Deutschland war blind gegenüber Mutationen: Aufspüren von Corona-Mutanten – warum es schwerer ist als gedacht
Nach dem Willen von Gesundheitsminister Jens Spahn sollen Diagnostiklabore Corona-Mutanten finden. Doch die Bedingungen dafür sind schlecht.
Per „Verordnung zur molekulargenetischen Surveillance des Coronavirus“ will Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) Diagnostiklabore jetzt dazu bringen, dass bei mindestens fünf Prozent aller positiven Coronatests auch das Erbgut der entdeckten Viren sequenziert wird. Die Daten müssten an das Robert-Koch-Institut (RKI) übermittelt werden.
Pro Sequenzierunge würden die Labors 200 Euro aus Bundesmitteln erstattet bekommen. Damit soll das RKI endlich einen Überblick über die Verbreitung von Virusmutanten bekommen. Zu diesen gehört die wahrscheinlich besonders ansteckende B117-Variante, aber auch andere. Ob das kurzfristig umsetzbar ist, wird allerdings bezweifelt.
Es sei „unmöglich, kurzfristig einen unvoreingenommenen Blick auf die in Deutschland kursierenden Virusvarianten zu bekommen“, sagte ein Experte aus der deutschen Genomforschungsszene dem Tagesspiegel. Ein Grund dafür seien die Strukturen für molekulargenetische Diagnostik. Diese unterscheiden sich in Deutschland grundlegend unterscheiden von denen in Großbritannien, wo bis zu 20 Prozent aller positiven Abstrichproben auch genomsequenziert werden.
Während die Labors auf der Insel zentral organisiert sind, die gleichen Testprotokolle und Laborabläufe nutzen und bereits früh alles darauf angelegt wurde, etwa 3000 bis 4000 Virusgenome pro Woche zu sequenzieren, stemme in Deutschland ein Flickenteppich aus kleinen Diagnostikbuden, die alle nach eigenem Prozedere und Rezepten arbeiten, die Diagnostik.
Diese Systeme seien nicht darauf ausgelegt, fünf bis zehn Prozent der positiven Proben für eine Sequenzierung auszuwählen. Selbst im „Labor Berlin“, das ein Drittel der täglich etwa 15000 Sars-CoV-2-Tests stemmt und nun etwa 100 zusätzlich zu den etwa 50 Genomsequenzierungen pro Woche leisten will, sei dafür extra Personal nötig, das ohnehin schon extrem knapp ist.
Forschende könnten alle Virusgenome aus positiven PCR-Tests sequenzieren
Was zu Beginn der Pandemie gut und richtig war, nämlich möglichst viele, auch kleine Labors ohne große Auflagen einzubeziehen, um die Testkapazität kurzfristig hochzufahren, führe jetzt zu womöglich unüberwindbaren logistischen Hürden. Der Aufwand für die Sequenzierung könnte zu groß sein und der Überblick über die Virusmutanten in den Regionen lückenhaft bleiben.
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Dass Deutschland, anders als Großbritannien oder Dänemark, seit vielen Monaten der Pandemie praktisch blind gegenüber Virusmutationen war und ist, lag jedenfalls nicht an einem Mangel an Kompetenz und Kapazität. „Alle positiven PCR-Tests in Deutschland könnten theoretisch in den Sequenzierlaboren unseres Netzwerks auf Corona-Mutanten wie B117 untersucht werden“, sagt Olaf Rieß, Ärztlicher Direktor des Instituts für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik am Universitätsklinikum Tübingen.
„Aber weil wir von der Politik nicht genug Geld dafür bekommen, können wir uns nicht einmal den Bruchteil dieser Proben genauer anschauen.“ Dabei könnten laut Rieß wöchentlich 4000 positive Proben alleine vor Ort in Tübingen sequenziert werden. Die Labore seien auf solche Sequenzierungen jedenfalls vorbereitet und dafür ausgestattet. Auch die Auswertung und die Übermittlung der Daten sei kein Problem.
„Dennoch haben wir im gesamten vergangenen Pandemiejahr deutschlandweit gerade einmal rund 2000 Virusgenome sequenziert, denn mehr Mittel haben wir dafür nicht bekommen“, sagt Rieß. Mehr Vergütung aus dem Gesundheitsministerium, die Spahns Verordnung verspricht, könnte dieses Problem also beseitigen.
Logistik für Sequenzierung von PCR-Tests weiterhin unklar
Doch Geld allein löst nicht alle Probleme: Für weitere Sequenzierungen in Deutschland müsste Rieß zufolge auch die Frage der Logistik geklärt werden. Die Sequenzierlabore etwa sind oft nicht dieselben wie die, die PCR-Tests machen. Positive Proben müssten also gut organisiert so schnell wie möglich bei Sequenzierlaboren landen.
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Man könne etwa „einen Teil der positiven PCR-Tests aus Fieberambulanzen oder anderen Stellen regelmäßig zum Sequenzieren eingeschicken.“ Diese Untersuchungen zentral zu bündeln, sei vor allem deshalb wichtig, um den Pandemieverlauf schnell einschätzen zu können.
Deshalb sei es auch nicht zielführend, zusätzlich zu den vielen medizinischen Labors nun auch noch andere etwa Lebensmittellabors hinzuzuziehen, meint Erwin Rüddel, Vorsitzender des Gesundheitsausschusses im Bundestag. „Für die Genomsequenzierung zur Detektierung von Mutationen sind forschungsnahe Labore mit Kenntnissen aus dem Bereich Bioinformatik nötig.“
Die durch die Coronavirus-Surveillanceverordnung angestrebte Quote von mindestens fünf Prozent Sequenzierungen aller positiver Sars-CoV-2-Proben könnten die medizinischen Labore abgedecken. „In den letzten Wochen lag deren Auslastung bei rund 70 bis 80 Prozent.“ Mehr Labore einzubeziehn und diese schlicht ihre Leistungen ausweiten zu lassen, sei auch aus einem weiteren Grunde schwierig: Die Labore würden dann untereinander bei der Beschaffung ohnehin knapper Ressourcen wie Reagenzien in Konkurrenz treten.
Doch selbst wenn die medizinischen Labore das geforderte Mehr an Sequenzierungen bewältigen und organisieren können – damit allein ist es nicht getan, warnt Alexander Dilthey, Professor für Bioinformatik an der Universität Köln. „Wenn wir wirklich einen Überblick über die Mutanten haben wollen, brauchen wir auch Wissenschaftler, die die Daten zu den Virusvarianten interpretieren können und verstehen, wie diese sich ausbreiten.“
Nur ein Bruchteil positiver Proben müsste sequenziert werden
Nach Ansicht des Genomikexperten reicht es für die meisten Fragestellungen, wenn nur ein Bruchteil der Virusgenome bei positiven PCR-Tests sequenziert werden. Zwischen ein und fünf Prozent müssten es aber sein, so die Schätzung. „Eine Schwachstelle bei der Untersuchung auf Mutanten ist jedoch die Auswahl der Proben“, erklärt Dilthey.
„Wenn in einer Fleischfabrik 2000 PCR-Tests von Mitarbeitern positiv ausfallen, haben wir es in der Regel mit ein- und derselben Virusvariante zu tun.“ Für die Überwachung des Virus in einer Region taugen solche Proben nicht. Ingesamt fehle, „um Aufschluss über das Infektionsgeschehen zu gewinnen" eine Schnittstelle, die bestimmt, wie viele und welche positiven Tests aus einer Region sequenziert werden.
Es müssten drei Bedingungen erfüllt sein: kluge Probenauswahl, mehr Sequenzierung, mehr gezielte Datenanalyse. Erst dann sei es möglich, sich einen Überblick über die Ausbreitung von Mutanten wie der Coronavirus-Variante B117 zu verschaffen. Aber vielleicht braucht es zumindest für diese gar nicht immer die aufwändigen Sequenzierungen.
Auch spezieller PCR-Test könnte Virusmutante nachweisen
Um einen Überblick über alle, auch gerade erst neu entstehende Virusmutanten zu bekommen, müssen Forscher zwar das komplette Erbgut entziffern und mit anderen Virusvarianten vergleichen. Doch um dann bereits identifizierte Mutanten zu verfolgen und ihre Verbreitung in den Regionen zu verfolgen, würde auch ein spezieller PCR-Test ausreichen, der etwa B117 – und nur diese Variante – nachweist.
Das Berliner Biotech-Unternehmen TIB Molbiol, das im vergangenen Jahr mehr als 55 Millionen PCR-Tests zum Corona-Nachweis hergestellt hat, bietet seit Weihnachten auch einen Test auf die Mutante B117 an. „Sequenzierungen von Virusgenomen dauern zwei Tage lang und sind recht teuer“, sagt der Geschäftsführer und Biochemiker Olfert Landt.
Der PCR-Test auf B117 sei innerhalb von 45 Minuten möglich und könne gleichzeitig mit dem üblichen Test durchgeführt werden - also ohne jeden Zeitverlust. Die zusätzlichen Materialkosten lägen bei zwei Euro. Um das Grassieren der Virusvariante in einer bestimmten Region rasch zu erkennen, sei es daher sinnvoll, alle Corona-positiven Proben auf B.117 zu testen und nur einen kleinen Teil zusätzlich sequenzieren zu lassen.
„Auf diese Weise könnten Experten günstig und schnell im ersten Schritt mit den Testkits verfolgen, wie sich der Anteil der Infektionen mit der B117-Mutante entwickelt.“ Für eine rasche Einschätzung des Infektionsgeschehens müssten Wissenschaftler dann nicht erst die Laborergebnisse von Sequenzierungen abwarten. „Sollten weitere besorgniserregende Mutationen auftauchen, könnten unsere Entwickler innerhalb von zwei Tagen ein entsprechendes Testkit bereitstellen.“