Mangelnde Geschlechtergerechtigkeit in der Krise: Auch vor dem Virus sind nicht alle gleich
Homeoffice, Homeschooling, Haushalt: Wenn Kita und Schule ausfallen, schultern meist Frauen die Mehrarbeit. Ein Plädoyer aus der Genderperspektive.
Niemals hätte ich gedacht, einen Artikel in einer Zeit zu schreiben, die empirisch das bestätigt, was feministische Ökonominnen theoretisch immer vertreten haben: Grundlage allen wirtschaftlichen Handelns ist das Versorgen von Menschen und ihrer unmittelbaren Lebensbedürfnisse. Aber nur Zyniker*innen hätten sich einen empirischen Beweis gewünscht, wie ihn uns die Viruspandemie in ungeahntem Ausmaß vor Augen führt.
Ja, es gibt eine große Zahl empirischer Studien zu der lebensnotwendigen Verantwortungs- und Sorgearbeit von Frauen in bezahlten und nicht bezahlten Arbeitsfeldern, allen voran die internationalen Zeitbudgetstudien. In diesen Studien wird erhoben, wie viel Zeit von Menschen für welche Aktivitäten im Laufe des Tages und des Jahres aufgewendet wird.
Und regelmäßig bestätigt sich der Befund: Ein sehr großer Teil der Zeit fließt in Tätigkeiten, die nicht über den Markt vermittelt sind und deshalb nicht als „ökonomisch“ angesehen werden.
Wesentlich mehr individuelles und soziales Wohlergehen entsteht durch Arbeiten, die außerhalb der als „Ökonomie“ bezeichneten Sphären gesellschaftlicher Aktivität geleistet werden. Dies wäre an sich kein Problem, würden damit nicht auch gesellschaftliche Hierarchien untermauert.
Wenn Carearbeit bezahlt wird, dann schlechter
Bezahlte Arbeit gilt als wichtiger als unbezahlte (sonst würde sie ja nicht bezahlt), marktvermittelte, warenproduzierende Arbeit wird höher bewertet als die unentlohnte Versorgung von Menschen im Haushalt. Und wenn personennahe Arbeit bezahlt wird, dann deutlich geringer als die Güterproduktion für den Handel.
[Unsere neue Aktion "Zu Hause mit dem Tagesspiegel" - wie wir Ihnen durch den neuen Alltag im Ausnahmezustand helfen: Ein Überblick.]
Diese Studien gibt es in Deutschland schon seit mehr als 30 Jahren, und sie verweisen auch darauf, dass mit dieser Zeitverwendung die Geschlechterhierarchie zementiert wird. Je näher die Arbeit auf die unmittelbare Lebenserhaltung ausgerichtet ist, je enger sie an die unmittelbare Befriedigung von Bedürfnissen nach Nahrung, materieller und emotionaler Versorgung, aber auch Pflege bei Krankheit und Beistand im Sterben gebunden ist, desto feminisierter ist diese Arbeit.
Mit dieser Tatsache und ihren fundamentalen Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben werden wir in der aktuellen Krise existenziell konfrontiert. Natürlich können wir weiterleben ohne die Produktion von Autos und Flugzeugen – auch wenn wir bislang nur ahnen, was dies für die Weltwirtschaft bedeuten wird.
Aber wir sind momentan zurückgeworfen auf die Grundtatsachen unseres Lebens: Wir sind individuell und gesellschaftlich darauf angewiesen, dass die Bedürfnisse unserer leiblichen Existenz nach Nahrung, Wohnung, Versorgung im weitesten Sinne, also auch Versorgung mit empathischer Zuwendung, alltäglicher Hilfe, emotionaler Unterstützung, gestillt werden. Und wie und von wem werden sie gestillt?
[Christine Bauhardt, die Autorin dieses Gastbeitrags, ist Professorin für Gender und Globalisierung an der Humboldt-Universität zu Berlin.]
Hier helfen uns die Zeitbudgetstudien, die wie ein Fernglas in „normale Zeiten“ zoomen. Es sind Frauen, die diese Arbeiten übernehmen, und es sind Frauen, die Mehrarbeit schultern müssen, wenn alle Sicherungsnetze wie Schule, Kita, Betreuungs-, Sport- und Kulturangebote ausfallen.
Männer, die nicht mehr "aus dem Haus" sind, versorgen und bei Laune halten
Wir können momentan nur vermuten, wie sich die zusätzliche Arbeitsbelastung auf die Situation von Frauen in der Enge der eigenen vier Wände auswirkt. Im Homeoffice arbeiten, wenn die Kinder per „Homeschooling“ unterrichtet werden sollen? Wenn Einkaufen, Kochen und generell Haushaltsarbeit wesentlich mehr Zeit beanspruchen als unter Normalbedingungen?
[Wie es zwischen Schulen, Schülerinnen und Schülern und ihren Eltern im Homeschooling läuft, lesen Sie hier in einem Artikel über das aktuelle Schulbarometer.]
Viele Mittelschichtshaushalte leisten sich zu „normalen Zeiten“ Haushaltshilfen und Kinderbetreuerinnen. Fast immer kommen diese Frauen aus anderen Ländern und übernehmen Care-Arbeit, auch wenn sie über höhere Bildungsabschlüsse verfügen, in ihren Herkunftsländern aber keine ausreichenden Erwerbsarbeitsmöglichkeiten finden. Die Global Care Chain, die globale Versorgungskette, sichert ab, dass Sorgearbeit immer wieder als „Frauenarbeit“ abgewertet wird.
Und was bedeutet es, wenn zusätzlich auch noch die Männer, die normalerweise „aus dem Haus“ sind, versorgt und bei Laune gehalten werden müssen? Die Zeitbudgetstudien sagen uns, dass Männer für die aushäusige Erwerbsarbeit umso mehr Zeit aufwenden, je mehr Kinder im Haushalt leben.
Hoher Frauenanteil beim Krankenhauspersonal
Das hat nicht nur monetäre Gründe, denn von Männern wie Frauen wird die Erwerbsarbeit als wichtige Ressource angesehen, um nicht im Klein-Klein der Alltagsorganisation regelrecht unterzugehen. Aber für Männer scheint die Abwesenheit von zu Hause wesentlich attraktiver zu sein als für Frauen. Deren Arbeitszeitmuster beinhalten häufig Teilzeitarbeit, um der Sorgeverantwortung zusätzlich zur eigenen Erwerbsarbeit gerecht werden zu können.
Selbstverständlich sind auch vor dem Virus nicht alle Menschen gleich. Er trifft auch die Mächtigen, wie prominente Beispiele zeigen. Aber wie Menschen auf die Herausforderung des Kontaktverbots reagieren können, ist doch nach Einkommens-, Wohn- und Bildungssituation höchst unterschiedlich einzuschätzen.
Das Damoklesschwert des Existenzverlusts für Kleinselbstständige – sehr viele Frauen sind darunter, Frisörinnen, Schneiderinnen, Künstlerinnen, Buchhändlerinnen –, bedroht sie viel grundsätzlicher als die halbwegs abgesicherte Industriearbeiterschaft mit Anspruch auf Kurzarbeitergeld oder die Beschäftigten im öffentlichen Dienst.
Sehr hoch ist auch der Frauenanteil am Krankenhauspersonal, das ebenso mit den Kranken wie mit dem Mangel an Grundausstattung mit Schutzkleidung konfrontiert ist. Viel beklagt wurde in der Zwischenzeit der Raubbau am öffentlichen Gesundheitssystem während der vergangenen 30 Jahre im Zuge der Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge.
Im Klinikstreik 2018 sind vorrangig Frauen dafür eingetreten, dass sich die Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern drastisch verbessern müssen. Sie haben nicht für mehr Geld im eigenen Portemonnaie gestreikt, sondern für mehr Personal und eine bessere Versorgung der Patient*innen. Ja, möchte man ausrufen, ja! Wo sind diese Verbesserungen geblieben?
Die Ungleichheiten nach der Krise korrigieren? Schön wärs's
Jetzt rächt sich der allgemeine Abbau der öffentlichen Gesundheitsversorgung auf dramatische Weise. Er rächt sich an den Patient*innen und, noch fataler, er rächt sich an den Frauen, die schon vor Zeiten Alarm geschlagen haben. Die Berliner Krankenpflegerin Nina Magdalena Böhmer postete auf Facebook „Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken“ und fordert Solidarität mit und politische Aktion für die Pflegekräfte statt Singen und Applaus. Wie recht sie hat!
Auch wer in einer Vierzimmerwohnung lebt, dem kann nach kurzer Zeit die Decke auf den Kopf fallen. Um wie viel schwieriger ist die Situation für Familien, die schon zu Normalbedingungen in beengten Wohnverhältnissen leben? Kein Kinderspielplatz geöffnet, kein Garten, kein Balkon, wohin die Kinder einfach mal an die frische Lust geschickt werden können.
[Lesen Sie auch: Die Eltern sollen nicht die Lehrerrolle übernehmen - ein Psychologe gibt Tipps für den Heimunterricht.]
Wer soll da in Ruhe im Homeoffice per Videokonferenz seiner Arbeitspflicht nachkommen, während gleichzeitig die Hausaufgaben für die Kinder per E-Mail verschickt werden? Was verlangt dies von den Müttern, die „im Normalbetrieb“ die Hausaufgaben überwachen, wenn jetzt von ihnen gefordert wird, als Hilfslehrerinnen zu fungieren?
Ganz zu schweigen von den Frauen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist und die die gestellten Aufgaben selbst gar nicht verstehen und ihre Kinder nicht beim Lernen unterstützen können?
Es ist nicht allein die Frage, wie „die Wirtschaft“ nach der Coronakrise wieder in Gang kommen soll. Das ist viel zu verkürzt. Die Frage ist, wie die sozialen Konflikte im Nahbereich wieder entschärft und die durch die Krise zugespitzten sozialen Ungleichheiten wieder korrigiert werden können. Ich befürchte ein „Business as usual“: Die wiedererstarkte Wirtschaftsleistung wird mit steigenden Wachstumsraten verkündet, die Frauen dürfen den Müll wegräumen.
In den USA hat Boeing übrigens 60 Milliarden Dollar staatliche Finanzmittel gefordert – und vom Kongress zugesprochen bekommen. Der Care-Sektor hat 50 Milliarden gefordert – und bekommt 3,5 Milliarden. Noch Fragen?
Christine Bauhardt
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