Dabei handelt es sich um den Brief eines Angehörigen des Sonderkommandos, jener jüdischen Häftlinge, die die SS zwang, für sie die Krematorien und Gaskammern zu betreiben.

Erschütterndes Zeugnis nach Jahrzehnten lesbar

Dieses Zeugnis des Schreckens hatte Nadjari 1944 in einer Thermosflasche versteckt und auf dem Gelände des Krematoriums III in Birkenau vergraben. Erst neun Jahre nach der Befreiung wurde es zufällig gefunden, wobei die Feuchtigkeit ihm so sehr zugesetzt hatte, dass lediglich etwa zehn Prozent des 13-seitigen Textes noch zu entziffern waren.

[Stephan Lehnstaedt ist Professor für Holocaust-Studien am Touro College Berlin. Er nahm als Historiker an einem Projekt zur Fleckfieber-Epidemie im Warschauer Ghetto teil.]

Modernste Multispektralanalyse in Verbindung mit ausgefeilten Methoden digitaler Bildbearbeitung ermöglichte es nun, die Lesbarkeit – im Verlaufe eines Jahres voller mühseliger Arbeit – auf rund 90 Prozent anzuheben: Dabei wurden verschiedenfarbige Pigmente durch gezielten Einsatz von Licht sichtbar gemacht und dann mittels Computeranalyse verbunden.

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Ein spektakuläres Ergebnis für ein zentrales Schriftstück aus Auschwitz, denn es gibt überhaupt nur acht zeitgenössische Aufzeichnungen des Sonderkommandos. Und jenseits dessen eine wegweisende Herangehensweise, die hoffentlich in den nächsten Jahren auf weitere Schlüsseldokumente des Holocaust – etwas das Warschauer Ringelblum-Archiv, das unter ähnlich prekären Bedingungen in der Erde überdauerte – angewandt wird.

In der Erde liegen indes auch die Spuren des Massenmords, die teilweise schon vor dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft systematisch getilgt werden sollten. Das betrifft in erster Linie die Grabstätten, die nicht als Friedhöfe, sondern als unmarkierte Gruben für die sterblichen Überreste der Ermordeten angelegt wurden.

Gegen Ausgrabungen kann die Totenruhe sprechen

Sie einerseits tatsächlich zu identifizieren und dann auch als solche auszuweisen, und andererseits Informationen über das konkrete Massenverbrechen zu erhalten, kann nur mit Hilfe der Archäologie gelingen. In der Holocaustforschung haben solche Kooperationen allerdings noch Seltenheitswert, was auch an der Sensibilität der stets einzuhaltenden Totenruhe liegt. Gefragt ist deshalb eine besondere Achtsamkeit ebenso wie die Hinzuziehung insbesondere von Rabbinern, die für die Einhaltung religiöser Vorschriften sorgen.

Eine Ausnahmeerscheinung ist die seit 15 Jahren auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion tätigen Organisation Yahad-in-Unum des französischen Priesters Patrick Desbois. Dieser Initiative geht es darum, die Wege und Morde der deutschen Einsatzgruppen 1941/42 nachzuzeichnen.

[Lesen Sie auch Stephan Lehnstaedts Artikel über "Lebendiges Erinnern in der Krise"]

Ihr forensisches Vorgehen, bei dem gerade nicht gegraben wird, sondern die Umwandung in Friedhöfe im Vordergrund steht, hat inzwischen zur Identifikation von annähernd 2000 Exekutionsstätten geführt. Ein enormer Beitrag zur Erforschung der Einsatzgruppen sowie der noch während des Krieges versuchten Verschleierung der Spuren.

Zwei Archäologen graben zwischen einem Waldstück und dem Gebäude einer Gedenkstätte nach Spuren der ehemaligen Lagerinsassen.
Archäologen konnten dem Boden bei Ausgrabungen in Sobibór über 20.000 Objekte entringen.
© picture alliance / Wojciech Pacewicz

Ein Fluchttunnel in Sobibor, an dem lange gezweifelt wurde

Bemerkenswert sind auch die Befunde aus dem Vernichtungslager Sobibór in Ostpolen. Die deutschen Täter hatten dort systematisch Gebäude zerstört und auf der planierten Fläche Wald angepflanzt. Angesichts weniger Dokumente und weniger als 60 Überlebenden gewinnt die archäologische Erkundung aus einem Jahrzehnt mit Grabungskampagnen nochmals an Bedeutung: So konnten die Fundamente der Gaskammern – genau wie bei Untersuchungen in Treblinka – aufgespürt werden, zudem ein zugeschütteter Fluchttunnel, den niederländische Jüdinnen und Juden gegraben hatten, dann aber nicht nutzen konnten, weil sie verraten wurden.

Dieser Ausbruchsversuch war bislang in der Forschung umstritten, weil die Aussagen der Überlebenden sich teils widersprachen.

20.000 bisher unbekannte Objekte im Boden

Die Vermessung der Überbleibsel erfolgte in Sobibór auch mittels lasergestützter Luftbilder, die eine präzise Lokalisierung ermöglichten. Non-invasive Methoden haben den Vorteil, Hinterlassenschaften nicht zu zerstören. Gerade bei Gräbern beziehungsweise Aschegruben sind sie zudem der einzige Weg, um etwas über deren Lage und Ausmaß zu erfahren, ohne die Totenruhe zu stören.

Das polnisch-israelische Team um Wojciech Mazurek und Yoram Haimi vermutet die Überreste von mindestens 250.000 Leichen im Boden, was einen erheblichen Unterschied zu den etwa 180.000 ins Lager Deportierten darstellt, die in der Historiographie aktuell als erwiesen gelten. Dieser Widerspruch verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen zeigt deutlich die Notwendigkeit weiterer Forschungen, die beide Perspektiven integrieren, um mehr Licht ins Dunkel zu bringen.

Ein Ring mit einer Gravur in hebräischer Schrift und einem Herzemblem sowie ein Anhänger mit einem Davidstern.
Schmuck, gefunden bei den Ausgrabungen in Sobibór.
© Yoram Haimi

Die Archäologie konnte dem Boden außerdem über 20.000 Objekte entringen. Deren rein materieller Wert ist gering, weil echte Wertgegenstände fast immer von den Deutschen geraubt wurden. Doch zahllose verrostete Schlüssel geben Hinweise darauf, dass die Deportierten keineswegs von ihrem sicheren Tod ausgingen, sondern ganz im Gegenteil ihre Häuser und Wohnungen verschlossen, weil sie auf eine Rückkehr hofften. Und Amulette mit Namen geben Aufschluss über zumindest einige der viel zu vielen namenlosen Opfer des Holocaust.

Ein Schmuckstück hilft bei der Spurensuche

Manchmal ermöglichen sie sogar die Rekonstruktion ganzer Geschichten, etwa im Falle von Karolina Cohn: Das Mädchen hatte 1929 im Frankfurter jüdischen Krankenhaus einen Anhänger mit ihrem Geburtsdatum erhalten. Bislang verlor sich die Spur der Familie Cohn mit der Deportation nach Minsk, aber weil das Schmuckstück in Sobibór gefunden wurde, lässt sich nun auch sagen, wo und wie ihr Leben endete.

Eine metallene Plakette mit der Aufschrift Amsterdam.
Plakette aus Amsterdam, gefunden bei den Ausgrabungen in Sobibór.
© Yoram Haimi

Auf nochmals andere Weise zeigte zuletzt eine Studie über die Fleckfieber-Epidemie im Warschauer Ghetto die Relevanz global vernetzten, fachübergreifenden Arbeitens: Ein historisch-epidemiologisches Team um den in Tel Aviv und Melbourne tätigen Biomathematiker Lewi Stone konnte anhand mathematischer Modelle den Verlauf dieser tödlichen Krankheit im Ghetto nachzeichnen.

Fleckfieber im Warschauer Ghetto und die Rolle Judenrats

Dass der Ausbruch von 1941 knapp ein Jahr später endete, war bekannt. Nicht aber, dass dabei keinesfalls natürliche Ursachen zugrunde lagen – etwa eine Herdenimmunität –, sondern Maßnahmen des Judenrats, die bis dato weitgehend als erfolglos eingeschätzt worden waren.

Jedoch erlauben die Daten keinen anderen Schluss als dass die Eindämmungsmaßnahmen doch gegriffen haben. An diesen Befund schließt sich aber die noch ungeklärte Frage an, wie die Todeszahlen aufgrund des Fleckfiebers zu bewerten sind: Das Modell lässt weitaus mehr Opfer vermuten, als in der historischen Überlieferung erwähnt. Die Diskrepanz der historischen und der epidemologischen Erkenntnisse bedarf weiterer Forschungen, die am Ende auch etwas zur Hygienepolitik der deutschen Besatzer sowie zum Umgang des Judenrats mit deren Anordnungen aussagen.

Auch 75 Jahre nach dem Kriegsende ist der Holocaust daher keinesfalls „ausgeforscht“, ganz im Gegenteil sind viele Aspekte nach wie vor ungeklärt oder bedürfen eines kritischen zweiten Blicks. Interdisziplinäre Ansätze spielen eine entscheidende Rolle dabei, verlorene Quellen zu kompensieren und den Nachwirkungen der nationalsozialistischen Politik etwas entgegenzusetzen, die nicht nur die Jüdinnen und Juden selbst, sondern auch die Spuren ihrer Existenz und ihrer Ermordung auslöschen wollte.

Stephan Lehnstaedt

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